Jeannine Kunert

Kirche, Friedliche Revolution, Zivilreligion

Die Friedliche Revolution in der DDR 1989 ist ein Meilenstein der deutschen Geschichte und ein Fixpunkt im Koordinatensystem des kulturellen Gedächtnisses der Deutschen. Das Ereignis wird zwar von den Deutschen überwiegend positiv wahrgenommen, ihre Folgen sind jedoch nicht unumstritten.1  Negativ haftet ihr ein Diskurs über Überwältigung und Deutungshoheit an, über Folgekosten der Wiedervereinigung, über ungleiche Lebensbedingungen, über brutale biografische Brüche sowie über eine Geschichte der tiefen gesellschaftlichen Spaltung.

Mit einem Abstand von 30 Jahren hat sich nun eine gesellschaftliche Erinnerungskultur entwickelt, die von individuellen Erlebnissen, historischen Dokumentationen sowie ersten distanzierten Forschungen getragen wird. Es stellt sich daher die Frage, wie das derzeitige wiedervereinte Deutschland zivilgesellschaftlich mit der eigenen Geschichte umgeht, welche Herausforderungen und Chancen darin liegen und welche Rolle die Kirchen dabei spielen können.

In Leipzig als „Stadt der Freiheit und der Helden“ wird jährlich der historischen Ereignisse am 9. Oktober 1989 mit einem „Lichtfest“ gedacht.2  In die Ausgestaltung der Feierlichkeiten werden die zentralen Orte der Geschichte eingebunden – dazu zählt auch und wesentlich die Nikolaikirche als Ausgangspunkt der montäglichen Friedensgebete und der sich daran anschließenden Montagsdemonstrationen, die am 9. Oktober 1989 über 70 000 Menschen auf den Leipziger Innenstadtring zogen und gewaltfrei demonstrieren ließen. Das Thema dieses Beitrags ist die Rolle der Kirchen in der Friedlichen Revolution und der Ausdruck von Zivilreligion in den Leipziger Feierlichkeiten zur Friedlichen Revolution.

Die Anfänge einer friedlichen Revolution: Frieden, Freiheit, Naturschutz

Die DDR war ein Unrechtsstaat, in dem das geltende Recht systematisch durch die Staatsmacht gebeugt und gebrochen wurde. Individuelle Freiheiten wie die der Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit waren eingeschränkt, Berufs- und Bildungsverbote kamen hinzu, demokratische Grundprinzipien wurden ausgehebelt, Wahlen manipuliert, Staatsbürger als Staatseigentum betrachtet. Der Satz „einige sind gleicher als gleich“ war im real existierenden Sozialismus mehr als nur eine Floskel. Der auch an der innerdeutschen Grenze verlaufende Eiserne Vorhang zwischen Ost- und Westblock, dem demokratischen, kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten, wirkte noch in den 1980er Jahren undurchdringbar, und der Kalte Krieg schürte Ängste bei den Menschen in beiden Teilen Deutschlands. Dem entgegen richteten die evangelischen Kirchen am Ende des Kirchenjahres 1980 eine grenzübergreifende „Ökumenische FriedensDekade“ aus, aus deren Gedanken heraus schließlich die montäglichen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche entstanden. Zudem hatte die DDR mit immensen Umweltproblemen in „umwelttechnischen Krisengebieten“ zu kämpfen – vielerorts fehlte nicht nur im übertragenen Sinn die Luft zum Atmen.3   Umwelt- und Friedensbewegte schlossen sich zunehmend zu Menschenrechts- und Umweltgruppen4  zusammen und fanden – teilweise als „Basisgruppen“5  organisiert – in den Räumen der Kirchen Zuflucht und Schutz.6  Sie forderten tiefgreifende Veränderungen in der DDR, in der es bis dahin versäumt worden war, Reformdefizite aufzuholen.

Im Gegensatz zur Reformunwilligkeit der DDR herrschte in zahlreichen anderen Ostblockländern ab Mitte der 1980er Jahre eine Aufbruchstimmung, sichtbar beispielsweise in der Solidarność in Polen und dem Reformkurs in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow (Glasnost und Perestroika). Durch ihre Reformunwilligkeit und Reformunfähigkeit isolierte sich die SED-Führung zunehmend außenpolitisch und verlor damit den wichtigen Rückhalt des großen Bruders. Den Schulterschluss suchte sie mit dem kommunistischen China, indem sie dessen hartes und gewaltsames Vorgehen auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 öffentlich verteidigte und so auch ein innenpolitisches Signal setzte. Am 2. Mai 1989 emanzipierte sich schließlich Ungarn so weit vom kommunistischen Ostblock, dass es begann, seine Sicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich abzubauen.

Damit war der Startschuss für eine nicht mehr aufzuhaltende Ausreisebewegung aus der DDR gefallen, die im Sommer 1989 ihren Höhepunkt fand und mit den Bildern von Flüchtlingen in der Prager Botschaft eine immense mediale Aufmerksamkeit gewann. Damit sind nun auch die drei wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen benannt, die im Herbst 1989 scheinbar an einem gemeinsamen Strang zogen: Umweltaktivisten, Friedensbewegte und Ausreisewillige7. Ihr Ziel war zunächst nicht die Abschaffung der DDR, sondern Umgestaltungen innerhalb des politischen Systems, umgreifende Reformen hin zu einem freiheitlichen Staat anstatt Revolution oder Flucht.

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Jeannine Kunert, 14.01.2020

 

Anmerkungen

1  Vgl. Viola Neu: Keine Sehnsucht nach der DDR – Ergebnisse der Umfrage, wie die Deutschen in Ost und West die deutsche Einheit beurteilen, 6.11.2019, www.kas.de/einzeltitel/-/content/keine-sehnsucht-nach-der-ddr (Abruf der angegebenen Internetseiten: 14.1.2020). Auch das Leben in der DDR wird unterschiedlich bewertet, wobei teils gravierende Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von ost- und westdeutschen Bundesbürgern auftreten. Vgl. „Wie beurteilen Sie rückblickend das Leben in der DDR“, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Umfrage aus dem Jahr 2009, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/13027/umfrage/beurteilung-des-lebens-in-der-ddr.

2  Das Lichtfest ist Teil des Leipziger Stadtmarketings und wird von einem umfangreichen kulturellen Programm begleitet. Gemeinsam mit der Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“ und einem Kuratorium verantwortet die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH (LTM) die Ausrichtung der Feierlichkeiten. Der LTM wird vorgeworfen, v. a. für Touristen schöne Bilder zu produzieren, statt für Zivilgesellschaft und Demokratie zu werben.

3  Brennpunkte waren u. a. die Braunkohle- und Uranabbaugebiete, Chemiestandorte, aber auch Wald- und Flusssterben. Als vermeintlich unpolitische Bewegung fand die Umweltbewegung von den oppositionellen Strömungen die größte Verbreitung in der Bevölkerung. Vgl. Beleites: Dicke Luft.

4  Große Bekanntheit erlangte die Umwelt-Bibliothek in der Zionskirchengemeinde in Berlin-Mitte, die über eine eigene, staatlich nicht kontrollierte Druckerpresse verfügte.

5 Basisgruppen entstanden aus kirchlichen Gesprächskreisen, jungen Gemeinden, Pfarrkonventen, studentischen Gruppen und der offenen Jugendarbeit. Sie waren dezentral und nicht einheitlich organisiert. Ende der 1980er Jahre traten sie zunehmend aus den Kirchen heraus und stellten eine Gegenöffentlichkeit her. Jedoch muss die Rolle der Basisgruppen vorsichtig bewertet werden, denn schließlich führte eine komplexe Gemengelage zur Friedlichen Revolution (vgl. Beleites: Dicke Luft, 29). Im Sommer 2019 entbrannte ein Streit zwischen Detlef Pollack, Ilko-Sascha Kowalczuk, Katrin Hattenhauer, weiteren Bürgerrechtlern sowie Historikern darum, wer die tragende Rolle im revolutionären Prozess einnahm und wem letztlich die Heldenmedaille angeheftet werden darf. Die Debatte wurde u. a. in der FAZ ausgetragen. Vgl. auch Hagen Findeis: Keine tragende Rolle – Dreißig Jahre Mauerfall (IV): Das schöngefärbte Bild der Kirchen, in: zeitzeichen 12/2019, 12-14. Eine andere heiße Kontroverse wurde in Bezug auf die Einladung der Philharmonie Leipzig e. V. an den früheren SED-Politiker Gregor Gysi für einen Gastvortrag im Rahmen des „Festkonzerts“ ausgetragen. Die Veranstaltung fand in der Leipziger Peterskirche statt und gehörte nicht zum offiziellen Festprogramm der Stadt. Die inhaltliche Verantwortung lag beim Verein. Vgl. www.havemann-gesellschaft.de/beitraege/pressedokumentation-zum-offenen-brief-zum-geplanten-auftritt-von-gregor-gysi-am-30-jahrestag-der-friedlichen-revolution-in-einer-leipziger-kirche; www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2019/07/9-Oktober-2019-in-der-Peterskirche-Ein-einzigartiger-Kampf-mit-Gregor-Gysi-283937.

6  Dennoch unterlagen zahlreiche Aktivisten dem Druck und den freiheitsberaubenden Repressalien der Staatssicherheit.

7  Im Sommer 1989 stellten ca. 120000 Bürgerinnen und Bürgern einen Ausreiseantrag in die BRD. Bei den Leipziger Montagsdemonstrationen waren daher sowohl „Wir wollen raus“- als auch „Wir bleiben hier“-Rufer zu hören, die sowohl die Perspektivlosigkeit als auch die Hoffnung auf Veränderungen verdeutlichten.