Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.)

Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel

Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, transcript Verlag, Bielefeld 2010, 270 Seiten, 27,80 Euro.


Das von den Religionswissenschaftlern Lüddeckens und Walthert herausgegebene Buch befasst sich mit Wandel und Wahrnehmung sogenannter Neuer religiöser Bewegungen der Gegenwart. Der weithin sich zeigende dynamische Umschwung von fest abgegrenzten Gemeinschaften zu neuen, unverbindlichen Formen hat Anlass gegeben, sich diesem Phänomen zu widmen und unter Auswertung von Fallstudien eine begriffliche Einordnung vorzunehmen. In acht Untersuchungen, die mehrere Autoren zu diesem Band beigetragen haben, werden verschiedene Neue religiöse Bewegungen unter historischen, empirischen und theoretischen Aspekten charakterisiert, indem mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Geschichte, Wandel (u. a. von Gemeinschaft zu Bewegung) und gegenwärtige Situation beleuchtet werden.Dabei sind im Fokus: die Hare-Krishna-Bewegung mit ihrer Öffnung von festen Tempelstrukturen zu lokalen Kongregationen und einer veränderten Wahrnehmung im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs (Frank Neubert, 77-91); die japanische New-Age-Gruppe Kofuku no kagaku (Wissenschaft vom Glück), die sich als eigentlich stark leiterzentrierte, hierarchische Gruppierung unter verschiedenen interreligiösen Bezugspunkten zur individuellen Anknüpfung international ausweitet (Franz Winter, 93-118); sogenannte esoterische Makler als marktwirtschaftliche Knotenpunkte einer unorganisierten, nicht durch Grenzen definierten Esoterikkultur, die als Anbieter ohne eigene spirituelle Autorität eine Vielzahl offener, gleichberechtigter Angebote selektieren und vertreiben (Stefan Rademacher, 119-148); die Bestimmung einer populären Spiritualität, die keineswegs nur eine Alternative zur gesellschaftlichen Konvention bietet, sondern selbst gesellschaftlich fest integriert ist und dabei vielfach den Bereich des spezifisch Religiösen verlassen hat (Hubert Knoblauch, 149-174); der eigene, zeitlich begrenzte Typus der situativen Event-Vergemeinschaftung als Reaktion auf gesellschaftliche Gemeinschaftslosigkeit, indem im kollektiven Erlebnis Gemeinschaft ohne Gemeinschaft geboten wird (Winfried Gebhardt, 175-188); neugermanisch-heidnische Religiosität, die sich mehr und mehr von völkischen Ideologien zum esoterisch-ökologischen Bestimmtsein bewegt, germanische Grenzen in den angelsächsischen Raum überschreitet und ethnische (sowie politische) Zugangsgrenzen auflöst (Ann-Laurence Maréchal, 189-213); die schweizerische Black-Metal-Szene als abgeschlossene Gruppe, deren Mitglieder in prinzipieller Antihaltung (antikommerziell, antichristlich, antireligiös) und extremer Radikalität Abgrenzung als Individualität wahrnehmen und innerhalb eines fluiden Umfeldes deutlich Grenzen ziehen (Anna-Katharina Höpflinger, 215-241); das International Christian Fellowship in Zürich, dessen gemeinschaftliche Bindung aus betonter individueller Entscheidung (und Erfahrung) konstituiert ist (Rafael Walthert, 243-268).

Diesen Studien ist ein englischsprachiger Beitrag vorangestellt, der nach einer Definition Neuer religiöser Bewegungen deren gesellschaftliche und akademische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten vorstellt und einen Rückgang religionswissenschaftlicher Studien und Forschungsprojekte konstatiert (Elisabeth Arweck, 55-76). Auf den Studien basierend, wird das Buch von den beiden Herausgebern mit einer Einleitung und Auswertung (9-17,19-53) eröffnet. Das deutliche Wachstum unverbindlicher (nicht institutionalisierter, zeitlich begrenzter, „offener“) Angebote des religiösen Marktes und ein gleichzeitiger Rückgang an Interesse und Mitgliedschaft bei vielen neuen Gruppen mit festeren Strukturen zeigen eine Ent-Grenzung, wie sie auch im Selbstverständnis Neuer religiöser Bewegungen mit dem Begriff „Spiritualität“ intendiert ist. Eine solche Diffusion über Grenzen hinweg in die Gesamtgesellschaft, während Religion selbst zu einem Teilbereich gesellschaftlichen und individuellen Lebens geworden ist, lässt diffuse, eher via Negativa zu beschreibende Sozialformen einer populären Spiritualität entstehen, was die wissenschaftliche Beschäftigung erschwert.

Diese Beobachtung hat die Herausgeber zum Begriff der „fluiden Religion“ geführt, der dem Werk zum sprechenden Titel verholfen hat. Leider steht innerhalb des Buches selbst diese „theoretische Systematisierung“ auf der Ebene des Begriffes etwas allein, da er als solcher in den einzelnen Beiträgen nicht aufgenommen ist. Er beschreibt das Phänomen jedoch treffend.Wenngleich die einzelnen Beiträge in ihrer Selbstständigkeit aufgrund sich teilweise wiederholender Begriffsbestimmungen und Definitionen dem Gesamtwerk Effektivität nehmen, liegt hier eine Untersuchung vor, die den Zeitindex des spirituellen Marktes erfasst. Dessen Merkmale (Deinstitutionalisierung, Individualisierung und Spiritualisierung u. a.) sind nicht nur für den Religionswissenschaftler interessant. Auch der Theologe ist angesprochen, wenn individualistische Subjektivierung der Religion das kirchliche Leben zum Angebot unter vielen werden lässt. Damit ist auch eine authentische christliche Spiritualität herausgefordert, die doch vom inkarnatorischen Wesen der Kirche her nie ohne Form und Gemeinschaft sein kann. Es wäre wünschenswert, wenn Begriff und Thema der fluiden Religion vermehrt in die systematisch- und praktisch-theologische Reflexion Eingang fänden.


Markus Schmidt, Leipzig