Ingolf U. Dalferth

Ingolf U. Dalferth: Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 336 Seiten, 25,00 Euro

Die Gefährdung unserer bundesdeutschen Demokratie ist ein Thema, das mich persönlich stark beschäftigt. Wenn demokratische Landtagswahlen in Berlin nicht mehr korrekt durchgeführt werden, wenn Meinungsfreiheit mithilfe des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes legitim von privaten Firmen beschnitten werden darf, wenn eine Bundeskanzlerin autoritär „alternativlose“ Wahrheiten verkündet, wenn Gruppierungen aus dem rechten, aus dem linken, aus dem islamischen, aus dem Corona-panischen, aus dem Klima-apokalyptischen Spektrum bereit sind, die Grundrechte um eines bestimmten politischen Ziels willen auszuhebeln, dann freue ich mich, dass die Evangelische Verlagsanstalt bereit ist, zu diesem brisanten Thema ein Buch auf den Markt zu bringen. Es ist ein Buch, das im Gegensatz zu meiner Einleitung nahezu völlig auf praktische Beispiele verzichtet. Es wird vielmehr grundsätzlich auf einer hohen (religions)philosophischen Ebene argumentiert. Die Übertragung in den gesellschaftlichen Alltag muss bzw. darf jeder Leser selber leisten.

Der Verfasser ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und hat an vielen Universitäten im In- und Ausland gelehrt. 2020 hat er aufgrund von Erfahrungen mit einer zunehmenden antidemokratischen Ideologisierung der amerikanischen Universitätslandschaft seine Lehrtätigkeit in den USA aufgegeben.1  

Die fünf Kapitel des Buches können in zwei Teile unterteilt werden: In den ersten drei Kapiteln geht es um die Krise der Demokratie, der Öffentlichkeit und der Vernunft. In den letzten beiden um Hilfen bei der Überwindung dieser Krise: die Stärkung der orientierenden Urteilskraft und einen (nicht konfessionellen) Gottesglauben, der als ein gemeinsames Drittes verhindern kann, dass Spannungen zwischen Menschen und politischen Parteiungen zu demokratiegefährdenden Spaltungen eskalieren.

Dalferth preist die „deliberative Demokratie“ als beste Gesellschaftsform zum Schutz des Freiheitsversprechens. In der „deliberativen Demokratie“ steht die Gegenseitigkeit des Austausches von Anliegen und Argumenten in öffentlichen Debatten im Mittelpunkt (56). Zwar hat keiner das Recht, von anderen angehört oder ernst genommen werden zu müssen. Aber jeder hat das Recht, alles vorzubringen, „was nicht dem Rechtsrahmen des Grundgesetzes widerspricht“ (62), selbst wenn es nicht rational oder moralisch begründet ist. „Politische Demokratie steht und fällt mit der Freiheit und dem Recht aller, an den öffentlichen Willensbildungsprozessen mitzuwirken“ (63).

Allerdings ist das Ideal einer deliberativen Demokratie durch ein Bündel von Entwicklungen gefährdet, die sich zu einer Krise der Demokratie und der öffentlichen Vernunft verdichten könnten. Hier folgen längere, detaillierte Analysen von Dalferth, von denen nur einige skizzenhaft angerissen seien.

  • Machtkonzentrationen verhindern die Gegenseitigkeit des Austausches und das Durchsetzen des besseren Argumentes.
  • In der politischen Debatte geht es oft primär um vertrauenserweckende Personen, aufwühlende Ereignisse, bewegende Bilder und das Schüren von Emotionen. Es geht um Mehrheiten und nicht um Wahrheit oder Vernunft.
  • Die Gesellschaft wird zerrieben durch rechts- und linksidentitätspolitische Machtkämpfe, wo jeder für sich und seine Gruppe kämpft und das allgemein Verbindende aus dem Blick gerät.
  • Mediale Öffentlichkeit fördert Kommunikationsprozesse losgelöst von einem Engagement für die Gemeinschaft.
  • Mediale Öffentlichkeit orientiert sich an der Aufnahmewilligkeit beim Publikum und nicht an argumentativer Sachlichkeit.
  • Mediale Öffentlichkeit unterliegt der Gefahr der politischen Manipulation von Kommunikationsprozessen.
  • In digitalen Netzwerken geht es um die richtige Einstellung, nicht um differenzierte Einsicht. Man wägt nicht ab, sondern solidarisiert sich mit Gleichgesinnten. Man kommuniziert nicht, um sich informiert zu entscheiden, sondern um Zustimmung zu gewinnen.

Es gibt ein Konzept der „öffentlichen Vernunft“, das diesen gegenwärtigen Kommunikationsentwicklungen negativ gegenübersteht, weil es nur Sachkompetenz und Vernunftgründe im öffentlichen Raum gelten lassen möchte:

„Knapp und formelhaft gesagt: Das von Habermas skizzierte Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit ist das Resultat der Kombination von Marktplatz und Kaffeehaus, die Fortbestimmung der Marktöffentlichkeit nach Art der öffentlichen Debattenkultur des Kaffeehauses … nach Art eines gebildeten Lesepublikums“ (81f).

Dalferth erkennt dagegen Öffentlichkeit nicht nur als bürgerlich-vernünftige Öffentlichkeit an. Zum einen möchte er die empirisch vorfindliche Öffentlichkeit angesichts bestimmter Idealvorstellungen nicht einfach nur abwerten. Zum anderen ist es sein Anliegen, die Gottesfrage in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Diese kann letztlich nicht im Denken, sondern nur im Leben entschieden werden. Wie die Freiheit, so kann auch der Glaube nicht auf der Basis empirischer Erfahrung demonstriert werden, sondern nur, indem er in Anspruch genommen und gelebt wird. „Eben deshalb ist der einzige gute Grund, an Gott zu glauben, es zu tun“ (167). Falls in einem Diskurs aber nur Vernunftgründe zugelassen werden, weil alles andere lediglich privat-subjektiv und nicht gemeinschaftsfähig sei, würde dies zu einer Gottesabstinenz im öffentlichen Raum führen, die dann wieder gottesabstinent in die privateste Innerlichkeit zurückstrahlen würde (157).

Das ins Wanken geratende Modell der deliberativen Demokratie kann nicht stabilisiert werden durch nostalgische Idealisierung früherer besserer Zeiten. Auch helfen bestimmte inhaltliche Gewissheiten, Werte, Gesinnungen, Konfessionen und Überzeugungen nicht weiter, weil sie immer nur zu neuen Kontroversen führen (187). Unsere Gesellschaft ist zu pluralistisch, um sich inhaltlich einigen zu können.

Nicht welcheGewissheiten und Werte wir haben, begründet das demokratische Projekt, sondern dass wir sie stets in der einen oder anderen Weise haben. Diese „Universalie“ (188) begründet die Öffentlichkeit gegen eine Scheinöffentlichkeit, die durch selbstgewählte Gesinnungsgruppen erzeugt wird, mit deren Hilfe man sich der echten (allgemeinen) Öffentlichkeit entzieht. Diese Universalie gründet letztlich in dem, was philosophisch „Transzendenz“ und was theologisch „Schöpfer“ genannt wird (siehe unten).

Demokratie steht für das gemeinsame Leben, in dem man nicht nur sich selbst und seine Gruppe sieht, sondern in dem man die anderen als gleichberechtigte Mitgestalter des gemeinsamen Lebens ernst nimmt.

„Deshalb ist es nötig, zur Schärfung des eigenen Urteils dem Widerspruch der anderen Raum zu geben, also nicht nur auf die eigenen Überzeugungen zu achten, sondern die Meinungen, Ansichten, Argumente und Überlegungen anderer ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und nicht nur sie im Licht der eigenen Überzeugung, sondern auch die eigenen Überzeugungen in ihrem Licht kritisch zu prüfen. Genau darum geht es in der Demokratie“ (217).

Demokratie lebt von Menschen, die nicht Masse oder Herde sind, sondern die als verantwortungsfähige und verantwortungswillige Personen kritische Urteilskraft praktizieren und ermöglichen. Der andere ist dabei nicht nur der, der die eigene Freiheit begrenzt, sondern auch der, der es mir ermöglicht, mich freiheitlich zu entwickeln in Kritik, Korrektur und Verbesserung.

Auch wenn es in einer Demokratie vernünftig ist, Gott politisch um des gemeinsamen Friedens willen als etwas zu denken, was sich ignorieren lässt, heißt das noch lange nicht, dass es vernünftig ist, Gott zu ignorieren und die Gottesfrage gar nicht mehr zu stellen. Bei der Gottesfrage im politischen Kontext geht es allerdings nicht um die privilegierte Form von Religion oder einer bestimmten Religionspraxis. Dies würde nur neue demokratiegefährdende Konflikte heraufbeschwören.

Aber der Gottesgedanke ermöglicht die Unterscheidung von „Schöpfer“ und „Geschöpf“. Damit bringt der Gottesgedanke einen Grundzug der menschlichen Existenz zum Ausdruck, auf die jeder Mensch stoßen kann, wenn er über sich und unsere Welt nachdenkt: Dass es mich und meinen Mitmenschen gibt, versteht sich nicht von selbst (255). „Dass wir da sind, können wir daher in keiner Weise uns selbst zuschreiben“ (280). Vor diesem Hintergrund sehen sich Menschen mit anderen Augen, weil sie gemeinsam vor einem Dritten stehen, über den keiner von ihnen verfügt und dem jeder Rechenschaft schuldet. Menschen werden nicht zu Mitmenschen, weil sie sich so sehen oder interpretieren, sondern weil sie es vor Gott sind (281). Damit wird die eigene Freiheit durch ein Drittes begründet, auf das man sich verlassen kann. „Nur wer so frei ist, kann die Freiheit des anderen nicht als störende Fremdbegrenzung verstehen, sondern als Ausdrucksgestalt derselben Freiheit, der er sich selbst verdankt“ (223). Gott ist die Wirklichkeit, die die Freiheit des Menschen nicht begrenzt, sondern ermöglicht. Und Gott ist die Wirklichkeit, die unsere Gleichheit ermöglicht; denn „universale Gleichheit gibt es nicht im Hinblick auf unsere Aktivitäten, sondern nur im Hinblick auf die für uns konstitutiven existenziellen Passivitäten“ (282). Darum sind wir gut beraten, in der Orientierung auf Gott uns selbst Gesetze zu geben, vor denen wir alle rechtlich und politisch gleich sind. Der Rekurs auf Gott ist also kein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, sondern die permanente Erinnerung daran, was eine umfassende Öffentlichkeit in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit möglich macht.

Das Buch ist ein nicht immer leicht zu lesendes Schwarzbrot. Die „Verständlichkeit“ als ein Kriterium für gelingende Öffentlichkeit (Habermas) kommt an einigen Stellen zu kurz. Doch wie das bei Schwarzbrot so ist, es ist nahrhaft und es lohnt die Anstrengung. Mir gefallen in diesem Buch ganz besonders zwei Gedankenstränge: zum einen, wie weitherzig Dalferth gegen alle Diskursverengungen den Meinungsraum der Öffentlichkeit öffnet; und zum anderen, wie er versucht, den Gottesbegriff als Bereicherung für Demokratie und Öffentlichkeit ins Spiel zu bringen, ohne dabei für religionslose Menschen übergriffig zu werden.

Achijah Zorn, Mülheim a. d. Ruhr, 07.11.2011
 

Anmerkung

1  Vgl. Ingolf Dalferth: Ideologische Selbstzerstörung, in: Zeitzeichen 2/2011, 8 – 11, https://zeitzeichen.net/node/8764 (Abruf: 2.11.2022).