Victoria Hegner

Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin

transcript Verlag, Bielefeld 2019, 330 Seiten, 34,99 Euro.

Victoria Hegner (geb. 1971) lehrt laut Klappentext „Kulturanthropologie an der Georg-August-Universität Göttingen und ist hauptamtlich Gleichstellungsbeauftragte der dortigen Philosophischen Fakultät“. Das vorliegende Buch dürfte ihrer Habilitationsschrift „Unsichtbar bleiben und sichtbar werden. Zum Verhältnis von Urbanität und neureligiöser Praxis am Beispiel des neuheidnischen Hexentums“ (2018) entsprungen sein. Die Monografie enthält zwischen der „Einleitung: Großstadthexen“ und dem letzten Abschnitt „Resümee und Ausblicke: Ethnografie, Religion und Urbanität“ insgesamt fünf inhaltliche Kapitel. Der gebotenen Kürze wegen kann hier keine ausführliche Inhaltszusammenfassung erfolgen, stattdessen ist der rote Faden des Aufbaus zu erläutern und an wenigen Stellen ins Detail zu gehen.

Die Verfasserin nähert sich dem Thema aus der Perspektive der europäischen Ethnologie. In der Einleitung lenkt sie den Blick zunächst auf die Stadt Berlin, denn „die Hexenreligion“ sei „eben ein Berlinisches Phänomen“ (9). Sodann wird das Verhältnis von Religion und Spiritualität problematisiert, wobei der Synkretismus-Begriff aufgrund seiner „Negativkonnotation“ (13) kritisiert wird; Hegner favorisiert mit Clifford Geertz ein Verständnis von Religion und Spiritualität als „System von Symbolen“ (14), mit Thomas Luckmann den Blick auf die „große Transzendenz“ (15) und mit Kocku von Stuckrad einen „diskursanalytischen“ (15) Zugang und will dabei einer emischen Perspektive gerecht werden (vgl. ebd.). Anschließend wird die (bisher übersichtliche) Literatur zum Thema gesichtet und präsentiert.

Als für sie wichtige Forschungsmethode wählt die Verfasserin „ein existentielles Erlebnis“ (28), welches bedeutet, „sich in ein Thema hineinzuleben und auf Zeit zu leben … es zu schmecken, zu riechen, zu sehen, zu hören und zu tasten“ (28). Wolle man die Erfahrungen der Hexen „verstehen und analytisch durchdringen“ (29), so müsse man sie „selbst – eben individuell – gemacht haben“ (29). Daher sei eine „forschende Perspektive … ohne die Übernahme bestimmter neuheidnischer Vorstellungen … kaum möglich“ (30). Weiter benennt Hegner auch ihre „feministische … Grundeinstellung“ (35).

Im ersten inhaltlichen (sehr lesenswerten) Kapitel führt sie als Metapher für die Hexenreligion das „Palimpsest“ (41) in Anlehnung an Gérard Genette ein. Damit soll deutlich werden, dass die heutige Hexenreligion auf ältere Traditionen westlicher Esoterik aufbaue, während sie zugleich etwas Neues sei (vgl. 42). Hierzu stellt die Autorin den „Occult Revival“ in Großbritannien im 19. Jahrhundert vor (vgl. 44ff), geht auf die aus Sicht der Hexenreligion selbst als „Wiederentdeckung“ des Hexentums durch Gerald Gardner bezeichneten Vorgänge ein (vgl. 60ff), wendet sich der feministischen Wendung der Hexenreligion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kalifornien u. a. durch „Starhawk“ zu (vgl. 76ff) und macht auf Einflüsse der feministisch-christlichen Theologie und des New Age auf die Hexenreligion aufmerksam (vgl. 85ff).

Im zweiten Kapitel geht es um die Hexenreligion in Berlin, d. h. um ein Stück Religionsgeschichte einer Stadt, die als „spirituelles Mekka“ (97) galt und gilt. Hier sind aus Sicht kirchlicher Weltanschauungsarbeit besonders die Passagen interessant, in denen die Verfasserin aus Interviews mit Geza von Nemenyi zitiert, der auf „die Idee der exakten historischen Rekonstruktion“ (99) des „(Neu-)Heidentum[s]“ (99) gesetzt habe und 1985 die in der öffentlichen Wahrnehmung umstrittene „Heidnische Gemeinschaft“ als Verein gründete, welche wiederum auch von Verantwortlichen der kirchlichen Weltanschauungsarbeit dieser Zeit (v. a. Thomas Gandow) kommentiert wurde. Daneben bildet die Darstellung der jüngeren und jüngsten Geschichte des politischen und spirituellen Feminismus in Berlin, u. a. geprägt vom Motto „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis“ (113), einen weiteren Schwerpunkt des Kapitels (vgl. 111ff). Außerdem werden in diesem Kapitel Einblicke in verschiedene Hexen-Gruppierungen und ihre Selbstverständnisse in Berlin gewährt.

Die Kapitel 3 bis 5 orientieren sich am Prinzip des fortschreitenden Öffentlichwerdens der Hexen, d. h. es wird zunächst in Kapitel 3 auf sehr private Phänomene der Hexenreligion eingegangen (so werden etwa Hexenwohnungen analysiert und Fotos davon gezeigt, vgl. 143ff), dann in Kapitel 4 auf liminale Phänomene der Hexenreligion zwischen öffentlicher Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (etwa auf Rituale, die zwar in der Öffentlichkeit stattfinden, aber bei Nacht, vgl. 175ff.) und schließlich in Kapitel 5 auf Tendenzen, die eigene Hexenreligion öffentlich zu präsentieren (etwa beim Tanz der Hexen zu Walpurgis auf dem Teufelsberg bei Berlin, vgl. 234ff). Dabei wird von Hexen auch das Problem der völkisch- und ariosophisch-ideologischen Belastung der von ihnen verwendeten Runen thematisiert und reflektiert (vgl. z. B. 238f). In dem Kapitel dient u. a. das „Bourdieu‘sche Spiel“ als kulturwissenschaftlicher Frame der Analyse (vgl. 248).

Insgesamt hat die Autorin mit „Hexen der Großstadt“ ein lesenswertes, informatives und reflektiertes Werk vorgelegt, das gerade Lesern (i. e. Männern) einen Blick in eine weltanschauliche Szene ermöglicht, der ihnen sonst nicht in dieser Weise möglich wäre.

Zugleich sollen zwei kritische Aspekte benannt werden: (1.) Hegner nimmt sich, wie dargestellt, eingangs vor, gerade auch sensorische und leibbezogene Dimensionen ihres Forschungsfeldes zu untersuchen; aber bis auf Hinweise etwa auf Düfte, Speisen oder den Gebrauch von Stoffen in der Hexenreligion bleibt ihre Darstellung hinter dem von ihr bei mir geweckten Erwartungshorizont zurück. Nur sporadisch reflektiert sie etwa Bedeutung und Relevanz von Sensorik und Leibgeschehen tiefgehender im Blick auf ihre eigene Person bzw. im Blick auf ihre Forschung oder die Hexenreligion. Hier wäre die Adaption etwa sportsoziologischer Konzeptionen (vgl. Karl-Heinrich Bette oder Robert Gugutzer) u. U. weiterführend gewesen.

(2.) Im Blick auf die Hexenreligion selbst respektiere ich als Befürworter der positiven und negativen Religionsfreiheit die religiös-spirituelle Souveränität derer, die sich als Hexen verstehen. Dabei gilt: Wer mit seinen Glaubensvorstellungen und -praktiken im öffentlichen Raum sichtbar wird, muss sich auch auf inhaltlich-kritische Anfragen einlassen. Ganz konkret habe ich bei einigen der von Hegner beschriebenen Praktiken und Rituale v. a. seelsorgerische Bedenken. Ein Beispiel: In Kapitel 4 beschreibt die Verfasserin ihre Teilnahme an einem für drei Tage geplanten Ritual für die Gottheit Loki in einer Privatwohnung (vgl. 211ff), wobei die Leiterin „ein geradezu religionswissenschaftliches Schauspiel“ (211) dazu entfaltet habe. „Im Laufe der Rituale wurde die Legende Lokis in wechselnden Performanzformen umgesetzt“ (212). So habe die Gruppe etwa „Loki-Skulpturen“ (212) geformt, welche „miteinander interagieren“ (212) konnten, wie man es „aus der Psychologie“ (212) und „aus der Schauspiel- und Theaterkunst“ (212) kenne. „Lokis Legende und zugeschriebener Charakter konnten gleichsam körperlich erfahren werden“ (213). „Loki“, so schreibt Hegner, „nahm … für die Dauer der Rituale für die Hexen Gestalt an … Im Ritual spürte ich deutlich Loki“ (214). Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Loki um eine sehr ambivalente Gottheit mit deutlich ausgeprägter Schattenseite handelt, muss bei einer derart intensiven rituellen Beschäftigung mit dieser Figur damit gerechnet werden, dass psychisch labile Teilnehmende dadurch destabilisiert werden können. Die Verfasserin klärt in ihrer Darstellung auch nicht, ob eine der anwesenden Personen in der Lage gewesen wäre, in einem akuten Fall professionell zu intervenieren. Aus seelsorgerischer Sicht ist dieses Ritual-Setup nicht unproblematisch.

Zusammenfassend bin ich der Verfasserin dankbar für die intensive Erforschung und kulturwissenschaftlich reflektierte Darstellung dieses auch für die kirchliche Weltanschauungsarbeit spannenden Gebietes zeitgenössischer spiritueller und religiöser Praxis. Es ist zu begrüßen, wenn sich Hexen in Zukunft stärker auch auf inhaltliche Diskurse einlassen.


Haringke Fugmann, Bayreuth, 10.10.2020