Islam

Islamischer Gebetsruf

Der lautsprecherverstärkte islamische Gebetsruf ist (wieder einmal) in der Diskussion. Im Norden (Rendsburg) und ganz im Süden der Republik (Rheinfelden) ist er aus unterschiedlichen Gründen – im einen Fall beim Neubau, im anderen offenbar durch eine einseitige Aktion der Moscheegemeinde – zum Thema von Kontroversen geworden. Aus kommunaler und staatlicher Sicht geht es in der Entscheidungsfindung außer um Herkömmlichkeit, Akzeptanz und soziale Adäquanz hauptsächlich um Einhaltung von Lärmschutzbestimmungen. Der Gebetsruf wird unter Absehung von seinem Inhalt als Einladung zum Gebet verstanden und funktional dem kirchlichen Glockengeläut gleichgestellt. Eine solche Gleichstellung ist jedoch in verschiedener Hinsicht umstritten.

Der immer arabisch vorgetragene Gebetsruf (arab. adhan) kündigt den Beginn der Zeiten an, in denen das islamische Ritualgebet fünfmal täglich zu verrichten ist. Er hat in seiner Hauptform folgenden Wortlaut: Allah ist größer (oder: am größten) (4x) – Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt (2x) – Ich bezeuge, dass Muhammad Allahs Gesandter ist (2x) – Auf zum Gebet! (2x) – Auf zum Erfolg (oder: Heil)! (2x) – Allah ist größer (2x) – Es gibt keinen Gott außer Allah.

Unmittelbar vor dem Gebet erfolgt der fast gleich lautende zweite Gebetsaufruf (arab. iqama) in der Moschee. Der Gebetsruf ist islamrechtlich empfohlen, aber für keine Rechtsschule unabdingbare individuelle Verpflichtung und auch keine Voraussetzung für die Gültigkeit des Gebets. Viele muslimische Autoritäten vertreten die Ansicht, dass der Adhan in der Öffentlichkeit nur für Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung gilt. Einige halten die Möglichkeiten, die für jeden Ort genau festgelegten Gebetszeiten dem Internet oder entsprechenden Kalendern bzw. Tabellen zu entnehmen oder sich gar den Gebetsruf per SMS schicken zu lassen, für völlig ausreichend. Adhan und Iqama werden innerhalb der Moschee vorgetragen. Vielerorts wohnen die Gläubigen zudem so weit von der (häufig in Gewerbegebieten gelegenen) Moschee entfernt, dass der Gebetsruf ohnehin nicht gehört werden könnte.

Viele Muslime sind auch in Deutschland der Auffassung, dass der Gebetsruf als unverzichtbarer Bestandteil des täglichen religiösen Lebens wesentlich zum Ablauf des Gebetes gehört. Insoweit fällt er in den Schutzbereich der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit. Gerade darin zeigt sich aber auch ein wesentlicher Unterschied zum kirchlichen Glockenläuten, das nicht als Teil des Gebets aufgefasst werden kann und über die Einladung zum Gottesdienst hinaus keine „Botschaft“ proklamiert. (Vom liturgischen Glockengeläut ist zudem das Profangeläut zu unterscheiden. Viele moderne Gemeindezentren verzichten ganz auf Glockenturm und Geläut.)

Der islamische Gebetsruf formuliert explizit den Kern und den Anspruch des islamischen Glaubens in Gestalt des Glaubensbekenntnisses. Abgesehen davon, dass die Lautsprecherverstärkung nur sinnvoll sein kann, wenn sie vom Großteil der Gläubigen zu hören ist, wird durch sie eine Situation geschaffen, in der die Anwohner ohne Ausweichmöglichkeiten eben dieser religiösen Handlung, dem öffentlichen Bekenntnis des islamischen Glaubens, ausgesetzt sind. Insofern das Grundrecht, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben (Art. 4 GG in seiner Ausgestaltung als negative Religionsfreiheit), nicht gewahrt wird, gerät die Toleranzforderung an dieser Stelle zur Billigung einer von einigen Muslimen gewünschten und betriebenen Demonstration islamischer Präsenz im nichtmuslimischen Umfeld. Die Erlaubnis des lautsprecherverstärkten Gebetsrufes gehört etwa zum Forderungskatalog der Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland von 2002.

Zutreffend bleibt die Einschätzung des Kölner Rechtsprofessors Stefan Muckel, dass der muslimische Gebetsruf einer eigenständigen, vom kirchlichen Glockenläuten losgelösten rechtlichen Prüfung zu unterziehen ist. Dabei darf die inhaltliche Dimension nicht unbeachtet bleiben.

Die Frage des lautsprecherverstärkten Gebetsrufs sollte nicht mit der des Baus von Minaretten verquickt werden, wie es im Zusammenhang mit der Schweizer Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ geschehen ist. Diese wurde am 29.11.2009 überraschend klar mit 57,5 Prozent der Stimmen und überragender Mehrheit der Kantone angenommen. Das Recht der freien Religionsausübung erstreckt sich auch auf das Recht zur Errichtung von Moscheen – ob mit oder ohne Minarett. Die kritische Auseinandersetzung sollte Stellvertreterdebatten nicht Vorschub leisten, sondern sich auf die Spielräume bei der Nutzung der Bauten, auf das Verständnis von Scharia und Demokratie, auf Sprachkenntnisse und Bildungsoptionen und andere inhaltliche Themen konzentrieren.


Friedmann Eißler