Ulrich Kutschera

Germany, in: Stefaan Blancke u. a. (Hg.), Creationism in Europe

Ulrich Kutschera, Germany, in: Stefaan Blancke/Hans Henrik Hjermitslev/Peter C. Kjærgaard (Hg.), Creationism in Europe, Johns Hopkins University Press, Baltimore 2014, 35,96 USD (Chapter 6, 105-124).

In dem breit angelegten Sammelband zum Thema „Kreationismus in Europa“ (einschließlich der Türkei) verfasste der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera von der Universität Kassel das Kapitel zum Kreationismus in Deutschland.

Kutschera gehört zum Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung und verortet sich insoweit weltanschaulich aufseiten des „neuen Atheismus“. Seine Darstellung der deutschen Kreationismus-Szene ist jedoch keineswegs von Vorurteilen getrübt (bis auf zwei Seiten, s. u.), sondern weitgehend informativ und inhaltlich zutreffend. Ein Punkt ist allerdings ergänzungsbedürftig: „In Deutschland ist der Kreationismus vorwiegend in der evangelikalen Bewegung zuhause.“ Das trifft zu, was öffentliche Aktivitäten einschließlich des Schulwesens angeht. Es ist aber wahrscheinlich nicht richtig, Umfrage-Ergebnisse so zu interpretieren. Wenn „mehr als 70 % der Deutschen antworteten, die Evolution sei wahrscheinlich richtig, während etwas mehr als 20 % meinten, dass sie eindeutig falsch sei“, gehören zu den 20 % Evolutionskritikern viele, vielleicht eine Mehrheit, aus dem konservativen Katholizismus und Minderheiten von Muslimen und Esoterikern. Das belegt u. a. der unmittelbar folgende Beitrag über den nahezu ausschließlich rechtskatholisch motivierten Kreationismus in Polen. „Dennoch ist eine der am besten organisierten, lautstärksten und aktivsten kreationistischen Gruppierungen Europas in Deutschland zuhause“ (alle Zitate S. 105). Damit meint der Autor die Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“, mit der er sich schwerpunktmäßig befasst. Er schildert die Geschichte ihrer wichtigsten Publikation, des Lehrbuchs von Reinhard Junker und Siegfried Scherer (1986 bis 2006). Dieses Buch hieß zuerst „Entstehung und Geschichte der Lebewesen“ und vertrat mehr oder weniger deutlich einen Kurzzeit-Kreationismus (scientific creationism). Davon entfernte es sich von Auflage zu Auflage, bis es heute unter dem Titel „Evolution – ein kritisches Lehrbuch“ eher die Theorie des „intelligenten Designs“ favorisiert. Weiterhin befasst sich Kutschera ausführlich mit einer Besonderheit von „Wort und Wissen“, der Theorie geschaffener „Grundtypen“ von Lebewesen (basic types of life). In diesen Passagen können auch Experten noch einige unbekannte Details entdecken.

In seiner interessanten Zusammenfassung der Geschichte des Kreationismus stellt der Autor alle wichtigen Akteure vor, Arthur E. Wilder-Smith, Joachim Steven, Horst W. Beck, Alexander vom Stein, Werner Gitt und andere. Er stellt vermutlich zutreffend fest, dass in über 100 evangelikalen Bekenntnisschulen mit dem Lehrbuch von Junker und Scherer gearbeitet wird und dass dort in mehr oder weniger deutlicher Form ein protestantisch-fundamentalistisches Bibelverständnis einschließlich Evolutionskritik unterrichtet wird. Den Verband Evangelischer Bekenntnisschulen (VEB) erwähnt er nicht. Er hätte ergänzen können, dass dieser Verband den Kreationismus unterstützt.

Leider verliert Kutschera am Schluss seines Beitrags, in dem es schwerpunktmäßig um die religiöse Erziehung in Schulen geht, seine Sachlichkeit. Christlichen Naturwissenschaftlern, die kein Problem mit der Biologie haben, wie der Rezensent, unterstellt er soft creationism, und das biblische Schöpfungszeugnis nennt er eine „kreationistische Geschichte“. Damit weicht er mit polemischer Absicht vom durchgängigen Gebrauch dieses Begriffs ab, denn in dem Sammelband bezeichnet Kreationismus eine „Evolutionskritik auf religiöser Grundlage“. Seine These ist, dass der Kreationismus in Deutschland dadurch gefördert wird, dass der konfessionelle Religionsunterricht die Schulkinder in einem frühen Stadium mit dem Schöpfungsglauben bekannt macht, während die naturwissenschaftliche Geschichte erst viel später unterrichtet wird. Allerdings setzt diese These voraus, dass es sich dabei um weltanschauliche Alternativen handelt, was Kutschera annimmt, was den Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht aber gerade nicht gesagt wird. Sie lernen, dass sich Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube aus christlicher Sicht verbinden lassen. Kinder aus Freikirchen und unabhängigen Gemeinden besuchen – was Kutschera vermutlich nicht weiß – jedoch oft nicht den konfessionellen Religionsunterricht, unter anderem wegen dessen Zustimmung zur Evolution. Man könnte also auch die gegenteilige These vertreten, dass es der konfessionelle Religionsunterricht ist, der dem Kreationismus in Deutschland Einfluss nimmt. In Wirklichkeit sind beide Thesen zu krude. Der vorhandene, aber geringe Einfluss religiöser Fundamentalismen in Deutschland und Europa hat vielfältige Wurzeln. Jedenfalls sollte man sich von den polemischen Ausrutschern in dem (englischsprachigen) Artikel nicht davon abhalten lassen, die guten Informationen aufzunehmen.


Hansjörg Hemminger, Stuttgart