Stefan Gatzhammer / Johann Hafner / Dawood Khatari (Hg.); Chaukeddin Issa (Übers.)

Ferman 74. Der Genozid an den Jesiden 2014/15. Analysen – Interviews – Dokumentationen

Ergon Verlag, Baden-Baden 2021, 576 Seiten, 39 Euro.

Der kurze Titel „Ferman 74“ verweist ohne große Ausschweifungen auf die Thematik des Buches. Ferman ist das kurdische Wort für „Erlass, Befehl“. Damit bezeichnen die Jesiden die Pogrome gegen sie. Die Zahl 74 steht dafür, dass es sich bei dem Genozid, den der sog. „Islamische Staat“ (IS) in den Jahren 2014/15 an den Jesiden (auch: Yeziden / Êzîden) verübte, bereits um das 74. Pogrom handelt, dem diese ethnoreligiöse Gruppe in ihrer Geschichte ausgesetzt war.

Das fast 600 Seiten starke Werk will vor allem dokumentieren, was 2014 in der Region Sindschar im Nordirak geschah. Den Kern des Buches machen deshalb Interviews mit den Betroffenen, Opfern wie Tätern, aus. Die Herausgeber sind am Fachbereich für Religionswissenschaft der Universität Potsdam tätig und haben das Projekt in Kooperation mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Universität Dohuk (Irak) durchgeführt. Wichtig ist dabei zu wissen, dass die Interviews nicht eigens für das Buchprojekt durchgeführt wurden, sondern einen Auszug aus einem siebenbändigen Werk darstellen, das 2019 vom Beşikçi Center for Humanity Research der Universität Dohuk herausgegeben wurde. Die dafür durchgeführten Interviews wurden auf Kurmandschi (ein Dialekt des Kurdischen) geführt, dann für dieses Werk ins Arabische übersetzt und unter einem arabischen Titel publiziert, der mit „Genozid an den Jesiden“ übersetzt werden kann. Die Herausgeber des vorliegenden Buchs Ferman 74 haben den von ihnen gewählten Auszug dann vom Arabischen ins Deutsche übersetzt. Es handelt sich also hierbei um eine Übersetzung der Übersetzung, was deshalb zu bedauern ist, weil mit jeder Übersetzung ein Teil des ursprünglichen Sinnes verloren geht.

Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt. Der erste Teil bietet sieben Fachbeiträge, die die Jesiden und ihre Verfolgung aus historischer, religionswissenschaftlicher, juristischer und psychologischer Perspektive betrachten. Diese Beiträge sollen helfen, die Interviews, die dann den Hauptteil des Bandes bilden, besser einordnen zu können. Der dritte Teil besteht aus einem sehr umfangreichen Anhang, der neben einem Orts- und Personenregister sowie Karten der Region Sindschar auch präzise Tabellen mit den Orten der Massaker und der Anzahl der Todesopfer nach Alter und Herkunft enthält.

Bei den Interviewten handelt es sich in der Regel um traumatisierte Menschen, die den Genozid überlebt haben, Gewalt und Erniedrigung ausgesetzt waren und dem Tod oft nur knapp entronnen sind. Bei Interviews mit diesen Personengruppen sind einige Spezifika zu beachten. Befragt man die Menschen zu ihren Erlebnissen, werden sie angeregt, das Erlebte im Kopf nochmals durchzugehen. Dadurch besteht die Gefahr einer „Retraumatisierung“ (141). Eine damit verbundene Problematik besteht darin, dass traumatische Erlebnisse vom Gehirn nicht strukturiert und chronologisch geordnet, sondern nur fragmentarisch gespeichert werden. Eine präzise Rekonstruktion der Geschehnisse ist daher allein auf Basis der Interviews oft nicht möglich. Es kommt hinzu, dass Traumatisierte aufgrund des Erlebten oft ein Misstrauen gegenüber Fremden zeigen. Besonders wenn sexualisierte Gewalt im Spiel ist, führen Scham, Schuldgefühle und „Ehrverlust“ zu Lücken in den Erzählsträngen, die nicht vorschnell als Anzeichen dafür gedeutet werden dürfen, dass das Erzählte nicht wahr ist (vgl. 143f). Die Interviews geben Einblick in ein sehr breites Spektrum an tragischen Einzelschicksalen, die bei der Lektüre sehr nahegehen. Sie geben den ansonsten abstrakten und nüchternen Zahlen und Fakten zu diesem Völkermord ein Gesicht und vermitteln einen Eindruck davon, was die Geschehnisse für die Jesiden im Nordirak bedeutet haben müssen. So berichtet Nawaf Younes Garnus Al-Taschelki, ein junger Mann (vgl. 186):

„[Die Terroristen] forderten uns auf, den Islam anzunehmen, andernfalls würden sie uns alle töten. Bis auf einen jungen Jesiden namens Kamal Omar Ilyas, aus Tal Qassab, sind wir alle ihrer Forderung nachgekommen. Drei Terroristen griffen ihn an und fragten ihn, ob er weiterhin stur und seiner alten Religion treu bleiben wolle. Der junge Jeside sagte, dass es für ihn eine große Ehre ist, als Jeside zu sterben. Da haben sie ihn mit zwei Kopfschüssen niedergestreckt.“

Eine Frau erzählt, dass ihre Cousine nach der vor ihren Augen geschehenen Ermordung des Bruders den Verstand verlor, eine andere, dass sie ihre eigene Schwester nur mit Mühe von einem Suizid abhalten konnte (188). Ein damals erst 15-jähriger Junge erzählt, dass er auf der Flucht auf von Leichen gesäumten Wegen seinen Durst am Scheibenwischwasser parkender Autos zu stillen suchte (231). Im Zuge der Geschehnisse kam es vielerorts auch zu Menschenhandel, dem vor allem viele Jesidinnen, wie Khokhe Khalf Gharib erzählt, zum Opfer fielen:

„Dann verschenkte er mich an seinen Freund Abu Ayscha al-Iraqi. Dieser hat mich nach nur einer Woche seinem Freund Abu Oudayda aus Mossul geschenkt … Drei Monate später verkaufte dieser mich an eine andere Person weiter. Abu Oudayda hat mich öfters ausgepeitscht. Er hat mich täglich gefoltert und geschlagen. Nach fünf Monaten hat er mich an Abu Ahmad al-Iraqi verkauft“ (357).

In der Zusammenschau bietet das Buch eine sehr ausführliche Dokumentation des Genozids an den Jesiden in den Jahren 2014 und 2015, die vor allem für all diejenigen interessant sein dürfte, die nach Quellenmaterial zu den Geschehnissen suchen. Die Besonderheit dieser Dokumentation liegt auch darin, dass das Projekt in Kooperation mit Forschungseinrichtungen vor Ort geschah und nicht als rein „westliches“ Projekt realisiert wurde.

Die vielen Berichte der Betroffenen vermitteln durch ihre Subjektivität und Emotionalität zweifelsohne einen lebensnahen und sehr direkten Eindruck von den Geschehnissen. Doch bedeutet dieser direkte Zugang über die Subjektivität der Interviewten auch einen Mangel an Sachlichkeit und Objektivität, der allein durch eine analytische Rahmung und Einordnung wieder aufgefangen werden kann. Berichte Betroffener – ohne Zweifel eine wichtige Quelle – bedürfen einer Einordnung durch weitere Daten, psychologische Analysen und Experteneinschätzungen in einen größeren Gesamtzusammenhang – insbesondere dann, wenn über traumatische und mit Scham behaftete Erlebnisse berichtet wird.

Die vorliegende Dokumentation sucht diesem Umstand durch die Fachbeiträge zu Beginn und die Datensammlungen im Anhang Rechnung zu tragen. Die Interviews als solche bleiben allerdings unkommentiert. Eine abschließende Auswertung wäre wünschenswert gewesen, die das in den Interviews Erzählte im Rückgriff auf die einführenden Fachbeiträge zu historischen, religionswissenschaftlichen, juristischen und psychologischen Perspektiven der Genozidforschung bzw. der Forschung zu den Jesiden und ihrer Verfolgung nochmals kritisch reflektiert und eingeordnet hätte. Doch schmälert das nicht den Wert dieser wichtigen Dokumentation.

Alexander Dett, Berlin