Gesellschaft

Expertengespräche über sexuellen Missbrauch in Religionsgemeinschaften

Ausgelöst durch die ans Licht gekommenen Missbrauchsskandale in Kirchen und religiösen Gemeinschaften wurde vor fünf Jahren auf Bundestagsbeschluss eine unabhängige Kommission einberufen, um die Aufklärung zu fördern und Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt zu entwickeln. Im November und Dezember 2020 wurden Betroffene sowie Expertinnen und Experten für diese Form des Machtmissbrauchs bei Jehovas Zeugen bzw. in der Colonia Dignidad von der Kommission angehört.

Im ersten Teil der Anhörung beschrieben ehemalige Zeuginnen und Zeugen Jehovas als wesentliche Elemente ihrer Unterdrückung den enormen Gruppendruck und die dogmatisch begründete Leistungsfrömmigkeit. Zudem könne sexualisierte Gewalt in dieser Gemeinschaft gut vertuscht werden. Einem Missbrauchsvorwurf werde in einer Versammlung nur dann nachgegangen, wenn ein Zeuge diesen bestätigen könne. Die sog. „Zwei-Zeugen-Regel“ sei realitätsfern, weil ein Missbrauch in der Regel ohne Zeugen begangen werde. Die Betroffenen sehen politischen Handlungsbedarf, um Kinder und Jugendliche in dieser Gemeinschaft besser zu schützen. Dazu schlugen sie eine Modifizierung von Artikel 140 GG vor, der die Rechte der Religionsgemeinschaften über den grundrechtlichen Schutz der Betroffenen stellt.1

Im zweiten Teil der Anhörung kamen zwei Sozialwissenschaftler zu Wort, die sich wissenschaftlich mit der Aufarbeitung der Verbrechen in der sektenähnlichen Gruppe Colonia Dignidad befassen. Diese dorfähnliche Gemeinschaft war 1961 in Chile von Paul Schäfer (1921 – 2010) für deutsche Auswanderer gegründet und 1991 aufgelöst worden. Es wurde festgestellt, dass die Aufarbeitung der Verbrechen bis heute nur schleppend vorangehe. Erschwert werde sie durch die strafrechtlich und politisch komplexe Verstrickung verschiedener Ebenen. Der religiöse Deckmantel, die Zusammenarbeit mit der Pinochet-Diktatur und die verstörende Tatsache, dass ein Teil der Betroffenen gleichzeitig auch Täterinnen oder Täter waren, bedeutet eine besondere Herausforderung für die Verantwortlichen des Fonds, aus dem Hilfsleistungen für Betroffene bezahlt werden können.2

Die Arbeit der Aufarbeitungskommission trägt viel dazu bei, mehr Licht in die dunklen Ecken religiöser Gemeinschaften zu bringen und ihre Mitglieder zu schützen. Solche staatlichen Maßnahmen sind nötig, solange nicht die Religionsgemeinschaften selbst funktionierende Instrumente der Selbstkontrolle und Qualitätssicherung einsetzen und anwenden. Bis dahin sollten von spirituellem und sexuellem Missbrauch in Religionsgemeinschaften Betroffene mutig der Einladung der Kommission folgen, ihre Erlebnisse dort zu Gehör zu bringen – zum Beispiel kostenfrei und anonym unter 0800-4030040, durch einen schriftlichen Bericht oder eine vertrauliche Anhörung.

Michael Utsch

Anmerkungen

  1. Vgl. Werkstattgespräch, Teil 1: Sexueller Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas,https://tinyurl.com/k6ya42re (Abruf: 3.3.2021).
  2. Vgl. Werkstattgespräch, Teil 2: Sexueller Kindesmissbrauch in der Colonia Dignidad,https://tinyurl.com/rrzweshr (Abruf: 3.3.2021).