Christine Schirrmacher

Islamkritik, Islamophobie, Muslimfeindlichkeit oder antimuslimischer Rassismus?

Zum Problem von Begrifflichkeiten und Schuldzuweisungen in der deutschen Islam-Debatte

Nicht erst seit gestern wird über das Thema Islam und Muslime in Deutschland quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen und weltanschaulichen Lager intensiv und zum Teil auch sehr emotional diskutiert. Heute geht es weniger um die Frage, ob „der Islam zu Deutschland gehört“, wie es der damalige Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 formulierte und damit eine kontroverse gesellschaftliche Debatte auslöste. Heute geht es auch weniger um Diskussionen, die anlässlich der ab 2015 erfolgten Zuwanderung von über einer Million Menschen vorwiegend aus dem Nahen Osten und Nordafrika erneut aufkamen, wie etwa zur Machbarkeit einer kulturellen Integration und erfolgreichen Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Damals gerieten auch wieder Themen wie Ehrenmorde, Frauenrechte und Kinder- oder Zwangsehen in islamisch geprägten Gesellschaften in die Schlagzeilen der medialen Berichterstattung.

Während für die einen die genannten Problemfelder nicht ausreichend erörtert wurden, beklagten die anderen ein Zuviel der Kritik am Islam und Muslimen als Xenophobie und Rassismus. Rechtspopulistische und -extreme Protagonisten, z. T. auch linksgerichtete Stimmen, zeichneten ein düsteres Szenario einer voranschreitenden Islamisierung Deutschlands, während sich im akademischen Bereich die Diskussion über eine speziell gegen Muslime gerichtete feindliche gesellschaftliche Haltung und eine systematisch-strukturelle Diskriminierung verdichtete. In diesem Kontext steht die heutige Debatte darüber, ob es angemessen sei, angesichts von Benachteiligungen von Zuwanderern (etwa bei der Wohnungssuche), aber auch angesichts von Angriffen auf religiöse Stätten und Muslime – oder Menschen, die dafür gehalten werden – von antimuslimischem Rassismus zu sprechen.

Zum Auftakt: Der Begriff der Islamophobie

Der Begriff der „Islamophobie“ kam zwar bereits Anfang des 20. Jahrhunderts auf, der englische Terminus „Islamophobia“ erlangte jedoch erst im ausgehenden 20. Jahrhundert Prominenz. Startpunkt soll dafür die Verwendung in dem amerikanischen Magazin „Insight“ im Jahr 1991 gewesen sein.1  Wirklich einflussreich war dann aber vor allem ein Bericht des britischen Think Tanks Runnymede Trust zur „Förderung eines multi-ethnischen Britanniens“2  von 1997: Er präsentierte die Arbeitsergebnisse einer 1996 eingesetzten Kommission, die eine Abneigung gegen Muslime und tätliche Angriffe auf sie, ihre Diskriminierung sowie negative Haltungen gegenüber dem Islam untersuchen sollte. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel „Islamophobia: A Challenge For Us All“ publiziert.3

Der Bericht formulierte unter anderem Kriterien für eine Unterscheidung zwischen legitimer Kritik am Islam und Islamophobie. So sei es etwa durchaus legitim, wenn Menschen theologische Inhalte oder die praktische Umsetzung des Islam ablehnten. Davon zu unterscheiden sei aber die Islamophobie, die dort auszumachen sei, wo Vorurteile und Feindschaft gegen den Islam herrschen: Aus einer geschlossenen Sichtweise heraus werde der Islam als barbarisch, irrational, primitiv, aggressiv und gewalttätig beurteilt. Um Islamophobie handle es sich auch dort, wo der Islam als monolithisch, statisch und minderwertig gelte, als grundlegend anders als andere Kulturen oder als politisches Instrument. Weiterhin bedeute die Zustimmung zu Diskriminierung von Muslimen und zu einem antimuslimischen Diskurs Islamophobie.4  Damit war der Bericht also vor allem auf eine kritische Betrachtung einer generell ablehnenden Einstellung Einzelner gegenüber Muslimen und dem Islam ausgerichtet.

Zwar sollte durch die vorgeschlagenen Kriterien der Begriff „Islamophobia“ inhaltlich endlich eindeutig festgelegt werden, aber die vorgenommenen Definitionen stießen nur eingeschränkt auf Zustimmung: So wurde vor allem die als willkürlich empfundene Abgrenzung zwischen legitimer Islamkritik und verwerflicher Islamophobie hinterfragt. Auch wurden die fehlenden Erläuterungen zur Anwendbarkeit beider Kategorien in der Praxis beklagt. Zudem wurde eine gewisse Widersprüchlichkeit bei der Auswahl der Beispiele zur Verdeutlichung der vorgetragenen Thesen moniert.5

Dessen ungeachtet fand der Islamophobie-Begriff, der den so Bezeichneten eine krankhafte, sachlich unbegründete Angststörung gegenüber dem Islam unterstellt, zunächst weithin Akzeptanz. Er ist bis heute im englischsprachigen Raum fest verwurzelt. Zumeist wird er als Kampfbegriff für Schuldzuweisungen an Kritiker des Islam verwendet.6  So nutzt etwa die zwischenstaatliche islamische Organisation of Islamic Cooperation (OIC) mit Sitz in Dschidda, Saudi-Arabien, seit rund zwei Jahrzehnten all ihren Einfluss im UN-Menschenrechtsrat und in der Öffentlichkeit, um eine „weltweit vorherrschende“ Islamophobie anzuprangern und dort eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu fordern, wo die Gefühle von Muslimen verletzt würden.7

Nicht zuletzt aufgrund solcher Äußerungen wird einerseitsbeklagt, dass der Begriff zu weit gefasst werde und auch dort Verwendung finde, wo lediglich Sachkritik geäußert wird.8  Der Begriff sei zudem geeignet, Kritiker rundheraus zu kriminalisieren, wo vielleicht eher Unwissenheit oder Unsicherheit gegenüber Muslimen und dem Islam zu konstatieren wären. Andererseits wird bedauert, dass der Begriff der Islamophobie nicht umfassend genug sei, da er zu sehr auf die Einstellung des Individuums abziele und damit das Problem der Ablehnung von Muslimen auf eine persönliche Ebene verlagere: Vielmehr müssten gesellschaftliche Machtverhältnisse und strukturelle Diskriminierung von Muslimen betrachtet werden, um der Problematik in ihrem ganzen Umfang gerecht zu werden. Zudem sei ein Vorsatz gar nicht erforderlich, um Menschen zu diskriminieren.

Allerdings geht es bei dieser Thematik nicht nur um Benachteiligungen: Abgesehen von Diskriminierungserfahrungen, etwa bei der Arbeitsplatz- und der Wohnungssuche, im Bildungsbereich oder im öffentlichen Raum, sind auch islamfeindliche Straftaten zu beklagen, die seit 2017 durch das Bundesinnenministerium als gesonderte Kategorie unter politisch motivierter Kriminalität erfasst werden: Im Jahr 2020 wurden 1026 islamfeindliche Straftaten erfasst, 2019 waren es 950 gewesen.9  Darunter befanden sich 103 Angriffe auf Moscheen.10  Im Ausland war der rechtsterroristisch motivierte Angriff auf zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt Christchurch am 15. März 2019 trauriger Höhepunkt, bei dem 51 Menschen getötet und 50 weitere verletzt wurden. Aber auch in Deutschland waren in der Vergangenheit Todesopfer zu beklagen: In der Silvesternacht attackierte der 50-jährige Andreas N. mit seinem Auto gezielt Migranten im Ruhrgebiet und verursachte den Tod von vier Menschen, weitere 20 wurden verletzt. Ein zu Teilen hasserfüllter Islamdiskurs, die stark ansteigende Hasskriminalität in den sozialen Medien und die zahlreichen wütenden Leserkommentare zu Muslimen und zum Islam in den Kommentarspalten auch renommierter Tageszeitungen sind zu Recht in den Fokus der öffentlichen Diskussion, aber auch der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden gerückt.11  Es gelte, so die häufig vorgetragene Forderung, Straftaten und die Ablehnung von Muslimen als Gesamtbild zu erfassen und nicht mehr isoliert zu betrachten.

Dann: Islamfeindlichkeit und Muslimfeindlichkeit

Etwa um das Jahr 2010 kamen die Termini „Islamfeindlichkeit“ und „Muslimfeindlichkeit“ vermehrt in Gebrauch, die nun nicht mehr den Kritiker als „islamophob“ pathologisierten, sondern auf eine generalisierend-abwertende Haltung gegenüber Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam und eine generelle Ablehnung ihrer Religion abzielten: Diese Begriffe berührten nun weniger die Frage, ob der Kritiker das Recht zur Kritik habe, sondern beschränkten sich auf die Benennung einer generell verachtenden Haltung.

Dabei richtet sich der Terminus der Muslimfeindlichkeit auf die Ablehnung von Menschen, die der Betrachter als Muslime wahrnimmt, unabhängig davon, ob es sich überhaupt um Muslime handelt oder um Menschen, die sich selbst nicht (mehr) als Muslime betrachten. Ebenso umfasst er Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, die aber niemals dem Islam angehört haben, aber etwa aufgrund äußerlicher Merkmale oder ihres Namens als Muslime beurteilt werden.

In eine ähnliche Richtung zielte der Begriff der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF), der durch eine über zehn Jahre umfassende Langzeitstudie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer populär wurde.12  Der Begriff der GMF bezeichnet eine feindselige Haltung gegenüber Menschen anderer sozialer, religiöser und ethnischer Hintergründe, die diese stigmatisiert, pauschal diffamiert und z. B. als „die Muslime“ essentialisiert. GMF zielt also auf die Beurteilung einer Ungleichwertigkeit verschiedener Gruppierungen von Menschen. Auch dieser Versuch einer inhaltlichen Fassung der bestimmten Gruppen von Menschen entgegengebrachten Ablehnung und Zurückweisung wurde aufgrund einer als nicht eindeutig empfundenen Unterscheidung zwischen legitimer Kritik und vorurteilsbeladenem Pauschalurteil kritisiert.13

Und nun: Antimuslimischer Rassismus

Heute hat dieses Konzept der generalisierenden Zurückweisung von Muslimen eine bedeutende inhaltliche Erweiterung erfahren: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass im Laufe der Jahrzehnte aus den ehemaligen Zuwanderern als „Gastarbeiter“ erst „Ausländer“, dann „Migranten“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ wurden, heute aber ihre Zugehörigkeit zum Islam zunehmend ethnisiert wird und damit aus Ausländern „Muslime“ wurden.

Vor allem aus den Gesellschaftswissenschaften sowie seitens islamischer Organisationen wird vorgetragen, dass es in westlichen Gesellschaften mit muslimischen Minderheiten nicht darum gehe, dass vereinzelt Muslime abgelehnt werden oder manche Menschen in stereotypen Denkmustern über den Islam verhaftet seien, wenn sie den Islam als Religion der Gewalt oder als politische Ideologie bezeichnen. Der Umgang mit Muslimen in westlichen Gesellschaften beinhalte vielmehr den „ideologische[n] Kern organisierter Muslimfeindlichkeit“14, die Muslime abwerte, benachteilige und gesellschaftlich ausgrenze. Die Wurzeln dafür lägen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.15  Diese „organisierte Muslimfeindlichkeit“ sei eine Form von Rassismus, denn sie gehe davon aus, „dass Musliminnen und Muslime aufgrund ihrer Kultur grundsätzlich und unveränderbar anders sind“, eine „homogene Gruppe“,16  die mit negativen Eigenschaften assoziiert werde. Das seien Kennzeichen von Rassismus, und dieser antimuslimische Rassismus sei westlichen Gesellschaften inhärent.

Westliche Gesellschaften handelten also nicht nur gemäß rassistischer Muster, sondern müssten im Hinblick auf muslimische Minderheiten als durch und durch rassistisch in ihrer Haltung und ihrem Handeln beurteilt werden – und zwar unabhängig davon, welche Einstellung der Einzelne gegenüber Muslimen hege. Selbst Personen, die Muslimen gegenüber positiv eingestellt seien, änderten nichts daran. Der antimuslimische Rassismus präge die Gesellschaft als Ganzes, unabhängig von der Tatsache, dass tätliche Angriffe auf Muslime und islamische Einrichtungen vielfach rechtsextremistischen Kreisen und Personen zur Last gelegt werden können.17

Im Zuge der Bezeichnung westlicher Gesellschaften als rassistisch wird allerdings nicht erörtert, ob es jemals Gesellschaften gegeben hat oder überhaupt geben kann, die keine Unterscheidung zwischen denjenigen vornehmen, die die Kulturanthropologie als „in-group“ klassifiziert, und denjenigen, die sie als „out-group“ einordnet, für die also die Unterscheidung eines „Selbst“ vom „Anderen“ nicht essenzieller Bestandteil ihrer Identität ist. Dieses zutiefst menschliche Phänomen als rassistisch zu verurteilen, aber keine Alternative in Geschichte und Gegenwart benennen zu können, muss wohl als ausschließlich akademisch-theoretisches Gedankenexperiment beurteilt werden.

Rassismus ohne Rassen

Vielfach ist gegen den Begriff des „antimuslimischen Rassismus“ (AMR) eingewendet worden, dass Muslime keine Rasse seien, es bei ihrer Ausgrenzung also nicht um Rassismus gehen könne. Dem wird entgegnet, dass der Terminus des antimuslimischen Rassismus gerade nicht impliziere, dass Muslime eine Rasse seien; der Einwand werfe vielmehr ein Licht darauf, dass der Fragesteller verwerflicherweise vom tatsächlichen Vorhandensein von Rassen ausgehe. Es handle sich beim AMR um einen kulturell argumentierenden Rassismus, einen „Rassismus ohne Rassen“18. Er konstruiere eine Rasse, indem einer Gruppe von Menschen (vermeintliche) kulturell-religiöse oder phänotypische Kennzeichen pauschal zugeschrieben würden. Aufgrund von deren Zurechnung zu einer bestimmten Kultur, Ethnie und Religion würden sie zu einer homogenisierten, „fremden“ Gruppe, unabhängig von ihrer tatsächlichen Zugehörigkeit und ihren individuellen Einstellungen und Handlungen.

Der Begriff des AMR zielt damit nicht auf das Vorurteil eines Einzelnen ab, sondern auf die unterschiedliche Verteilung von Privilegien in der Gesellschaft oder „ein Gesellschaft strukturierendes Machtverhältnis“19. Antimuslimischer Rassismus erschaffe ein gesellschaftliches Klima, in dem Kultur und Religion als unveränderliche Merkmale Menschen zugeschrieben und diese vom Betrachter als Muslime definiert werden. Aufgrund ihrer als unauflöslich erklärten Bindung an ihre Kultur werden sie von der Mehrheitsgesellschaft unterschieden, zu „Anderen“ erklärt (das sogenannte „Othering“) und ausgegrenzt. Eine Folge der Ausgrenzung sei Bildungsbenachteiligung, Arbeitslosigkeit, Armut, segregierte Wohnverhältnisse und eine höhere Kriminalitätsrate. Die Theorie des AMR geht also davon aus, dass durch die gesellschaftlichen Gegebenheiten und die Diskurse der Mehrheitsgesellschaft über die Kultur und Religion von Muslimen eine soziale Wirklichkeit erschaffen wird.

Antimuslimischer Rassismus als Kulturrassismus

Dabei geht es beim Vorwurf des AMR ausdrücklich nicht um die Frage, ob bei der Beschreibung nahöstlicher Kulturen zutreffende Aussagen getätigt werden oder nicht, sondern allein darum, dass diese Äußerungen Unterschiede zu anderen Kulturen konstruieren und damit „kulturalisierend“ und „biologisierend“ argumentieren.20  Unerheblich für das Vorhandensein von antimuslimischem Rassismus sei, ob der Einzelne eine diskriminierende Beurteilung von Muslimen befürworte oder sie beabsichtige. Damit wird „Rassismus … ein hegemonialer Diskurs, in den prinzipiell alle Subjekte – auch ohne explizite Intention – verstrickt sind“21. Die erwartbare Argumentation, dass eine bestimmte Einstellung und Intention ein entsprechendes Verhalten Muslimen gegenüber zur Folge haben könnte, wird hier also umgekehrt: Ablehnendes und diskriminierendes Verhalten Muslimen gegenüber sei nicht der Ausgangspunkt, sondern vielmehr die Konsequenz aus einem systemisch angelegten Rassismus, der institutionell in „gesellschaftlichen und politischen Strukturen“ verankert sei.22

Ist ein Gegensteuern gegen antimuslimischen Rassismus möglich?

Wenn nun die Mehrheitsgesellschaft ihren antimuslimischen Rassismus abstreifen wollte, was wäre dann zu tun? Würde eine Änderung der Einstellung bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Muslimen gegenüber eine Wende einleiten?

Nein, so die Vertreter der Theorie des antimuslimischen Rassismus, eine Änderung der Einstellung der Gesellschaft reiche nicht aus. Kernanliegen müsse eine Neuaushandlung der ungleichen politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse sein, die eine Abwertung von Muslimen überhaupt erst ermöglichten. Besonders in den Blick zu nehmen seien „Medien, Bildungswesen, Polizei, Justiz, Politik und Wirtschaft“23 – was einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft gleichkommen dürfte. Wer so die gesamte Gesellschaft und ihre Institutionen des Rassismus schuldig spricht, wird auch – andernorts befürwortete – Vorschläge zur Begrenzung des Rassismusvorwurfs auf den Bereich des Rechtsradikalismus zurückweisen. Diese Begrenzung würde eine Differenzierung von Rechtsextremismus und „Mainstream-Islamfeindlichkeit“ (Vorurteilsbehaftung gegenüber Muslimen und dem Islam) ermöglichen, wird aber von Vertretern des AMR als Vermeidungsstrategie abgelehnt:

„Solche Abgrenzungsversuche … zeugen von einer noch immer gegenwärtigen Tabuisierung des Rassismusbegriffs, der von Vertreter*innen rassismuskritischer Theorien zum Problem erhoben wird.“24

Kritische Anfragen an das Konzept des AMR

An das Konzept des antimuslimischen Rassismus können eine Reihe kritischer Anfragen gerichtet werden, die, soweit ich die Literatur überblicke, bisher von Befürwortern des Konzepts kaum je sachlich-argumentativ aufgegriffen und beantwortet wurden. Zwar bezeichnen manche Befürworter des AMR ihre Darlegung nicht als wissenschaftlich anerkannte Tatsache, sondern als „Theorie des antimuslimischen Rassismus“25. Dennoch werden von seinen Vertretern nur selten Schwachstellen der Theorie benannt. Bisweilen wird angemerkt, dass es als Nachteil zu betrachten sei, dass die Theorie die muslimische Identität mit dem Begriff der Kultur, nicht aber mit dem der Religion verbinde. Die Religion bleibe damit weitgehend unberücksichtigt, was möglicherweise dem liberal-säkularen Forschungsumfeld geschuldet ist, dem die Theorie des AMR verhaftet sei.26

Erwiderungen auf tatsächliche Kritik an der Theorie des AMR sind nicht selten polemischer Natur: Wenn etwa kritisch angemerkt wird, dass bei einer Betrachtung einzelner Phänomene rund um das Thema Islam mit der generalisierenden Unterstellung von Rassismus eine Stigmatisierung der Mehrheitsgesellschaft verbunden sei und damit eine konstruktive Auseinandersetzung und Lösungssuche für Fehlentwicklungen unmöglich gemacht werde, dann lautet eine Antwort seitens der Befürworter der AMR-Theorie: Mit solchen Einwänden „drücken (sic) sich in erster Linie der Unwille aus, die Verstrickung von Wissenschaft und Wissensproduktion in Machtbeziehungen anzuerkennen“, wodurch „letztlich eine Stabilisierung bestehender rassistischer Verhältnisse bewirkt werde“27 – eine kritische Überprüfung der vorgetragenen Theorie ist also nur Beweis für den unterstellten Rassismus. Hier scheint eher ein Abwehrmechanismus zu greifen als ein solides Sachargument. Eine Diskussion über die Stichhaltigkeit der Theorie des AMR wird unmöglich gemacht, wenn eine kritische Überprüfung der präsentierten Thesen lediglich einen erneuten Rassismusvorwurf auf sich zieht.

In ähnlicher Weise begegnen Vertreter der Theorie des AMR Kritik an der Verwendung des Begriffs der „Rasse“ mit der Entgegnung, kritische Anmerkungen dazu seien letztlich nur „Tarnmechanismen, die Ansprüche … im Deckmantel (sic) legitimer Meinungsfreiheit rechtfertigten und rassistische Leitbilder mehrheitsfähig machen“28.

Das zulässige und das unzulässige Sprechen über Kultur

Floris Biskamp weist auf Brüche in der Argumentation von Vertretern des AMR hin, wenn er anmerkt, dass dem Sprechen über Kultur eine widersprüchliche Rolle zugewiesen werde: Wenn von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft über den Islam gesprochen wird, bezeichnen Befürworter der AMR-Theorie diesen Islam als konstruierte Erfindung. Sie erkennen darin kulturrassistische Zuschreibungen von Eigenschaften, die allein auf der Imagination des Sprechers beruhen. Andererseits gehen dieselben Vertreter jedoch davon aus, dass der von ihnen beklagte Rassismus eine kulturelle Erscheinung sei, sie also ein tatsächlich vorhandenes kulturelles Phänomen kritisch beleuchten. Damit gilt Vertretern des AMR das Sprechen über Kultur einmal als rassistisch motiviert und die nahöstliche Kultur als imaginiert; gleichzeitig gilt ihnen das Sprechen über die westlich-nichtmuslimische Kultur als rassismuskritisch und realitätsbasiert:29

„Daher stellt sich die Frage, was dieses rassismuskritische Sprechen über Kultur auf der einen Seite und das als kulturrassistisch kritisierte Sprechen über Kultur auf der andere Seite unterscheidet. Diese Frage wird jedoch nie explizit reflektiert … [und] führt … zu massiven Problemen in der rassismuskritischen Praxis.“30

Oder vereinfachend gesagt: Man verbietet anderen, ja, verdammt die Beschreibung von Kultur, die man bei der eigenen Charakterisierung der Mehrheitsgesellschaft für durchaus zulässig hält. So verweist Biskamp darauf, dass Vertreter der Theorie des AMR bisher keine eindeutige Trennlinie zwischen berechtigtem, gutem und unberechtigtem, tadelnswertem Sprechen gezogen hätten. Der mögliche Einwand, dass dort Rassismus zu konstatieren sei, wo abwertend über den Islam und Muslime gesprochen wird, erscheint insofern nicht akzeptabel, als die deutliche Abwertung der „anderen“ durchaus zulässig scheint – allerdings nur in eine Richtung, nämlich, wenn der „Dominanzgesellschaft“31  pauschal Rassismus zugeschrieben wird.

Die fehlende Unterscheidung zwischen Rassismus und legitimer Kritik

Kritiker der Theorie des AMR geben weiterhin zu bedenken, dass der Vorwurf des antimuslimischen Rassismus keinerlei Unterscheidung von legitimen (auch kritischen) Meinungsäußerungen und Rassismus kenne. Man beobachte vielmehr „eine weitgehende Gleichsetzung einer aufklärerisch-differenzierten Islamkritik und einer fremdenfeindlich-hetzerischen Muslimfeindlichkeit“32. Für die Sozialpädagogin Iman Attia ist genau diese Forderung einer Differenzierung zwischen einer „aufklärerisch-menschenrechtlichen Islamkritik“ und einer „fremdenfeindlich-hetzerischen Muslimfeindlichkeit“ grundsätzlich unzulässig: Auch eine aufklärerisch-menschenrechtliche Islamkritik sei Ausdruck eines antimuslimischen Rassismus, sehe sie doch Haltungen und Handlungen von Muslimen als mit ihrer Religion begründbar an.33

Die Konsequenz daraus müsste ein Verbot jeglicher kritischer Einlassungen zum Thema Islam / Muslime und zu der Theorie des antimuslimischen Rassismus sein, um sich nicht des Rassismus schuldig zu machen – ein Kritikverbot, das sich allerdings nur auf diese eine Religion und seine Anhänger bezöge, während Kritik an allen anderen Religionen zulässig bliebe. Soweit mir bekannt ist, wird von Vertretern des AMR der Einsatz für die Religionsfreiheit der Anhänger anderer Religionen ebenso selten vorgetragen wie sich unter ihnen aktive Verfechter der Gleichberechtigung aller Religionen (und Religionslosen) ausmachen lassen.

Ein weiterer Kritikpunkt an der AMR-Theorie moniert, dass sich im Zuge des Vorwurfs eines antimuslimischen Rassismus nun „die Muslime“ gegenüber „dem Westen“ als einheitliche Gruppe begreifen, während von muslimischen Vertretern im Allgemeinen – zu Recht – auf die Diversität und Inhomogenität der muslimischen Gemeinschaft hingewiesen wird sowie darauf, dass es den Islam nicht gebe.34

Warum sollte es Ausdruck von Kulturrassismus sein, wenn von Muslimen oder Nichtmuslimen theologische Inhalte des Islam oder deren Umsetzung im praktischen Lebensvollzug kritisch erörtert werden? Müsste dann die akademische Disziplin der Islamwissenschaft ausschließlich Muslimen vorbehalten bleiben, die Sinologie Chinesen oder die Erforschung des Judentums Juden?

Pauschale Unterstellungen, Essentialisierung und Homogenisierung der Mehrheitsgesellschaft

Kritik entzündet sich auch an der pauschalen Unterstellung eines Rassismus im Hinblick auf die (nichtmuslimische) Mehrheitsgesellschaft, während Vertreter der Theorie des AMR gleichzeitig beklagen, dass sich Kulturrassismus Muslimen gegenüber gerade dort äußere, wo Einzelereignisse (wie etwa ein Ehrenmord) auf alle Muslime übertragen werden. Auch monieren Vertreter des AMR bei der Mehrheitsgesellschaft ein geschlossenes Weltbild und ein Kulturverständnis, das „Brüche, Kontingenz, Ambivalenzen, Hybridität“ leugne.35  Wenn Kulturrassismus dort vorliegt, wo eine in sich inhomogene Gruppe auf bestimmte Eigenschaften und ihre religiös-kulturelle Identität reduziert und „Brüche“, „Ambivalenzen“, „Kontingenz“ und „Hybridität geleugnet“ werden, dann müsste das doch in gleicher Weise auf westliche Gesellschaften zutreffen. Während man der weißen Mehrheitsgesellschaft als Ganzem eine Haltung zuweist, die ihr unveränderliche Merkmale ohne eigenes Zutun unterstellt, der sie also nicht entfliehen und die sie nicht ablegen kann, nehmen Vertreter des AMR für sich selbst eine differenzierte Wahrnehmung in Anspruch, während die „andere“ Gruppe als homogen und von Geburt an unveränderbar rassistisch gezeichnet wird.

Es fehlt bei Vertretern des AMR insgesamt eine Erläuterung, welches Ausmaß das rassistische Sprechen über Muslime und den Islam in der Gesellschaft hat: Vertreter des AMR behaupten nicht selten, dass der Rassismus die Gesellschaft als Ganzes präge und vorherrschend sei.36  Dazu werden etwa die Ergebnisse der sogenannten „Leipziger Mitte-Studien“ angeführt. Es handelt sich um eine Studie der Universität Leipzig, die alle zwei Jahre autoritäre und rechtsextreme Einstellungen bei Deutschen ohne Migrationshintergrund erhoben hat. Der Schlussfolgerung, dass rechtsextreme und autoritäre Einstellungen auch in der Mitte der Gesellschaft zu verorten und insgesamt „stark verbreitet“ seien,37  wurde in Hinblick auf die Methodik und die Interpretation der Ergebnisse allerdings teils vehement widersprochen: Antworten auf suggestiv gestellte Fragen seien wenig aussagekräftig; zudem seien durch zu wenige und zudem unscharfe Parameter auch Personen rechtsextreme Einstellungen zugewiesen worden, die lediglich Bedenken oder Diskussionsbedarf bei einigen Fragen angemeldet hatten. Die Studie könne deshalb keinesfalls als Beleg dafür dienen, dass rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien. Vielmehr zeigten sich nur bei knapp 10 % der Gesellschaft rassistische Einstellungen; von einer Allgegenwart und Durchdringung der Gesellschaft mit Rassismus – wie die Studie behauptet hatte – könne daher nicht die Rede sein.38

In eine ähnliche Richtung weist ein weiterer Kritikpunkt an der Theorie des AMR, dass nämlich seine Vertreter nicht erkennen ließen, ob nur ein einziger oder aber unterschiedliche Grade eines antimuslimischen Rassismus existieren: So würden Personen und Texte entweder rundheraus als rassistisch bezeichnet oder blieben gänzlich unerwähnt: Es gebe keine Abstufungen und keine Ambivalenzen;39  vielmehr werde ein holzschnittartiges Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet. Wenn alles rassistisch ist, besteht das Risiko, dass nichts mehr rassistisch ist.

Weiterführend in diesem Zusammenhang wären Erhebungen, ob etwa in den Schulen muslimische Kinder eher benachteiligt werden als Kinder von Zuwanderern mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen. Sind hinduistische und buddhistische Kinder aus Indien und Sri Lanka, katholische Peruaner und irakische Christen weniger von Vorurteilen betroffen?

Sind nur Westler Kulturrassisten?

Andere Kritiker wenden sich gegen die unbarmherzigen Urteile über diejenigen, die als Rassisten gebrandmarkt werden: Bei der Verurteilung der westlichen Gesellschaft und ihrer white supremacy ist laut Christoph Giesa

„[d]as Problem … einmal mehr, dass kein Platz mehr ist für die alltägliche Fehlbarkeit des Menschen … Wer etwas sagt oder tut, was man als rassistisch verstehen kann, ist in dieser Lesart automatisch Teil eines rassistischen Unterdrückungssystems. Im Zweifel auch, ohne davon etwas zu wissen.“40

Diese Bedenken können ausgeweitet werden auf die Frage, wer den Anspruch derjenigen zurückweist, die eine islamisch begründete „supremacy“ proklamieren, indem sie beanspruchen, für „den Islam“ und alle Muslime zu sprechen, wie etwa salafistische Gruppierungen oder islamische Verbände, die trotz geringer Mitgliederzahlen Allgemeinvertretungsansprüche formulieren. Kann nicht auch eine Minderheit rassistisch denken und eine generelle Abwertung der „Anderen“ oder eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit pflegen?

Ebenfalls unbeantwortet bleibt die Frage, wie eine pauschalisierte Abwertung und Essentialisierung von Muslimen durch Muslime einzuordnen wären. Ist die salafistische Auffassung, dass alle anderen Muslime gar keine wirklichen Muslime seien, oder die saudisch-wahhabitische Verurteilung schiitischer Minderheiten auch Rassismus?

Tatsächlich geraten manche Muslime unter das Rassismus-Verdikt, wenn sie etwa theologische Positionen abseits des traditionellen Mainstreams vertreten: So beklagen insbesondere progressiv-aufklärerisch argumentierende Muslime, wie etwa Vertreter einer menschenrechtlich ausgerichteten Koranhermeneutik, dass sie des Rassismus beschuldigt werden, wenn sie sich kritisch über bestimmte Aspekte nahöstlicher Kulturen äußern.41

Wenn der beklagte Kulturrassismus nur seine eigentliche Stoßkraft entfaltet, wenn er mit einem Machtgefälle zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit einhergeht und Ausbeutung und Machtmissbrauch bedeutet, dürften diese progressiven Muslime eigentlich nicht des Rassismus verdächtigt werden, da sie nur selten über einflussreiche Positionen in der Gesellschaft verfügen. Umgekehrt kann gefragt werden, ob Vertreter muslimischer Gruppierungen, die als Mitglieder von Berater- und Fachgremien einflussreichen Regierungsvertretern und regierungsnahen Institutionen zuarbeiten oder Hochschullehrer und Sprecher einflussreicher Lobbygruppen sind, nicht der Dominanzkultur zuzurechnen sind, bei der sie Gehör finden und auf die sie Einfluss nehmen.

Diskursverweigerung als Heilmittel des Rassismus?

Eine Schuldzuschreibung des Rassismus, sobald Aussagen über Kulturen getroffen werden, kommt einem Sprechverbot gleich und damit auch einer Diskursverweigerung: Warum sollte nicht anhand des Katalogs der Allgemeinen Menschenrechte festgestellt werden dürfen, dass in manchen Staaten und Kulturen diese Menschenrechte in größerem Maß Realität sind als in anderen? Warum sollten diese Unterschiede im Hinblick auf das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung oder Rechtsstaatlichkeit nicht benannt werden dürfen? Mit welchen Argumenten kann bestritten werden, dass der weltweit agierende islamistische Extremismus religiöse Begründungen für weltweite Terroranschläge anführt? Dass die traditionelle islamische Theologie und Rechtswissenschaft die rechtliche Benachteiligung von Frauen rechtfertigt, die trotz aktiver Frauenbewegungen in allen islamisch geprägten Staaten über das schariageprägte Zivilrecht Realität ist?42  Dass ein politischer Islam in verschiedenen Ausprägungen und Organisationsformen existiert, der ein islamisches Staatswesen errichten will und eine Demokratie mit unabhängiger Justiz, Gewaltenteilung und Gleichberechtigung von Frauen und von Nichtmuslimen ablehnt?

Moralische Überlegenheit und die Krise des Islam

Schließlich könnte gegen die Theorie des AMR auch eingewandt werden, dass hier die Position einer moralischen Überlegenheit eingenommen und eine elitäre, unhinterfragbare Wahrheit mehr proklamiert als begründet wird. Sie setzt sich keinem erkennbaren sachlich-kritischen Austausch von Argumenten aus, sondern verkörpert „eine ungute Gleichzeitigkeit von großer Verletzlichkeit einerseits und ebenso großer Bereitschaft, heftig auszuteilen, andererseits. Scharfe Zähne, dünne Haut.“43

Nicht zuletzt wäre für eine Differenzierung der Dinge anzuraten, die Situation der muslimischen Minderheit in Europa nicht isoliert zu betrachten: Wenn beklagt wird, dass Zuwanderer aus dem Nahen Osten und Nordafrika in Europa zunehmend als „Muslime“ wahrgenommen würden, muss bedacht werden, dass die Wahrnehmung des Islam in westlichen Gesellschaften von einer seit rund 50 Jahren voranschreitenden Islamisierung und zu Teilen Fundamentalisierung im Nahen Osten, die nachhaltige Auswirkungen bis nach Europa zeigt, nicht wirksam getrennt werden kann. Zudem wurden in den vergangenen Jahrzehnten Forderungen an westliche Gesellschaften, wie etwa nach einer Befreiung von Mädchen vom Schwimmunterricht oder Schulausflügen oder die grundsätzliche Verbannung von Schweinefleisch aus Kantinen, von manchen Protagonisten gerade mit der islamischen Religionszugehörigkeit begründet: Die Zugehörigkeit zum Islam wurde hierbei also als Unterscheidungsmerkmal zur westlichen Gesellschaft ausdrücklich in den Vordergrund gestellt.44

Staatszerfall, Gewalt im Namen der Religion, Autoritarismus (nicht selten im Namen des Islam), Unterentwicklung, eine Benachteiligung von Frauen und Minderheiten und eine eng verzahnte Einheit von Staat und Religion sind nur einige Probleme, die die Region des Nahen Ostens und Nordafrikas heute nachhaltig prägen. Natürlich spielte die Thematik „Islam“ in den teilweise recht weitgehend säkularisierten Gesellschaften des Nahen Ostens der 1960er und 1970er Jahre eine weit geringere Rolle als heute. Die spätestens in den 1970er Jahren einsetzende Islamisierung schwappte auch nach Europa und prägt hier einen Teil der Zuwanderer, die Ausrichtung mancher Moscheen und nachgeordneter islamischer Organisationen, aber auch zahlreiche weltweit operierende islamistische Bewegungen, die nach Europa und nach Deutschland hinein wirken. Bei Vertretern des AMR bleibt offen, auf welche Weise angemessen über problematische Entwicklungen in islamisch geprägten Gesellschaften und im Islam in Europa gesprochen werden kann.

„Indem Kritiker*innen des antimuslimischen Rassismus ausblenden, dass Antisemitismus, Patriarchat oder Homophobie auch kulturelle Hintergründe haben könnten, tragen sie dazu bei, dass Räume für offene Diskussionen um Probleme und ihre Ursachen geschlossen bleiben.“45

Lösungsvorschläge zur Abkehr vom antimuslimischen Rassismus?

Zu fragen ist schließlich auch, welches Ziel die Theorie des AMR verfolgt: Konkrete Lösungsvorschläge zur Beseitigung der Problematik des AMR fehlen, es sei denn, man versteht die hier und da eingestreuten Andeutungen als Ausdruck eines Wunsches nach Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse:

„Es reicht daher nicht aus, rassistische Einstellungen oder individuelle Betroffenheit zu ächten. Es sollte vielmehr anerkannt werden, dass Rassismus als System sowohl intentional als auch nicht-intentional auf einer institutionellen und strukturellen Ebene über Generationen wirkt, Personen und Gruppen benachteiligt, ihnen Zugang zu wichtigen Gütern und Ressourcen wie zum Beispiel Bildung, Arbeit und Gesundheit verwehrt – und sie im schlimmsten Fall sogar tötet.“46

Werden Zuwanderern in dieser Pauschalität wirklich Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit verwehrt? Auch dort, wo Menschen im Alltag Diskriminierung und Benachteiligungen erfahren, scheinen diese Analysen doch verzerrt.

Eine wichtige Frage an die Vertreter des AMR wäre darüber hinaus, ob die weiße Mehrheitsgesellschaft etwas an dem ihr unterstellten Rassismus ändern könnte oder ob es lediglich um Schuldzuweisungen geht:

„Es ist im Kern die Schuld, weiß zu sein oder irgendwelche anderen Merkmale aufzuweisen, die mit einem Privileg verbunden sein sollen … Weiße sind quasi mit rassistischem Geburtsschaden zur Welt gekommen, und an diesem Fehler haben sie gefälligst zu tragen.“47

Fazit

Während in einer demokratischen Gesellschaft die Forderung kaum legitim erscheinen kann, irgendeine Religion von jeglicher kritischen Betrachtung auszunehmen, ist das Anliegen einer Sensibilisierung für und ein Entgegenwirken gegen Muslimfeindlichkeit ebenso begrüßenswert wie einem gelingenden Miteinander zuträglich. Dabei kommt eine konstruktive Definition von Muslimfeindlichkeit auch ohne Verdachtshermeneutik und Unterstellung von Rassismus aus, wenn konstatiert wird, dass Muslimfeindlichkeit Feindschaft in Einstellung, Wort oder Tat gegen Muslime ist, weil es sich um Muslime handelt. Es ist daher zu begrüßen, dass der Bundesinnenminister bei der Einberufung des „Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit“ im Jahr 2020 diesem den Auftrag erteilt hat, messbare Formen und Ausmaße von Muslimfeindlichkeit zusammenzutragen und Vorschläge zu ihrer Bekämpfung zu erarbeiten, anstatt sich für die verschwommene Kategorie des antimuslimischem Rassismus zu entscheiden.

Wird durch Sprechverbote und pauschale Rassismusvorwürfe an die westliche Gesellschaft die gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zunehmen und werden Vorurteile und Misstrauen abnehmen? Wird auf diese Weise ein friedliches Zusammenleben befördert, der Abbau von Fremdheit vorangetrieben? Wohl kaum. Misstrauen und Vorurteile können durch Begegnung verändert werden, nicht durch eine Verbreiterung des Grabens zwischen Menschen, die miteinander leben, oder durch das Leugnen der vielen Grautöne, die Gesellschaften überall auf der Welt kennzeichnen.

Es kann wohl konstatiert werden, dass sich die gesellschaftliche Diskussion rund um das Thema Islam verschärft hat und Kritik an Phänomenen wie Zwangsehen oder am politischen Islam heute häufiger hörbar ist als in der Vergangenheit. Es gibt in der deutschen Mehrheitsbevölkerung in Bezug auf Muslime oder muslimische Zuwanderer Vorurteile, Unkenntnis, Unsicherheit, Ängste, Ablehnung, Verbohrtheit oder sogar Bosheit – ebenso wie bei Zuwanderern. Auch existiert ein rechter muslimfeindlicher Rand, der teilweise Schnittmengen und Verbindungen zum Bereich des Rechtsextremismus besitzt. Meinungsfreiheit und Kritik dürfen kein Freibrief für Hetze sein, für Paternalismus, Verachtung und die Inhaftnahme von Muslimen für die Taten anderer. Gleichzeitig existieren aber auch Offenheit, Sympathie, Freundschaften, Hilfsbereitschaft, Förderung und Entgegenkommen gegenüber Zuwanderern und ihren Nachfahren, Neubürgern und Geflüchteten. Das Bild ist nicht schwarz-weiß.

Ob Einheimischer, Neubürger oder Nachkomme ehemaliger „Gastarbeiter“: Demokratie braucht die Bereitschaft zum kritischen Diskurs über Missstände und Fehlentwicklungen in der (ehemaligen) Herkunfts- wie in der Aufnahmegesellschaft sowie über die Notwendigkeit einer Versöhnung der traditionellen islamischen Theologie mit den Grundlagen des säkularen Rechtsstaats. Kulturelle Aushandlungsprozesse zwischen Säkularismus und Religiosität im öffentlichen Raum sowie dem Verhältnis von Staat und Religion sind gefragt. Es ist unerlässlich, gangbare Wege zu finden zwischen der Zurückweisung von menschen- und muslimfeindlichen Haltungen, von Hass, Verachtung und Diskriminierung auf der einen Seite und Meinungsfreiheit sowie der Offenheit, auch schwierige Themen wie Zwangsehen oder religiös motivierte Gewalt gesellschaftlich breit erörtern zu können, auf der anderen Seite. Pauschale Rassismusvorwürfe zu erheben, anstatt konstruktive Vorschläge zur Zusammenführung der Gesellschaft zu machen, spaltet ebenso wie die Abwertung und Diskriminierung von Muslimen. Letztlich ist das persönliche Kennenlernen ein bewährtes Heilmittel gegen Vorurteile und Engstirnigkeit: Wer unter seinen Bekannten und Freunden Muslime hat, wird weniger zu muslimfeindlichen Haltungen neigen. So besagt die sogenannte „Kontakthypothese“, die durch zahlreiche Studien belegt wurde: „Vorurteile (außer wenn sie tief in der Charakterstruktur verankert sind) können durch positive Kontakte zwischen Mehrheitsbevölkerung und Minderheiten (einschließlich Migranten) reduziert werden.“48  Dazu können wir alle beitragen.


Christine Schirrmacher, 13.05.2022

 

Anmerkungen

1   So Chris Allen: Islamophobia, London 2010, 5.

2   So die Charakterisierung von Floris Biskamp: Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit. Antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuerer kritischer Theorie, Bielefeld 2016, 33.

3   The Runnymede Trust: Islamophobia: A Challenge For Us All, 1997, tinyurl.com/2p8bne7c (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 13.4.2022).

4   Vgl. ebd.

5   Vgl. die Darstellung der Kritikpunkte bei Biskamp: Orientalismus (s. Fußnote 2), 35 – 37.

6   Vgl. Luzie H. Kahlweiß / Samuel Salzborn: „Islamophobie“ als politischer Kampfbegriff, in: Armin Pfahl-Traughber (Hg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2011 / 2012 (II), Brühl 2012, 248 – 263.

7   Vgl. Statement by the OIC Group in Geneva on the 10th Anniversary of the Human Rights Council (HRC) Resolution 16/18, 28.3.2021, tinyurl.com/35h8s53t.

8   Vgl. Thomas Volk: Islamophobie und Islamkritik, in: Konrad-Adenauer-Stiftung: Die politische Meinung, 12.8.2016, tinyurl.com/33upm3ty.

9   Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat / Bundeskriminalamt (Hg.): Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2020, 4.5.2021, https://bit.ly/3fyRmpx.

10  Vgl. Tomma Neveling: Islam-Verbände fordern mehr Schutz für Moscheen, Mediendienst Integration, 21.10.2021, https://tinyurl.com/2p9u758r.

11  Vgl. Bundesministerium der Justiz: Folge 2: Hasskriminalität im Internet, www.bmj.de/DE/Themen/Rechtso/Audio/Audio2.html.

12  Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 1–8, 8, Frankfurt a. M. 2002–2012.

13  Vgl. die einzelnen Kritikpunkte bei Biskamp: Orientalismus (s. Fußnote 2), 38.

14  Maik Fielitz / Julia Ebner / Jakob Guhl / Matthias Quent: Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung, in: Forschungsbericht des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Jena u. a. 2018, 16, tinyurl.com/2p8v69h9.

15  Die Bundeszentrale für Politische Bildung benennt als Wurzeln plakativ „die christliche Muslimfeindlichkeit des Mittelalters und den Kolonialismus“, ohne dies näher zu erläutern oder zu begründen: „Muslimfeindlichkeit stellt eine Form des gegenwärtigen Rassismus in Europa dar“ (Flyer Muslimfeindlichkeit begegnen, Bonn, o. J.).

16  Ebd.

17  Vgl. Verfassungsschutz Bayern, tinyurl.com/2p9af8hu.

18  Étienne Balibar: Gibt es einen Neo-Rassismus?, in: ders. / Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Berlin 1990, 23 – 38, 29.

19  Anne Schönfeld: Begriffe und Konzepte im Widerstreit: Forschung zum Themenfeld Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus, in: Ansgar Drücker / Philip Baron (Hg.): Antimuslimischer Rassismus und muslimische Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft, Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), Düsseldorf 2019, 6 – 12, 8, tinyurl.com/2p87t8su.

20  Ebd.

21  Schönfeld: Begriffe und Konzepte im Widerstreit (s. Fußnote 19), 8.

22  Ebd., 9.

23  Ebd., 10.

24  Ebd., 8.

25  Ebd., 9.

26  Vgl ebd., 10.

27  Ebd.

28  Ozan Zakariya Keskinkılıç: „Aber Islam ist doch keine Rasse …“ in: Drücker / Baron (Hg.): Antimuslimischer Rassismus und muslimische Jugendarbeit (s. Fußnote 19), 12 – 16, 13.

29  Vgl. Biskamp: Orientalismus (s. Fußnote 2), 63f.

30  Ebd., 66.

31  So Naika Foroutan: Rassismus in der Postmigrantischen Gesellschaft, in: (Anti-)Rassismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 42 – 44 (2020), 12 – 18, 18.

32  Armin Pfahl-Traughber: „Islamophobie“ und „Antimuslimischer Rassismus“, in: Zeitschrift für Politik 67/2 (2020), 123 – 144, 123.

33  Iman Attia: Antimuslimischer Rassismus in bester Gesellschaft, in: dies. u. a.: Antimuslimischer Rassismus am rechten Rand, Münster 2014, 9 – 33, 24.

34  Vgl. DEN Islam gibt es nicht, Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung, https://tinyurl.com/4vkmb8u9.

35  Iman Attia. Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009, 13.

36  So ebd., 74.

37  Amadeu-Antonio-Stiftung: Neue Leipziger Autoritarismus-Studie vorgestellt: Antifeminismus – ein zentraler Bestandteil rechtsextremer Ideologie, 18.11.2020, tinyurl.com/3pctcvu8.

38  So etwa Eckhard Jesse: Mitte und Extremismus. Eine Kritik an den „Mitte“-Studien einer Leipziger Forschergruppe, in: Uwe Backes / Alexander Gallus / Eckhard Jesse (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie 25 (2013), 13 – 35.

39  So einige Kritikpunkt bei Biskamp: Orientalismus (s. Fußnote 2), 67ff.

40  Christoph Giesa: Warum und wie ich auch als Weißer über Rassismus rede, in: (Anti-)Rassismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 42 – 44 (2020), 8 – 11, 9.

41  Vgl. die Beispiele bei Jan Feddersen / Philipp Gessler: Kampf den Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale, Berlin 2021, 116.

42  Eine gewisse Ausnahme stellt die Türkei mit ihrem am schweizerischen Familienrecht ausgerichteten Zivilrecht dar. Allerdings führt dessen ungeachtet die patriarchalisch geprägte Kultur der Türkei zu mancherlei rechtlichen und gesellschaftlichen Benachteiligungen für Frauen.

43  Feddersen / Gessler: Kampf den Identitäten (s. Fußnote 41), 79.

44  Vgl. die Darstellung der Diskussion in einem Wuppertaler Gymnasium: Martin Benninghoff / Martin Franke: „In Deutschland gehe ich nicht mehr schwimmen“, FAZ, 26.4.2018, tinyurl.com/bddbkn3x.

45  Biskamp: Orientalismus (s. Fußnote 2), 85.

46  Foroutan: Rassismus (s. Fußnote 31), 13.

47  Feddersen / Gessler: Kampf den Identitäten (s. Fußnote 41), 166.

48  Peter Schmidt / Stefan Weick / Daniel Gloris: Wann wirken Kontakte zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft?, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren 61 (2019), 24 – 29, mit Verweis auf Gordon W. Allport: The Nature of Prejudice, Cambridge 1954, 281.