Glauben in der Hafenmetropole – Religiöse Pluralität im urbanen Raum
Ein Bericht zur EZW-Exkursion nach Hamburg 2023
Welchen Stellenwert haben Religion und Spiritualität in einer pluralistischen und hochindividualisierten deutschen Großstadt? Welche Formen von spiritueller Praxis können wir jenseits von festen Gemeinschaften finden? Und wie können unterschiedliche Denominationen und Religionen in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft gemeinsam agieren? Diesen Leitfragen widmete sich die EZW-Exkursion 2023, die im September dreißig evangelische Weltanschauungsbeauftragte nach Hamburg führte.
Religiöse Pluralität in der Hafenmetropole Hamburg
Einen ersten Einblick in die spezifischen Themen, mit denen sich die evangelische Kirche in einer Großstadt und insbesondere im Raum Hamburg beschäftigt, gab gleich zu Beginn die Pastorin Nicole Thiel in ihrem Grußwort. Als Leiterin des Hauptbereiches Gottesdienst und Gemeinde in der Nordkirche betonte sie die Eigenheiten des urbanen Ballungsraumes Hamburgs im Vergleich zu seinem ländlichen Umland in Schleswig-Holstein. Dieses besondere gesellschaftliche und religiöse Profil der Hafenmetropole wurde im folgenden Einführungsvortrag des Hamburger Juniorprofessors Felix Roleder eingehend in den Blick genommen. Interessant waren zunächst die Konfessionsstatistiken, die seit über vierzig Jahren von einer kontinuierlich abnehmenden Mitgliederzahl in der evangelischen Landeskirche zeugen, während die Zahl der Konfessionslosen stark ansteigt. Die sich damit scheinbar abzeichnende Säkularisierung ist allerdings differenziert zu betrachten: Individuelle Transzendenzvorstellungen sind in der Bevölkerung weiterhin verbreitet, zahlenmäßig durch alle Altersgruppen auf einem vergleichsweise stabilen Niveau. Diese Transzendenzbezüge werden jedoch immer seltener mit institutionalisierten Religionsformen in Verbindung gebracht. Religiosität verschwindet demnach nicht, sondern wird immer stärker in deinstitutionalisierter Weise gelebt. Die christlichen Kirchen stehen daher vor der herausfordernden Frage, wie sie in einer Gesellschaft weiterhin religionsfähig bleiben können, die ihnen mit einer kritisch-distanzierten Haltung begegnet. Neben der Deinstitutionalisierung spielt in Hamburg auch die Pluralisierung der religiösen Landschaft eine wichtige Rolle. Auf dieses Phänomen machte ein historischer Überblick über die Religionsgeschichte der Hansestadt aufmerksam. Schon früh bildete sich hier ein spezifisches religiöses Profil heraus, das sich bis heute in einer starken protestantischen Prägung bei gleichzeitiger konfessioneller und religiöser Pluralität zeigt. Beide Aspekte lassen sich auch an der Entwicklung des Hamburger Modells zum Religionsunterricht ablesen, das als „Religionsunterricht für alle“ bezeichnet wird: Dieses in Deutschland einzigartige Konzept sieht einen gemeinsamen, konfessions- und religionsübergreifenden, dabei aber bekenntnisorientierten Religionsunterricht vor, der in Hamburg seit den 1990er Jahren zunächst von der evangelischen Kirche angeboten wurde. Nach einer längeren Transformationsphase wird er seit 2022 in gemeinsamer Verantwortung von verschiedenen Religionsgemeinschaften getragen. Der konfessionelle Schwerpunkt dieses Unterrichts, der nicht rein religionskundlich konzipiert ist, orientiert sich dabei an der Zusammensetzung der Schülerschaft der jeweiligen Schule. Zugleich bezieht der „Religionsunterricht für alle“ die religiöse und konfessionelle Identität der Lehrperson mit ein. Die sich dabei ergebenden Fragen, wie eine Lehrkraft eine ihr fremde Religion glaubhaft bekenntnisorientiert unterrichten oder wie eine vergleichbare Ausbildung von Religionslehrkräften in unterschiedlichen Religionen praktisch umgesetzt werden könne, wurden im Plenum der Exkursion angeregt diskutiert. So vermittelte bereits der Einstiegsblock einen spannenden Einblick in die religiös-plurale Landschaft der Hafenstadt Hamburg und bereitete thematisch den Weg für die weiteren vielseitigen Gespräche und Begegnungen.
Zwischen kultureller Identität und Offenheit: Der African Christian Council
Für die erste Begegnung waren zwei Pastoren aus afrikanischen Gemeinden zu Gast: Prince Ossai Okeke, Vorsitzender des African Christian Council Hamburg (ACCH) und Referent für Internationale Gemeinden im Internationalen Kirchenkonvent auf dem Gebiet der Nordkirche (ICCN), und Peter Sorie Mansaray, Leiter des Afrikanischen Zentrums Borgfelde. Pastor Sorie Mansaray berichtete zunächst über die Arbeit und Ideen des Afrikanischen Zentrums Borgfelde. Es wird von den Gemeinden der African Christian Church sowie St. Georg-Borgfelde gemeinsam geführt, um afrikanische und deutsche Kirchengemeinden zu vernetzen und den kulturellen Austausch zu fördern. Sorie Mansaray erzählte von gemeinsamen Programmen wie beispielsweise regelmäßigen Gospel-Gottesdiensten in St. Georg-Borgfelde, aber auch von Kompromissen, die bei der Bewahrung eigener kultureller Identität nötig seien, wenn die angebotenen Formate sowohl afrikanische als auch deutsche Gemeindemitglieder ansprechen sollten. Er bedauerte, dass bei allen Bemühungen, sich aufeinander einzulassen, gerade aus der deutschen Gemeinde vergleichsweise wenige Menschen Interesse an den gemeinsamen Gottesdiensten zeigten. Zugleich betonte er sein Anliegen, dass afrikanische Gemeinden nicht nur als „unterhaltende Gospel-Chöre“ betrachtet, sondern als ganze Kirchengemeinden auf Augenhöhe in den Austausch einbezogen werden. Anschließend berichtete Pastor Ossai Okeke von der Arbeit des ACCH, der sich als Dachverband um die Förderung und Vernetzung von über sechzig afrikanischen Kirchengemeinden in Hamburg bemüht. Weiter gab er einen Einblick in die Arbeit des ICCN, der ein Netzwerk für den Austausch zwischen weiteren internationalen und deutschen Gemeinden bildet. Im ICCN sind in erster Linie afrikanische und südostasiatische Gemeinden vertreten und der Kontakt zu Gemeinden aus anderen Teilen der Welt befindet sich noch im Aufbau. Dennoch scheint es dem ICCN zu gelingen, eine Pluralität von theologischen Richtungen und kulturellen Prägungen produktiv miteinander zu verbinden.
Interreligiöser Dialog in der Praxis: Die Ahmadiyya-Moschee Fazl-e-Omar
Nach einem kurzen Abendessen wurde das Programm in zwei Gruppen fortgesetzt. Eine Gruppe besuchte die Ahmadiyya-Moschee Fazl-e-Omar, die andere Gruppe traf sich in der Al-Nour-Moschee mit dem dortigen Imam. Die Berichtende selbst schloss sich der ersten Gruppe an. Bei unserer Ankunft in der Ahmadiyya-Moschee wurden wir von drei Imamen, dem Beauftragten der Gemeinde für den interreligiösen Dialog und einigen ausschließlich männlichen Gemeindemitgliedern herzlich willkommen geheißen. Die vier Vertreter gaben zunächst eine kurze Einführung in die Geschichte des Ahmadiyya-Islams, in die Entwicklung ihrer Gemeinde und die Zusammenhänge der Errichtung der Hamburger Moschee. Der thematische Schwerpunkt des Gesprächs verlagerte sich jedoch schnell auf eine theologische Auseinandersetzung über den Ahmadiyya-Islam und seine Differenzen zum herkömmlichen Islam. Auch unterschiedliche Auffassungen über das Christentum wie beispielsweise eine andere Deutung der Kreuzigung Jesu blieben nicht unerwähnt. In der anschließenden Diskussionsrunde richtete sich der Austausch darüber hinaus auf die Bedeutung des Kalifen oder das Schriftverständnis der Ahmadiyya. Eher auf die strukturelle Organisation der Ahmadiyya bezogen sich Fragen nach dem interreligiösen Dialog, der Leitungsstruktur und der Ausbildung der Imame. Zur Sprache kamen aber auch die Standpunkte der Ahmadiyya in gesellschaftlichen und ethischen Debatten wie beispielsweise bei der interreligiösen Ehe, der Stellung von Frauen und dem Verhältnis von Religion und Politik. Insgesamt zeigte sich hier das Bild einer zwar jungen, aber durchaus wertekonservativen Religionsgemeinschaft. Ein wichtiges Anliegen der Ahmadiyya-Vertreter bestand darin, ihre politische Unabhängigkeit von anderen Ländern zu betonen und die Loyalität der Gemeinde zum jeweiligen Gastland, in diesem Falle also zu Deutschland hervorzuheben. Im Anschluss an das Gespräch wurden die Teilnehmenden an der Exkursion mit Tee und Snacks bewirtet und dazu eingeladen, dem anschließenden Abendgebet beizuwohnen.
Gelebte Pluralität: Das Interreligiöse Forum Hamburg
Für die erste Begegnung am Dienstag war die Bischöfin der Nordkirche und stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, zu Gast. Als amtierende Vorsitzende des Interreligiösen Forums Hamburg erzählte sie von ihrer Arbeit und den aktuellen Aufgaben und Zielen des interreligiösen Dialogs in der Stadt. In der interreligiösen Zusammenarbeit hätten zumeist gesellschaftliche Debatten beispielsweise um Antisemitismus und Rassismus eine größere Bedeutung als theologische Fragen. Besonders herausfordernd seien in der Forumsarbeit die unterschiedlichen Strukturen der einzelnen Religionsgemeinschaften und die daraus resultierende Frage, wer mit welcher Autorität für seine Gruppe sprechen kann. Fehrs hob jedoch zugleich die persönlichen Freundschaften zwischen den einzelnen Religionsvertreter:innen hervor, die mit der Zusammenarbeit gewachsen sind. Im Kontext des interreligiösen Dialogs sei es grundsätzlich wichtig, sich von einer Einmischung in die internen Angelegenheiten der anderen Religionsgemeinschaften fernzuhalten, Konflikte offen und friedlich auszutragen, nicht im Streit auseinanderzugehen und im Alltag füreinander einzustehen.
Magisches Sortiment: Der Hexenladen „Practical Magic“
Nach der Mittagspause wurde das Programm erneut in einzelnen Gruppen fortgeführt. Eine Gruppe besuchte die Esoterikbuchhandlung „Wrage“, eine Gruppe die Heilsarmee in Hamburg und eine weitere, der sich die Berichterstatterin anschloss, den Hexenladen „Practical Magic“.
Nach der Ankunft und einer persönlichen Begrüßung und Vorstellung der Inhaberin, die sich selbst als Hexe bezeichnet, konnte sich die Gruppe zunächst im Laden umsehen. Der Verkaufsraum wirkte anders als von vielen erwartet hell und minimalistisch: Zubehör für Rituale, Kerzen und Räucherwerk wurden neben einer großen Auswahl an farblich geordneten Heilsteinen präsentiert. Auf Nachfrage erklärte die Inhaberin ausführlich und auf persönliche Weise ihre Produkte und die dahinterstehenden Ideen und Gedanken. Auch die helle und schlichte Einrichtung des Ladens beschrieb sie als Teil ihrer persönlichen Einstellung. Im Gespräch berichtete die Inhaberin von ihren persönlichen Vorstellungen von Magie und erläuterte die Aufteilung des Ladens in eine Sektion für Heilsteine und eine zweite Sektion für Ritualmagie. Beide Bereiche hätten weitgehend unterschiedliche Kundenprofile. Ihren sehr psychologischen Zugang zur Magie und Hexerei beschrieb sie als stark von der eigenen Biographie geprägt. Ihr liege vor allem der individuelle Zugang zu einer persönlichen Form von Magie am Herzen. Aus diesem Grund würde sie weder einem Hexenverband beitreten noch Kurse oder Seminare zum Thema anbieten. Stattdessen solle sich jede Person selbst und nach eigenem Ermessen mit Magie auseinandersetzen. Wichtig sei ihr zudem die Qualität ihrer Produkte: Sie stelle die ritualmagischen Gegenstände wie Kerzen und Duftartikel zumeist selbst her und achte auf eine transparente und faire Herkunft aller Bestandteile. Ob sich ihre Kund:innen selbst mit Magie auskennen oder die Steine und Kerzen lediglich als Dekorations- oder Gebrauchsartikel kaufen, sei für sie von sekundärer Bedeutung.
Das freichristliche Netzwerk „Gemeinsam für Hamburg“
Zur Vorstellung des freikirchlichen Netzwerkes „Gemeinsam für Hamburg“, das 2004 von der Evangelischen Allianz Hamburg gegründet wurde, waren als Gesprächsgäste die Pfarrer Mathias Wolf aus der pfingstlichen Elim-Kirche und Detlef Piper aus einer Freien evangelischen Gemeinde Hamburgs eingeladen. Das Netzwerk zielt in erster Linie auf das Zusammenwirken zwischen überwiegend freikirchlichen Gemeinden und Initiativen, auf die Förderung junger Gemeinden und Projekte sowie auf die missionarische Arbeit: Der eigene Glaube soll auch Nichtchristen und Nichtreligiöse in der Hafenstadt erreichen. An die Vorstellung von „Gemeinsam für Hamburg“ schloss sich eine intensive Diskussionsrunde an. Kontrovers besprochen wurden dabei Fragen nach dem Umgang der Freikirchen mit unterschiedlichen, teils auch schwierigen theologischen Profilen im Netzwerk sowie nach der gesellschaftlichen Position und den politischen Beziehungen zur Stadt Hamburg. Aus dem Plenum wurde insbesondere die Aussage kritisiert, dass „Gemeinsam für Hamburg“ für ein Gespräch mit allen politischen Parteien offen sei, also auch mit der AfD.
Nichtreligiös in Hamburg: Das Säkulare Forum
Einen Kontrastpunkt zum Gespräch mit den Evangelikalen bildete die abschließende Begegnung mit dem Vorsitzenden des Säkularen Forums Hamburg, Christian Lührs. Dieser berichtete über die Organisation, die Ziele und die Arbeit des Forums und thematisierte den „Religionsunterricht für alle“ verbunden mit dem Appell, in der Schule auch auf nichtreligiöse Kinder Rücksicht zu nehmen. Die konkreten Absichten des Säkularen Forums, das sich als Vernetzungs- und Austauschplattform versteht, blieben dabei etwas vage und motivierten zu einer angeregten Diskussion rund um die Themen Religionsunterricht, religiöse und säkulare Identitäten sowie über die Rolle des Forums in einer ohnehin schon weitgehend säkularisierten Gesellschaft.
Die vielfältigen Begegnungen und Besuche im Rahmen der EZW-Exkursion und die unterschiedlichen Perspektiven auf die religiöse und weltanschauliche Pluralität der Großstadt Hamburg haben sehr anschaulich deutlich werden lassen, so das Fazit der Berichterstatterin, dass Religion und Spiritualität trotz einer zunehmenden Säkularisierung ihre Bedeutung nicht verlieren. Inspirierend war dabei zu sehen, dass religiöse Pluralität im urbanen Raum kein bloßes Nebeneinander unterschiedlicher Gruppen und Einzelpersonen mit je spezifischen religiösen Prägungen bedeutet, sondern zugleich auf vielen Ebenen ein aktives Miteinander impliziert – sei es durch internationale Gemeindeprojekte, Netzwerkverbände, die gemeinsame Gestaltung des „Religionsunterrichts für alle“ oder durch den interreligiösen Dialog.