Ulrich H. J. Körtner

Islam als Offenbarung für Christen?

Eine Thesenreihe

Im Wintersemester 2020/21 fand an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien eine Ringvorlesung statt zum Thema „Judentum – Christentum – Islam: Inter- und transdisziplinäre Perspektiven auf den interreligiösen Dialog der drei abrahamitischen Religionen“. Am 3.11.2020 referierte der katholische Fundamentaltheologe Kurt Appel zum Thema „Islam als Offenbarung für Christen?“. Der Autor des vorliegenden Beitrags und der katholische Religionspädagoge Martin Jäggle waren zu einer Response eingeladen. Appel stellte zur Diskussion, ob es Christen möglich sei, den Koran als Teil der eigenen Offenbarung zu lesen. Theologisch lasse sich argumentieren, der Koran richte sich auch an Christen, jedoch nicht mit dem Ziel, diese vom Christentum wegzuführen, sondern ihnen eine Möglichkeit zu eröffnen, ihr Christentum besser zu verstehen.

Bei den nachfolgenden Thesen handelt es sich um meine Response auf Appels Vortrag. Sie treffen keine Aussagen aus der Distanz wissenschaftlicher Beobachtung und Analyse, sondern gehören zur Gattung assertorischer Rede. Assertorische Sätze beanspruchen für den, der sie aufstellt, Gültigkeit, ohne für sie einen objektiven Beweis aus der Beobachterperspektive zu erbringen. So sind die nachstehenden Thesen aus der Teilnehmerperspektive christlichen Glaubens formuliert. Sie sind bekenntnishaft, werden aber durch überprüfbare Argumente untermauert. Als assertorische theologische Sätze sind sie von religionswissenschaftlichen Aussagen wie auch von religionsphilosophischen Hypothesen klar zu unterscheiden.

1. These

Keine Religion ist göttliche Offenbarung, sondern bestenfalls menschliche Antwort auf eine solche. Religionen sind kulturelle Hervorbringungen des Menschen, Offenbarung hingegen, wenn der Begriff theologisch gehaltvoll verwendet wird, ist Selbstoffenbarung Gottes.

2. These

Als Offenbarung Gottes ist jede Offenbarung, die von ihm herrührt, Offenbarung der Wahrheit. Religion kann Offenbarung der Wahrheit bestenfalls bezeugen. Sie ist aber nicht mit ihr gleichzusetzen. Daher gibt es auch keine wahre Religion. Christlich gedacht haftet jeder Religion das Merkmal der Sünde an – also auch dem Christentum.

3. These

Wie andere Theologen (Markus Mühling, Christoph Schneider-Harpprecht) unterscheide ich zwischen der Wahrheitsfrage (Geltungsfrage), der soteriologischen Frage nach dem Verhältnis der Heils- und Erlösungsansprüche der Religionen zueinander und der sozialethischen Frage der Toleranz. Dialog und Konvivenz bewegen sich für mich auf der zuletzt genannten Ebene. Aber wenn es um die ersten beiden Fragen geht und es für mich zum Schwur kommt, ist meine Antwort ganz schlicht: Ich betrachte mich nach islamischer Lehre als Ungläubigen. Weder glaube ich, dass Mohammed ein Prophet des Gottes war, an den ich glaube, noch bin ich mir sicher, ob Muslime und ich überhaupt an denselben Gott glauben. Für mich gilt also nicht nur nicht der zweite Teil des allen Richtungen des Islam gemeinsamen Bekenntnisses (Schahada), das Mohammed als Gesandten Allahs bekennt, sondern auch der erste Teil nicht, wonach es keinen Gott außer Allah gibt.

4. These

Der Grund liegt darin, dass ich in Jesus Christus die letztgültige Offenbarung des einzigen Gottes sehe, die durch keine andere Offenbarung überboten wird.

5. These

Religionsgeschichtlich betrachtet mag die Religion Mohammeds mit ihrer Abkehr vom Polytheismus und ihrer Hinwendung zum strengen Monotheismus für die arabische Welt ein Fortschritt gewesen sein. Aus meiner christlichen Sicht halte ich sie gegenüber dem trinitarischen Gottesglauben des Christentums, der in Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu Christi gründet, für einen Rückschritt. Nach meinem Verständnis kann man in den Offenbarungen, die Mohammed glaubt empfangen zu haben, christlicherseits eine Resonanz auf das jüdische und das christliche Offenbarungszeugnis sehen, aber keine neue Offenbarung, die an die Stelle der biblisch bezeugten treten könnte.

6. These

Wie die von muslimischer wie christlicher Seite vielfach gescholtene Handreichung der EKD „Klarheit und gute Nachbarschaft“ aus dem Jahr 2006 bin ich der Ansicht: „So wertvoll die Entdeckung von Gemeinsamkeiten im christlichen und muslimischen Glauben ist, so deutlich werden bei genauerer Betrachtung die Differenzen. Die Feststellung des ‚Glaubens an den einen Gott‘ trägt nicht sehr weit.“1 Auch der EKD-Grundlagentext „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“ (2015) wendet sich m. E. völlig zu Recht gegen eine Religionshermeneutik „der nachsichtigen Unvollständigkeit des anderen“, weil doch weder das Christentum noch das Judentum und der Islam „mit dem Gedanken, die anderen beiden hielten sich bereits zum einzigen Gott, nur bleibe er diesen noch in wesentlichen Dimensionen verborgen, einen Plausibilitätsgewinn erzielen“.2 (Für fragwürdig halte ich auch den Begriff der „abrahamitischen Religionen“, weil die Gestalt Abrahams in Judentum, Christentum und Islam derart unterschiedlich gedeutet wird, dass man seriöserweise weder religionswissenschaftlich noch theologisch von einem gemeinsamen abrahamitischen Erbe sprechen kann.)

7. These

Das Christentum behauptet, der einzige Gott, der sich in Jesus von Nazareth letztgültig offenbart habe, sei der Gott Israels. Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass das Christentum die heiligen Schriften Israels zu einem Teil seiner zweiteiligen Bibel gemacht hat. Die Septuaginta als griechische Version der jüdischen Bibel als auch die Hebräische Bibel (Tanach) stehen im Christentum als das Alte Testament in kanonischer Geltung. Zwar hat das Christentum nicht den Aufriss des Tanach übernommen; der Aufbau seines Alten Testaments folgt der Septuaginta. Das Christentum hat jedoch beide Versionen einer jüdischen Bibel in ihrem Wortlaut unverändert übernommen. Die neutestamentlichen Schriften können als Kommentare zum Alten Testament gelesen werden, wobei alttestamentliche und neutestamentliche Schriften einen hermeneutischen Zirkel bilden. Das Christusgeschehen wird im Licht des Alten Testaments als letztgültige Offenbarung des Gottes Israels interpretiert. Zugleich wird vom Christusgeschehen aus das Alte Testament auf neue Weise interpretiert. Dass Jesus Christus Gottes letztgültige und heilschaffende Offenbarung ist, soll von den alttestamentlichen Schriften aus als wahr erwiesen werden. Zugleich lautet der Anspruch im Neuen Testament, dass sich die letzte Wahrheit der alttestamentlichen Schriften von Jesus Christus, seinem Tod und seiner Auferstehung her erschließt.

8. These

Auch Jesus von Nazareth wird in den neutestamentlichen Evangelien als Ausleger des Alten Testaments und der Tora dargestellt (vgl. Mt 5-7; 11,1-6 par.; 23,23-28; Mk 7,6ff; 10,2-12; 11,17; 12,10; 12,26; 12,28-34 par.; 12,35-37; Lk 4,16-21). Es heißt von ihm, dass er in Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten gepredigt habe (Mk 1,22; Mt 7,28f). Nach Darstellung von Mk 7 hat Jesus die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Speisen aufgehoben, indem er alle Speisen für rein erklärte (Mk 7,19). Ein wesentliches Element alttestamentlicher Speisevorschriften gilt somit als aufgehoben. Nach Darstellung des Matthäusevangeliums hat Jesus freilich erklärt, er sei nicht gekommen, die alttestamentliche Tora oder die Propheten – also den Tanach bzw. das Alte Testament in seiner Gesamtheit – aufzulösen, sondern um die Tora und die prophetischen Verheißungen zu erfüllen (Mt 5,17). Das Matthäusevangelium zitiert Jesus mit den Worten: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht“ (Mt 5,18). Dass Jesus die Tora und die Propheten erfüllt und in Vollmacht die anbrechende Gottesherrschaft verkündigt, bedeutet eben nicht, dass er die alttestamentlichen Texte abändert oder für verfälscht erklärt. Er verkündigt die Gottesherrschaft nicht an diesen Texten vorbei, sondern unter Berufung auf sie, wobei er sie freilich neu interpretiert. Erfüllung der Tora kann nun zwar auch, wie an Mk 7 zu sehen, Aufhebung bedeuten, nicht aber ihre Ersetzung durch andere Schriften.

9. These

Die Tatsache, dass es zwar christliche Kommentierungen der alttestamentlichen Schriften gibt – und solche findet man, wie gesagt, ja schon im Neuen Testament –, aber keine christliche Redaktion alttestamentlicher Texte, ist theologisch von eminenter Bedeutung. Der Glaube an Jesus als den Messias trennt Christen und Juden. Der Glaube der Christen, das Heil der Welt sei in dem Juden Jesus beschlossen, verbindet die Christen zugleich mit dem Judentum. Nirgends aber wird im Neuen Testament oder sonst im Christentum behauptet, die Juden, welche nicht christusgläubig geworden sind, hätten einen falschen oder verfälschten Text, ein verfälschtes Offenbarungszeugnis.

10. These

Bedenkt man das Thema der Offenbarung und der Frage ihrer schriftlichen Bezeugung, zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Verhältnis von Judentum und Christentum auf der einen Seite und dem Verhältnis von Christentum und Islam wie auch von Islam und Judentum auf der anderen Seite.

11. These

Zwar sieht sich die von Mohammed verkündete Botschaft in der Tradition früherer Verkündigungen einer göttlichen Offenbarung. Allerdings greift er jüdische und christliche Glaubenstraditionen auf, nicht ohne sie zu korrigieren und umzuformen. Im Gegensatz zum Christentum spielt der Wortlaut alttestamentlicher Überlieferung für Mohammed, seinen Koran und die islamische Koranexegese kaum eine Rolle. Gleiches gilt für die neutestamentliche Überlieferung und ihre Rezeption im Koran und in der Koranexegese. Statt sich eingehend mit den Texten des Alten und Neuen Testaments im Wortlaut zu befassen, wird der Vorwurf des tahrῑf, der Schriftverfälschung, an Juden und Christen gerichtet.

12. These

„Betrachtet man den Koran als einen verkündeten Text, der sich an eine Gemeinde richtet, in der u. a. jüdische und christliche Überzeugungen anzutreffen sind, scheinen sich im Text Diskurse erkennen zu lassen, die christliche und jüdische Überlieferungen aufgreifen und neu deuten.“3 Die aufgegriffenen Traditionen gewinnen allerdings im koranischen Kontext ein völlig neues Profil, ohne dass dieses durch solide Arbeit an den alttestamentlichen und neutestamentlichen Texten ausgewiesen würde.

13. These

Wer in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments ein authentisches Zeugnis des einzigen Gottes und seiner Offenbarungsgeschichte sieht, wird einer Umdeutung an diesen Texten vorbei kaum den Wert einer neuen Offenbarung beimessen können. Ich jedenfalls kann es nicht.


Ulrich H. J. Körtner, Wien, 10.03.2021
 

Anmerkungen

  1. Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland, EKD-Texte 86, Hannover 2006, 18, www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_86.pdf.
  2. Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive, Gütersloh 2015, 65, www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/christlicher_glaube.pdf.
  3. Michael Marx: Art. Exegese V. Islamwissenschaftlich, in: Oda Wischmeyer (Hg.): Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin 2009, 171 – 173, hier 172.