Kai Funkschmidt

Gegen den "politischen Islam". Der französische Islamrat legt Grundsatzcharta vor

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Der französische Islamrat (Conseil français du culte musulman, CFCM), eine Dachorganisation von neun muslimischen Verbänden, hat am 18. Januar 2021 auf Verlangen Präsident Macrons den Entwurf einer „Grundsatzcharta für den Islam von Frankreich“ (Charte des principes pour l’Islam de France) vorgelegt. Außerdem wurden Gründungsdokumente für einen geplanten „Nationalen Imamrat“ (Conseil national des Imams, CNI) präsentiert. Präsident und Innenminister hätten, berichtet der CFCM, „diesen entscheidenden Schritt zur Neuordnung des Islam in Frankreich“ sehr begrüßt.1

Die Charta ist ein direktes Ergebnis eines immer robusteren Vorgehens der Regierung gegen die zweitgrößte Religion des Landes, deren Anhänger und Organisationen sich seit Jahrzehnten zu großen Teilen von Staat und Gesellschaft entfremdet oder gar losgesagt haben. Am 18. November 2020 hatten Macron und Innenminister Gérald Darmanin alle Mitgliedsverbände des CFCM in den Elysée-Palast eingeladen und von ihnen verlangt, ein offizielles Bekenntnis zur französischen Republik zu entwerfen. Außerdem sollte man die Gründung eines Imamrats einleiten. Macron sagte bei der Gelegenheit zwar: „Ich vertraue Ihnen und mein Vertrauen verpflichtet Sie.“ Doch war der Forderungscharakter der Veranstaltung unmissverständlich. Er reagierte damit auf die Ermordung des Lehrers Samuel Paty in der Nähe von Paris und dreier Christen in einer Kirche in Nizza durch muslimische Täter. Die Taten im Oktober 2020 hatten das Land erschüttert. Die Anschläge waren mitten in Macrons Offensive gegen „Islamischen Separatismus“ gefallen (vgl. ZRW 1/2021, 5 – 22).

Für Frauenrechte und Konversionsfreiheit – gegen den „politischen Islam“

Das kurze Dokument (2500 Wörter) mit seinen zehn Artikeln wird teils schon als „Republikanisches Glaubensbekenntnis“ bezeichnet (profession de foi républicaine, Le Monde). Seine Entstehung wurde laut CFCM vom Präsidenten „eng begleitet“. Die Artikel 3 bis 5 sind symbolträchtig mit Liberté, Égalité und Fraternité betitelt (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Die Charta betont, dass die islamischen Werte mit den französischen Rechtsgrundsätzen „vollkommen vereinbar“ seien. Die Unterzeichner verpflichten sich, einen „Verzicht“ auf den Islam nicht zu kriminalisieren und ihn nicht als „Apostasie“ (ridda) zu bezeichnen. Jeder Bürger sei frei zu glauben oder nicht zu glauben und seine Religion zu wechseln. Die Gleichheit von Männern und Frauen sei ein Grundprinzip und auch im Koran verankert (Sure 4,1), anderslautende kulturelle Praktiken unter Muslimen kämen nicht aus dem Islam. Theologische Streitigkeiten sollten künftig nicht mehr durch die „Ideologie des takfir [Exkommunikation]“ geregelt werden, die oft „die Vorstufe zur Rechtfertigung des Mordes“ sei. Jedwede Form des „politischen Islam“ lehne man ab. Es gebe keine religiösen Gründe, welche die Nichtbefolgung staatlicher Gesetze rechtfertigen.

Über alle zehn Artikel verteilt steht als Cantus firmus die Ablehnung ausländischer Einmischung, Steuerung und Finanzierung des französischen Islam. Auch der geplante Imamrat, bei dem Imame registriert und lizenziert werden sollen – das Projekt steht seit 20 Jahren auf der staatlichen Agenda – dient explizit dem Ziel, dem Import ausländischer Imame einen Riegel vorzuschieben.

An mehreren Stellen behandelt das Dokument Themen, für die Macron schon vorher Maßnahmen und ein Gesetzespaket in die Wege geleitet hatte: Binnen vier Jahren möchte er die mehreren hundert aus Algerien, Marokko und der Türkei entsandten Imame heimschicken. Spenden von über 10000 Euro werden meldepflichtig (momentan fließen Millionen aus der Türkei und der arabischen Welt an Moscheen in Frankreich). Ärzten, die Jungfräulichkeitsatteste ausstellen, droht nun Gefängnis. Künftig sollen neben Staatsbeamten auch private Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes aufgrund des Neutralitätsgebots keine religiösen Zeichen wie etwa ein Kopftuch tragen oder sektiererische Überzeugungen vertreten dürfen. Davon betroffen sind rund 100000 Arbeitnehmer. Auch Praktiken wie spezielle Öffnungszeiten für Muslime in öffentlichen Schwimmbädern sollen untersagt werden (in Deutschland bieten das übrigens ca. 10 % der Bäder an2).

Streit um die neue Charta

Die Charta ist unter den Mitgliedsverbänden des CFCM umstritten. Schon in der Entstehungsphase drohte das Dokument zu platzen. Drei der neun Mitgliedsorganisationen des CFCM, darunter die französische Milli Görüş (CIMG), erklärten schließlich in einer gemeinsamen Pressemitteilung nach der Überreichung, sie hätten die Charta nicht unterzeichnet, denn einige Formulierungen seien geeignet, „das Vertrauensverhältnis zwischen den Muslimen Frankreichs und der Nation“ zu schwächen. Darüber hinaus verletzten einige Aussagen die Ehre der Muslime.3  Die drei türkisch dominierten Organisationen bekennen sich zwar allgemein zu „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und zur Verfassung, gehen aber nicht weiter auf das Laizitätsprinzip, das Recht auf Religionswechsel, die Gleichberechtigung der Frau oder andere Inhalte der Charta ein. Sie begrüßen die Aussicht auf die Gründung eines Imamrates.

Überraschend kommt die Kritik nicht. Schon im November, kurz nach Macrons Anweisung, der CFCM möge eine Charta erarbeiten, hatte die damalige positive Reaktion von Milli Görüş Erstaunen ausgelöst. Denn aus der vorgegebenen Marschrichtung waren bereits die Widersprüche absehbar, die sich zwischen der Position der französischen Milli-Görüş-Sektion und ihrem europäischen Zentralverband (Sitz Köln) ergeben würden, wie aus Deutschland Engin Karahan kommentierte. Zum Beispiel sei Milli Görüş strikt zentralistisch organisiert, sodass man unmöglich eine Absage an „ausländische Einmischung“, wie sie die Charta enthält, unterzeichnen könne. Um die Frage der „ausländischen Einmischung“ gab es folgerichtig schon in der Entstehungsphase Streit. Dieser Punkt dürfte auch der Grund sein, warum sich der französische Ableger von Diyanet (türkische Religionsbehörde, in Deutschland DITIB) völlig in Schweigen hüllt. Die Organisation ist nicht Mitglied im CFCM und hat nicht einmal eine französischsprachige Webseite. Angesichts der Entwicklungen ist die Frage, welchen Platz sie in Frankreich als verlängerter Arm Erdoğans in Zukunft überhaupt noch haben könnte.

Ein zweiter Zankapfel war die Ablehnung des „politischen Islam“.5  Die Charta setzt den Begriff in Anführungsstriche und nennt in einer Fußnote beispielhaft „Salafismus (Wahhabismus), Tabligh und Muslimbrüder“. Auch dies war für die Nicht-Unterzeichner inakzeptabel. Sogar der Begriff „Islam de France“ im Titel der Charta sei umstritten gewesen, berichten Insider. Alle drei Organisationen waren dementsprechend bei der feierlichen Unterzeichnung am 18. Januar nicht anwesend.

Nun hatte aber Macron noch vor den Anschlägen im Oktober 2020 genau diese beiden Fragen – Absage an ausländischen Einfluss und an den politischen Islam – für alternativlos und unverhandelbar erklärt. Dementsprechend warnte er jetzt unmissverständlich: „Wenn einige diese Charta nicht unterzeichnen, so werden wir daraus Konsequenzen ziehen.“6  Die Betreffenden müssten mit staatlichen Maßnahmen rechnen.

Kulturkampf

Das ganze Vorgehen passt eigentlich nur schlecht zum laizistischen Staatsverständnis. Es ist unübersehbar, dass die Charta kein Produkt freiwilliger Selbstbesinnung französischer Islamverbände ist, sondern auf staatlichen Druck entstand. Schon die Tatsache, dass Staat und Religionsgemeinschaften in dieser Weise verhandeln, ist in Frankreich ungewöhnlich, da Religion theoretisch nur als Privatangelegenheit existiert. Die jetzigen Entwicklungen zeigen, dass man sich zunehmend darüber klar wird, dass sich durch den Islam etwas Grundsätzliches verschoben hat, das dringender Maßnahmen bedarf und nicht mit einem formalistischen Beharren auf jenem Laizismus zu bewältigen ist, der fast ein Jahrhundert lang gut funktioniert hatte.

Ungewöhnlich ist aber auch, dass die Charta nicht nur auf der institutionellen Ebene Grenzen setzt, sondern dass sie eine gravierende Einmischung in Werte und Glaubensinhalte einer Glaubensgemeinschaft bedeutet. Sie wirkt sich im Grunde mindestens implizit gegen jede Form eines konservativen Islam aus. Denn hier wird schon die Ablehnung etwa von liberaler Sexualität und identischen Geschlechterrollen als antirepublikanisch markiert. Das greift tief in die private Werteordnung muslimischer Gläubiger ein.

Wertkonservative Vorstellungen dieser Art gibt es allerdings auch außerhalb des Islam, unter traditionalistischen Katholiken („cathos tradis“) zum Beispiel. Niemand jedoch käme auf die Idee, von diesen eine republikanische Charta zu fordern. Das ist zwar erklärlich: Neben der viel geringeren Zahl der Anhänger fehlen hier mehrere kritische Elemente. Es gibt unter katholischen Traditionalisten keine gewaltsame Durchsetzung gegen Abweichler (Ehrenmorde usw.), sie streben auch keine eigene Staatsordnung an, und es gibt keine traditionalistisch-katholischen Gebiete, in denen die Geltung der staatlichen Ordnung infrage steht oder bereits aufgehoben ist. Hier wird also nur Verschiedenes verschieden behandelt. Aber indem sie einen konservativen, zumindest vordergründig unpolitischen Islam in Mithaftung für den politischen Islam nimmt, bestätigt die Charta den Eindruck einer in den Debatten verschwimmenden Grenze zwischen Islam und Islamismus. Zunehmend wächst das Bewusstsein dafür, dass es sich beim Islam um eine Religion handelt, in der Transzendenzbezug und Gesellschaftsordnung untrennbar verwoben sind (Ernest Gellner). So impliziert die Charta im Grunde, dass der Islam mindestens in seiner konservativen Ausprägung immer politisch und im Kern womöglich nicht demokratiekompatibel sei.

Die jetzigen Eingriffe in den französischen Islam hegen dessen problematische Seiten möglicherweise ein. Sie unterminieren aber zugleich die Prinzipien des laizistischen Staates, in dessen Namen sie vorgenommen werden. Klar ist: Der schon lange schwelende Kulturkampf, den Islamisten angezettelt haben und den der Staat jetzt anzunehmen scheint, steht erst am Anfang. Er wird Frankreich gravierend verändern. So oder so.


Kai Funkschmidt, 01.03.2021

 

Anmerkungen

1  CFCM: Communiqué: Présentation de la charte des principes pour l’islam de France au président de la République, M. Emmanuel Macron, 18.1.2021, https://tinyurl.com/1q7x55rb (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 22.2.2021).

2  Offiziell geht es nur um Badekleidung, faktisch ist es eine Regelung für Musliminnen. Vgl. Max Behrendt / Ines Michalowski: Organisationaler Wandel für muslimische Badegäste in deutschen Schwimmbädern. Schnelle Anpassungen und Konflikte, WZB Berlin Social Science Center, April 2019, 5.

Communiqué du CCMTF, CIMG France, Foi et Pratique, 20.1.2021, https://tinyurl.com/6elyvehu.

4  Vgl. Engin Karahan: Französische Revolution in der IGMG – eine IGMG, viele Gesichter?, 21.11.2020, https://tinyurl.com/ylgpjcmo.

5  Vgl. Arthur Berdah: Islam de France: malgré un premier pas „historique“, Macron et le CFCM ont encore du chemin à faire, Le Figaro, 18.1.2021, https://tinyurl.com/4lfxqxr5.

6  „Charte des principes de l’islam“: Macron salue „un engagement net et clair“, L’Express, 18.1.2021, https://tinyurl.com/1awedt3c.