Rüdiger Braun

"Himmel inmitten von Berlin"

Mehr Erdung für den Symbolbau House of One

Am 27. Mai 2021 erfolgte im Rahmen eines pandemiebedingt im hybriden Format ausgerichteten Festaktes die symbolische Grundsteinlegung des Berliner House of One. Damit tritt das 2009 initiierte Projekt eines mehrreligiösen Sakralbaus nunmehr in die Bauphase.

Eine interreligiöse Vision und kooperative Politik

„Nicht noch eine weitere Kirche“, sondern etwas „Zukunftsweisendes“ sollte auf dem Petriplatz entstehen, so die 2009 entwickelte Idee der evangelischen Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien in Berlin-Mitte. Der künftige Bau sollte die religiös-kulturelle Pluralisierung Berlins und seiner Bewohner abbilden und zugleich „dem wachsenden Bedürfnis nach einem Miteinander von Menschen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Prägung auch in baulich-räumlicher Hinsicht gerecht werden“, wie der Pfarrer der Kirchengemeinde und Initiator des Projekts House of One, Gregor Hoberg, formuliert (Hohberg / Stolte 2015, 122). Archäologische Grabungen hatten den Petriplatz, der nach dem 1964 erfolgten Abriss der Petrikirche zum Parkplatz heruntergekommen war, als einen „Urort von Begegnung“ ins Bewusstsein treten lassen: Laut der urkundlichen Erwähnung einer bereits in den 1230er Jahren bestehenden Pfarrei nahm hier vor fast 800 Jahren „das Miteinander von Stadt und Religion“ (Stolte 2012) seinen Ausgang.

Inspiriert von dieser Entdeckung trat die 2014 aus einem Verein hervorgegangene Stiftung House of One mit der kühnen Vision eines mehrreligiösen Sakralbaus an die Öffentlichkeit, warb mit viel Engagement und Überzeugungskunst um Unterstützung und verlor trotz aller Hindernisse und Widerstände ihr Ziel nicht mehr aus den Augen. Die am Projekt und dessen Umsetzung geäußerte Kritik richtete sich gegen die Beteiligung des nur wenig repräsentativen, der Gülen-Bewegung nahestehenden Trägervereins Forum Dialog e. V., gegen die Annahme von Spenden aus der Hand umstrittener Sponsoren (z. B. der Qatar Foundation International) und gegen die Beschränkung des Projekts auf die drei „abrahamischen“ Religionen Judentum, Christentum und Islam. Doch hat diese Kritik, mag sie den Fortschritt des Projekts auch verzögert haben, seiner Umsetzung nicht mehr im Wege stehen können.

Der schlussendliche Erfolg des ambitionierten Vorhabens ist mehreren glücklichen Umständen zu verdanken. Über Jahre hinweg war zwischen den drei Religionsvertretern, dem Rabbiner Andreas Nachama, dem Pfarrer Gregor Hohberg und dem Imam Kadir Sancı, eine tiefe Verbindung gewachsen, die vom Erleben gemeinsamer Spiritualität getragen und vom Wunsch nach interreligiöser Gemeinschaft genährt wurde. Aus Gesprächspartnern wurden, wie Sancı formuliert, zunächst Kollegen und dann Freunde, ja mehr noch: „Seelenverwandte“. Ihr Versöhnungsprojekt zog einen wachsenden Kreis von interreligiös Engagierten in seinen Bann und ließ ein Netzwerk entstehen, das sich einer gemeinsamen, über die Grenzen Berlins hinaus wirkenden Mission verpflichtet fühlt: Die Bildungs-, Referenten- und Botschafterteams des House of One werben nicht nur lokal, regional und international für das Projekt und die damit verbundene Versöhnungsarbeit, sondern unterhalten auch kooperative Verbindungen zu ähnlichen Projekten in Zentralafrika, Georgien oder Israel.1

Des Weiteren hat die Stiftung die an das Projekt gerichtete Kritik konstruktiv aufgenommen. Beanstandet wurde vor allem, dass die Trägerinstitutionen – für das Judentum die jüdische Gemeinde Berlin und das Abraham-Geiger-Kolleg, für das Christentum die evangelische St. Petri-St. Marien-Gemeinde, für den Islam die Dialoginitiative Forum Dialog e. V. – in Anbetracht der komplexen multikonfessionellen Religionsformationen nicht ausreichend repräsentativ seien. Mittlerweile wurden prominente Vertreter der beteiligten Religionsgemeinschaften für das Kuratorium gewonnen: Mit Josef Schuster ist nun auch der Zentralrat der Juden, mit Christian Stäblein die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und mit Heiner Koch die römisch-katholische Kirche beteiligt. Auch die Bemühungen Sancıs, die muslimische Trägerschaft über die Gülen-Bewegung hinaus auszuweiten, haben Früchte getragen: Hamideh Mohagheghi, eine schiitische Islamwissenschaftlerin der Universität Paderborn, und Mouhanad Khorchide, der Leiter des Münsteraner Zentrums für Islamische Theologie, stehen als Kuratoriumsmitglieder für die breitere Unterstützung des Projekts von muslimischer Seite. Von dieser Unterstützung dürfte nicht unwesentlich abhängen, ob das House of One seiner ihm von der Presse zugedachten Rolle als „Friedenssymbol“ und „neues Wahrzeichen der Weltoffenheit und Toleranz“ gerecht werden kann.

Zu den Umständen, die das Projekt begünstigten, gehören auch handfeste Interessen der Bundes- und Landespolitik. Bereits 2011, im Jahr der Gründung des Vereins, hatte die Berliner Senatskanzlei den „Berliner Dialog der Religionen“ ins Leben gerufen und damit eine religionenübergreifende Zusammenarbeit vorangetrieben, die 2014 zur Gründung des Berliner Forums der Religionen (mit mittlerweile über 100 Religionsgemeinschaften) führte und damit eine senatsunabhängige Institutionalisierung fand. Auch die im selben Jahr im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eingerichtete Abteilung Werte, Religionen und Entwicklung und die 2016 vom Auswärtigen Amt initiierte Arbeitseinheit Friedensverantwortung der Religionen zeugen davon, wie sehr die Politik mittlerweile den Beitrag der Religionen zur Humanisierung der Gesellschaft zu fördern sucht. Religion ist Teil eines politischen Projekts geworden, das von den oft als desintegrierend wahrgenommenen Religionsgemeinschaften eine stärkere Entfaltung ihres integrierenden und friedensstiftenden Potenzials erwartet. Zwanzig Jahre nach 9/11 und zehn Jahre nach der Gründung des Vereins House of One hat die Religion und mit ihr der interreligiöse Dialog im gesellschafts- und integrationspolitischen Diskurs eine so exponierte Bedeutung gewonnen, dass sich Bund und Land zu einer eminenten finanziellen Unterstützung des Projekts bereitfanden: Sie haben die Übernahme eines großen Teils der auf 47 Millionen Euro veranschlagten Baukosten zugesagt.

Die Symbolik der Architektur und der Wettstreit im Guten

Unter der Federführung des Architekturbüros Kuehn Malvezzi wird nun bis 2024/25 auf dem Petriplatz eines der wohl innovativsten und ambitioniertesten Städtebauprojekte Europas umgesetzt werden. Gebaut wird, so der Stiftungsdirektor Roland Stolte, ein „Sakralgebäude des 21. Jahrhunderts oder etwas poetischer, unsere Vision, die Vision der drei Religionen vom gebauten Himmel inmitten von Berlin, zur Zierde und zum Wohl der Stadt“. Entstehen soll „ein Haus, das der Erhabenheit, Stille, Fremdheit und Schönheit einer anderen, uns unverfügbar transzendenten Wirklichkeit Raum gibt“, „ein Haus, in das alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion oder Weltanschauung, eingeladen sind, um dort Frieden und Versöhnung im Miteinander zu leben“ (Hohberg /Stolte 2015, 124f). Die Stiftungs-Charta des in der englischen Presse auch als „churmosqagogue“ beschriebenen House of One verweist auf die von Hans Küng verfasste Erklärung zum Weltethos und auf deren vierfache Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit, der Solidarität, des Respekts und der Gleichberechtigung. Die Charta spricht von einem „gemeinsamen Bestand von Grundwerten, die ‚mit Herz und Tat‘ gelebt werden wollen“, und von „übereinstimmenden grundsätzlichen Handlungsintentionen“ (House of One [Hg.] 2019). Dazu gehört ausdrücklich auch die Verpflichtung auf die Unentscheidbarkeit der religiösen Wahrheitsfrage: „Es gibt niemanden in diesem Haus, der sagt, dass er allein die Wahrheit kennt“ (Stolte 2017).

Die Zurückstellung der Wahrheitsfrage findet ihren architektonischen Ausdruck in dem die drei Sakralräume verbindenden Raum der „leeren Mitte, die jeder kreuzt, wenn er seiner Glaubenstradition nachgeht“, und „in die alle ihre Sehnsucht, ihre Fragen einbringen können, die offen bleiben muss und wandelbar“. Auf diese Weise ist sie „Ausdruck der Unverfügbarkeit Gottes ebenso wie der Unfertigkeit des Lebens und des Glaubens“ (Hohberg / Stolte 2015, 125).

Die so nachdrücklich herausgestellte Unverfügbarkeit der transzendenten Wirklichkeit erfährt zugleich signifikante Beschränkungen: zum einen bereits durch den Gottesbegriff, zum anderen durch den von Kuehn Malvezzi vorgelegten Bauplan, der eine „abrahamische“ Verwandtschaft der beteiligten Monotheismen nahelegt. Der gemeinsame Eingang und der die drei Gottesdiensträume krönende und überragende Turm lassen sich unschwer als Verweise auf eine die drei Religionen verbindende religiöse Wurzel dechiffrieren. Zudem empfängt der nahezu fensterlose Bau natürliches Licht fast ausschließlich von oben, vom offenen, über der „leeren Mitte“ des Begegnungsraumes thronenden Mittelturm als Symbol für das transzendente Licht als gemeinsamer Quelle der drei Religionen.

Ob sich in diesen Raum, der auch „für die Offenheit gegenüber den anderen Religionen, den Nichtgläubigen, der ganzen Gesellschaft“ stehen soll, wie Roland Stolte bei der Grundsteinlegung vermerkte, auch die Angehörigen der nichtabrahamischen (Bahai, Sikhs, Zoroastrier u. a.), nichtmonotheistischen (Hindus, Mahāyāna-Buddhisten, Shintoisten u. a.) oder überhaupt nichttheistischen Traditionen (Hīnayāna-Buddhisten, Daoisten u. a.) eingeladen fühlen, wird sich zeigen. Zweifelsohne wäre es auch möglich gewesen, auf dem Petriplatz ein Haus der Religionen (etwa in Orientierung an den bestehenden Mehrreligionenhäusern in Bern und Hannover), ein House of Faith oder, noch niederschwelliger, ein House of Ethos entstehen zu lassen. Angesichts der religiösen Vielfalt in Berlin hätte man immerhin noch die zwei großen asiatischen Traditionen des Hinduismus und des Buddhismus ins House of One aufnehmen können – warum sollte ein der unverfügbaren Transzendenz gewidmetes Haus nicht mehr als vier Räume haben? Die Integration der „Big Five“ hätte dem Willen der Stiftung, den Transzendenzbezug relativ offen zu halten, möglicherweise noch besser Ausdruck verliehen als die Beschränkung auf die sogenannten „abrahamischen Religionen“. Schließlich lässt sich das Transzendente nicht nur über den „einen Gott“, sondern auch über mehrere Götter oder ganz ohne Gottesvorstellung imaginieren.

Doch die Schlüsselidee des House of One, die es (bislang) weltweit einzigartig macht, ist eine andere: Die drei großen monotheistischen, aufgrund ihrer unterschiedlichen Auffassungen des „einen Gottes“ unmittelbar konkurrierenden und konfligierenden Traditionen des Judentums, des Christentums und des Islam errichten gemeinsam ein Gotteshaus und verpflichten sich damit auf eine gedeihliche Konvivenz. Mit seinen Ausführungen zur „Architektonik als grundlegendes Vehikel zur Förderung einer interreligiösen Vision“ machte der Architekt Johannes Kuehn2  bei der Grundsteinlegung auf die für alle Sozialbeziehungen wesentliche Dimension der Räumlichkeit aufmerksam: Sakralgebäude dienen als Gesellschaftsprodukte und Symbolorte immer auch dem Zweck, gewissen Vorstellungen über das Göttliche und die Gemeinschaft mit ihm eine materielle Präsenz zu verleihen. Die bei dem feierlichen Akt in die Grabungsschatulle gelegten Gegenstände sprechen für sich: Neben einem jüdischen Gebetsbuch, einer orthodoxen Ikone und einem Kreuz der weltweiten Friedensbewegung wurden auch „heilige Erde aus Medina“, der Stadt des Propheten, und ein Stück Tuch von der mekkanischen Kaʿba beigefügt.

In seinem Grußwort zur Grundsteinlegung unterstrich auch der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, den Gedanken der abrahamischen Religionsfamilie. Mit einem Verweis auf Lessing bezeichnete er das House of One als „gebaute Ringparabel“3 und schloss seine Gedanken mit einem Kommentar zu dem im christlich-muslimischen Dialog viel zitierten Vers 48 aus der Sure 5 des Koran: „Hätte Gott gewollt, hätte er euch zu einer Gemeinde gemacht; doch wollte er euch prüfen, deshalb wetteifert in den guten Dingen!“ Auch der Philosoph und populäre Buchautor Wilhelm Schmid beantwortete in seinem Festvortrag die Frage, „wie wir zusammenleben können“, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit von „sehr viel Toleranz“ sowie auf das toleranzfördernde Potenzial des Koran:

„Dass andere Menschen anders glauben, auch gar nicht glauben, dass Menschen unterschiedlich sind, findet im Koran eine unschlagbare Begründung, nämlich: ‚Allah hätte die Menschen ja anders schaffen können, wenn er sie anders haben wollte, das hat er nicht getan; er hat es nicht gewollt‘. Daraus resultierte die Toleranzlehre des Islam, eine Toleranzlehre, die ein goldenes Zeitalter im Mittelalter ermöglicht hat.“4

Praktische Humanität und sufische Einheitsmystik

Ursprünglich war die (coronabedingt auf den 27. Mai verschobene) Grundsteinlegung für den 14. April 2021 vorgesehen, den 238. Jahrestag der Erstaufführung von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ (1779). Mit dem House of One soll also Lessings in der Ringparabel dramatisch verdichtete Idee einer auf Gottergebenheit und tätiger Liebe gründenden Einheit der „abrahamischen“ Religionen städtebaulich symbolisiert werden. Die Parabel formuliert die Vision der Versöhnung verwandter Religionen auf einer die jeweiligen zeitgebundenen Religionsformationen und deren exklusive Geltungsansprüche transzendierenden Ebene praktischer Humanität: Um der „Tyrannei des Einen Rings“ zu wehren, wird zum Wettstreit der Religionen in Gottergebenheit und Ethos aufgerufen: Es gelte, der „unbestochnen / Von Vorurtheilen freyen Liebe“ nachzueifern und so

„Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmuth, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu Hülf!“5 

„Wahrheit“ objektiviert sich für Lessing, wie er an anderer Stelle präzisiert,6 als Praxis der Liebe: „Wahr“ ist Religion dort, wo geliebt wird.

Unter Bezugnahme auf Lessing sieht auch Kadir Sancı in der „Praxis der Liebe“ den grundlegenden Auftrag der drei Monotheismen: Ihm zufolge sind Judentum, Christentum und Islam nicht nur im Glauben an denselben Gott, sondern auch in einem auf die Würde des Menschen abhebenden „Humanismus“ vereint (Sancı 2021). Dessen Grundlagen wurden auf muslimischer Seite, so Sancı, insbesondere von den sufischen Gelehrten Ibn ʿArabī (gest. 1240), Rūmī (gest. 1273), Yunus Emre (gest. 1328), Said Nursi (gest. 1960) und Fethullah Gülen (geb. 1941) ausformuliert.

Vornehmlich Gülen, ein Schüler Nursis und Inspirator der Hizmet-Bewegung, preist in seiner Schrift „Zur globalen Kultur der Liebe und der Toleranz“ die Schöpfung als „Manifestation Seiner Liebe zu Seinen Geschöpfen“, den Islam als „aus dieser Liebe modelliert“ und die Liebe selbst als „Raison d‘etre (Existenzgrund) dieses Universums“ (Gülen 2006, 71). Die von Gülen und klassischen Sufi-Gelehrten vertretene Einheitsmystik lebt von einer die Zersplitterung des menschlichen Seins überwindenden transkulturellen Spiritualität, die sich in der Nachahmung göttlicher Eigenschaften wie Liebe und Barmherzigkeit dem sich im Kosmos widerspiegelnden Gott anzunähern sucht. Vor diesem Hintergrund konnten islamische Mystiker, wie es Ibn ʿArabī in einer viel zitierten Gedichtzeile zum Ausdruck bringt, in sich selbst allen Glaubensbekenntnissen Raum geben:

„Mein Herz ist zu jeder Form fähig geworden. Ich folge der Religion der Liebe: Der Weg, den immer die Kamele der Liebe nehmen, ist meine Religion und mein Glaube.“  (Ibn al-ʿArabī 1911, 67; übers. von R. B.)

Sein Zeitgenosse Rūmī zielt in eine ähnliche Richtung, wenn er zu seiner Version des südasiatischen Gleichnisses vom Elefanten und den Blinden bemerkt: „hielte doch jeder einer Kerze Licht, so gäbe es die Unterschiede nicht!“ (Schimmel [Hg.] 1997, 300f). In der Essenz ihrer spirituellen Erfahrungen konvergieren aus dieser Perspektive christliche Kontemplation, jüdische Kabbala und islamischer Sufismus in einer tieferen, den kontingenten Gestaltwerdungen des Glaubens vorausliegenden Einheit.

Von dieser mystischen Essenz zeigt sich auch die transkulturelle Bewegung des „Dienstes“ (hizmet) in ihrem Einsatz für Spiritualität, Bildung und Friedenskultivierung motiviert. Ihrem Inspirator Gülen zufolge sollen sich die jüdische, die christliche und die muslimische Welt, seit 14 Jahrhunderten ohnehin zutiefst miteinander verwoben, komplementär ergänzen: Spirituelle und weltliche Werte sollen in einer Versöhnung der Kulturen und einer Versöhnung von Spiritualität und moderner Naturwissenschaft zur Synthese finden und so eine harmonische, auch von den religiösen Werten des Islam mitgetragene Weltbürgerschaft ermöglichen. Die unablässige Betonung des Unpolitischen und Dialogischen in der Hizmet-Bewegung steht freilich nicht nur mit den politischen Implikationen ihrer Aktivitäten und mit ihrem immensen politischen Einfluss in Spannung, der mit dem Putschversuch in der Türkei 2016 sichtbar geworden ist. Sie kann auch nicht verdecken, dass die symbolische Autorität der traditionellen islamischen Idiome in der Bewegung unangetastet bleibt. Dem pragmatischen Interpretationsansatz Gülens zufolge haben sich die zur Gewährleistung der „essenziellen Elemente des Islam“ („Frieden, Gerechtigkeit und Stabilität“) notwendigen Regelungen des Islamischen Rechts, als „Produkte äußerer Umstände“ (Gülen 2006, 51), einfach den sich wandelnden Herausforderungen der Zeit anzupassen.

Von abstrakten Vernunftwahrheiten zu konkreten liturgischen Formen

Es ist jener auf das Universale und Verbindende ausgerichtete Fokus des spirituellen Engagements, der die Hizmet-Bewegung und mit ihr auch das am House of One beteiligte Forum Dialog e. V. mit dem Verfasser der Ringparabel verbindet. Ähnlich wie die Denkfigur der „abrahamischen Ökumene“ ist auch das von Lessing poetisch umgesetzte Aufklärungskonzept einer Vernunftreligion, die sich im Glauben an eine (göttliche) Transzendenz und in der Verpflichtung auf ein tugendhaftes Leben manifestiert, eine Setzung, die die Komplexität, Alterität, Fremdheit und Widerständigkeit konkreter religiöser Lebenswelten ausblendet. Wenig interessiert an den inhaltlichen Unterschieden zwischen den positiven, auf „zufälligen Geschichtswahrheiten“ (Lessing 1985, 34) basierenden Religionen und ohne größere Detailkenntnisse der nichtchristlichen Religionen postuliert Lessing einfach deren Einheit und Gleichrangigkeit in den „notwendigen Vernunftwahrheiten“ und im Ethos. Das dabei leitende Ideal ist eine durch Abstraktion von allem historisch Individuellen gewonnene Menschheitsreligion. Ebenso wie in der Hizmet-Bewegung mehrdeutig bleibt, was mit Licht und Liebe konkret gemeint ist, lässt Lessing außerdem ungeklärt, was die in der Ringparabel propagierten Haltungen der „Sanftmuth“, der „herzlichen Verträglichkeit“, des „Wohlthuns“ und der „innigsten Ergebenheit in Gott“, schließlich auch der Wettstreit in der „Liebe“ inhaltlich und alltagspraktisch bedeuten sollen.

Was die islamische Seite angeht, so sind die sufischen Referenzen, wenn sie von Frieden, Gerechtigkeit, Humanität und Liebe sprechen, nie so abstrakt geblieben wie Gülens Schriften zum interreligiösen Dialog. Weder Ibn ʿArabī noch Rūmī – und progressiver als diese beiden dachten in der islamischen Mystik nur wenige – haben in der von ihnen dichterisch verewigten „Religion der Liebe“ jemals das Primat des Islam und seines Propheten infrage gestellt. Muhammad, der „Gepriesene“, repräsentiert für beide Gelehrte die kosmische Sonne, um die andere Religionen wie Planeten kreisen und von der her sie auch ihr Licht, das „Licht des Gepriesenen“ (an-nūr al-muhammadī), empfangen:

„Unter den Religionen ist die offenbarte Religion Muhammads wie das Licht der Sonne unter den Lichtern der Sterne. Wenn die Sonne erscheint, werden die Lichter der Sterne in das Licht der Sonne eingeschlossen“ (übers. aus Chittick 1994, 125).

Das Bewusstsein dafür, dass sich mit dem die „leere Mitte“ des Begegnungsraumes erhellenden Licht durchaus unterschiedliche religiöse Imaginationen verbinden lassen, hat der anlässlich des Baubeginns gefeierte interreligiöse (Rundfunk-)Gottesdienst nur am Rande erkennen lassen: Das in multireligiösen Veranstaltungen grundsätzlich noch erkennbare Nebeneinander der Religionen wurde hier durch integrierende Reflexionen und Gebete explizit auf das überkonfessionell Gemeinsame hin transzendiert.

Dieses Gemeinsame suchte Andreas Nachama in einer Meditation zum Turmbau zu Babel (Genesis 11) ausdrücklich biblisch zu begründen: Weil Gott „in unterschiedlicher Weise angebetet werden“ wolle, müsse „jeder in seiner Tradition seinen Weg zu Gott finden“.7 Um diesem Gedanken Nachdruck zu verleihen, zitierte Nachama dann beim Festakt zur Grundsteinlegung die Weissagung des Propheten Joel zur Ausgießung des Geistes „über alles Fleisch“ (Joel 3,1).

Auch in den Betrachtungen von Gregor Hohberg dominierte der Verweis auf die überkonfessionell und interreligiös verbindende „Verständigungskraft des Heiligen Geistes“ sowie auf das gemeinsame „Gefühl, dass Gottes Geist uns verbindet“.

Kadir Sancı hingegen votierte in seinem Abschlussgebet gegenüber der Fluidität des Geistes und der Vielheit der Wege für etwas mehr Konkretion. Unter Berufung auf Abraham als den „Vater der monotheistischen und abrahamischen Tradition“ und auf dessen Bitte an Gott, ihn davor zu bewahren, „Gott Partner an die Seite zu stellen“ (Sure Ibrāhīm 14,35), wandte er sich an Gott als den „Herrn der unantastbaren Gebetsstätte (rabb al-masjid al-harām)“ in Mekka, um von ihm den Segen für das House of One zu erbitten. Warum Sancı für den Segen über ein allen offenstehendes Haus in Berlin den Umweg über eine Nichtmuslimen unzugängliche Gebetsstätte nehmen muss, bleibt sein Geheimnis. Für ein „Haus des Einen“, das Sancı als eine das „geschwisterliche Miteinander“ fördernde „Verkörperung der Konstruktivität des Glaubens und der Spiritualität“ beschrieb, hätte es einer solchen, mit spezifisch islamischen Idiomen aufgeladenen Wendung eigentlich nicht bedurft.

Die trialogisch-interreligiösen Begegnungen in dem wohl 2025 fertiggestellten Sakralbau werden aber genügend Raum dafür bieten, derlei Irritationen auszuräumen und der Vision vom „Himmel inmitten von Berlin“ etwas mehr Erdung zu verleihen.


Rüdiger Braun, 07.07.2021

 

Quellen

Chittick, William C. (1994): Imaginal Worlds. Ibn al-Arabi and the Problem of Religious Diversity, Albany.

Gülen, Fethullah (2006): Hin zu einer globalen Kultur der Liebe und der Toleranz, Offenbach / M.

Hohberg, Gregor / Stolte Roland (2015): „House of One“, in: Berliner Forum der Religionen (Hg.): Jeder nach seiner Façon. Vielfalt und Begegnung der Religionen in Berlin, Berlin, 122 – 125.

House of One (2019): Charta für ein Miteinander von Judentum, Christentum und Islam, https://house-of-one.org/de/downloads.

Ibn al-ʿArabī (1911): Tarjumān al-ašwāq [= Interpret der Sehnsüchte], London.

Lessing, Gotthold Ephraim (1968a): Das Testament Johannis, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart u. a. 1886 – 1924, Reprint: Berlin 1968, Bd. XIII.

Lessing, Gotthold Ephraim (1968b): Nathan der Weise, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart u. a. 1886 – 1924, Reprint: Berlin 1968, Bd. III.

Lessing, Gotthold Ephraim (1985): Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: ders.: Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart, 31 – 38.

Sancı, Kadir (2021): Das islamische Theologieverständnis der Musliminnen und Muslime im Forum Dialog, www.forumdialog.org/das-islamische-theologieverstaendnis-der-musliminnen-und-muslimen-im-forum-dialog.

Schimmel, Annemarie (1997): Die drei Versprechen des Sperlings. Die schönsten Tierlegenden der islamischen Welt, München.

Stolte, Roland (2012): Ein Gott, drei Räume, Interview mit dem Deutschlandradio Kultur am 19.9.2012, www.deutschlandfunkkultur.de/ein-gott-drei-raeume.954.de.html?dram:article_id=221579.

Stolte, Roland (2017): Weltfrieden aus Berlin, Interview mit Alexander S. Wolf, Außer Gewöhnlich Berlin, https://aussergewoehnlich-berlin.de/house-of-one.

 

Anmerkungen

1  Die internationale Vernetzung rüttelt (noch) nicht an der Singularität des House of One. Denn die von der Stiftung als Partnerprojekte begleiteten Vorhaben in Bangui, Tbilisi und Haifa sind architektonisch anders konstruiert; und das Abraham Family House im Emirat Abu Dhabi ist ein Park mit drei selbständigen Sakralbauten, aber kein gemeinsames Gotteshaus. Allerdings dürfte dieser Park, so zügig wie in den Emiraten gebaut wird, wohl eher fertiggestellt sein als das House of One.

Johannes Kuehn: Grußwort zur Grundsteinlegung am 27.5.2021, www.youtube.com/watch?v=XmAKiP0yn7g (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 7.7.2021).

3  Wolfgang Schäuble: Grußwort zur Grundsteinlegung am 27.5.2021, ebd.

4  Wilhelm Schmid: Religionen geben Antworten – aber was ist die Ausgangsfrage? Worum es dem House of One geht, Festvortrag zur Grundsteinlegung am 27.5.2021, www.youtube.com/watch?v=aGLq6HILNGM.

5  Lessing: Nathan der Weise, 3. Aufzug, Verse 515-538, in: Lessing 1968b, 94f.

6  Vgl. Lessings Auseinandersetzung mit einer von Hieronymus überlieferten, von ihm als „Testament Johannis“ bezeichneten Notiz – „Kinderchen, liebt euch!“ (filioli, diligite alterutrum) – in Lessing 1968a, 11 – 17.

7  House of One: Pfingstgottesdienst in multireligiöser Gastfreundschaft, www.youtube.com/watch?v=-nb43g6KsY8 (Abruf: 7.7.2021); beim Abruf am 15.6.2021 noch unter https://house-of-one.org/de/veranstaltung/pfingstsonntag-interreligioeser-rundfunkgottesdienst, also zunächst auch als „interreligiös“ bezeichnet.