Esoterik

Esoterik in der Wissenschaft?

Die wissenschaftliche Erforschung ungewöhnlicher Phänomene und unerwarteter Zusammenhänge wird auch hierzulande weiter vorangetrieben. Zwei diesbezügliche Universitätsprojekte haben in den letzten Wochen mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Am „Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften“ der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) wurde eine Masterarbeit angenommen, die als ein Hinweis für die Möglichkeit von Hellsehen verstanden werden kann. Kritiker bewerteten die Arbeit allerdings als eine „völlige Entgleisung akademischer Qualitätsstandards“. Am Institut West-Östliche Weisheit an der Universität Freiburg startete im Mai die zweijährige, berufsbegleitende Weiterbildung „Spiritualität und Interkulturalität“. Das von einem Freiburger katholischen Theologen initiierte Projekt will in Zusammenarbeit mit Religions- und Naturwissenschaftlern sowie Theologen die Grundlagen der wichtigsten spirituellen Traditionen untersuchen und in den interdisziplinären akademischen Diskurs stellen. Eine große Tageszeitung witterte gleich Aberglaube und Hokuspokus: „Raus aus der Schmuddelecke, rein in die Uni: Erstmals wird Esoterik in Deutschland zum Studienfach.“1 Obwohl beide Projekte unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, stimmen viele Kritiker überein: Esoterik hat an einer Universität nichts zu suchen. Wie sind die beiden akademischen Projekte einzuschätzen?

Schon im Jahr 2010 war das Institut für Gesundheitswissenschaften an der Viadrina in die Schlagzeilen geraten, weil dort im Rahmen des 2009 begonnenen Masterstudiengangs „Komplementäre Medizin – Kulturwissenschaften – Heilkunde“ (seit 2012: „Kulturwissenschaften und komplementäre Medizin“) obskure Heilmethoden wie Energiemedizin und Geistheilung vermittelt wurden. Mittlerweile wurde die Zusammenarbeit mit einem externen Anbieter dieser Verfahren, der „Deutschen Gesellschaft für Energetische und Informationsmedizin“, eingestellt.2 Die wissenschaftliche Seriosität des Instituts wird jetzt jedoch durch die erwähnte Masterarbeit erneut infrage gestellt. Einer der 35 Absolventen des ersten Durchgangs des Studiengangs hat in seiner Masterarbeit in einer Pilot-Studie den statistisch signifikanten Nachweis erbracht, dass mithilfe eines sogenannten „Kozyrev-Spiegels“ telepathische Effekte erzielt werden können. Der Autor, ein Berliner Orthopäde, hatte sich dazu folgende Versuchsanordnung ausgedacht: In zwei kleine Aluminiumdosen, die den metrischen Vorgaben des großen Originals des Kozyrek-Spiegels entsprachen, und in zwei weitere Pappdosen wurden verschlossene Umschläge mit Zahlen zwischen null und neun gelegt. An den Dosen waren zwei Drähte befestigt, deren Metallgriffe die Versuchspersonen in die Hand nehmen sollten. Der auf den umstrittenen russischen Astrophysiker Nikolai Kozyrek (1908-1983) zurückgehende Spiegel solle es ermöglichen, eine Bewusstseinserweiterung zu erleben, weil kurzfristig die Raum-Zeit-Verschränkung unterbrochen werden könne. In seiner Masterarbeit beschrieb der Autor auch eigene Erfahrungen mit dem Spiegel, der ihm „die Induktion einer Selbsttrance mit verstorbenen Angehörigen“ ermöglicht habe.3 Doppelblind sollten die Versuchsteilnehmer die verdeckten Zahlen in den Dosen erraten. Bei der Hälfte der Versuche waren Metall- bzw. Papierdosen sichtbar, bei der anderen Hälfte nicht. Nur wenn die Teilnehmer sahen, dass die Zahl in der verspiegelten Dose lag, erhöhte sich der Trefferquotient geringfügig. Ein Hauptergebnis der Arbeit besagt, dass die Aluminiumdosen die intuitive Fähigkeit der Probanden unterstützen und deshalb von hellseherischem Vorteil seien.

Die Masterarbeit entspricht jedoch in vielen Punkten nicht akademischen Standards. Die reichhaltige parapsychologische Forschungsgeschichte zur Präkognition wird nicht einmal erwähnt. Es hätte nahegelegen, den von dem Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker ins Spiel gebrachten Vorschlag einer „zeitüberbrückbaren Wahrnehmbarkeit“ als eine dritte Möglichkeit neben Faktizität und Möglichkeit aufzugreifen4, weil dies genau dem Studieninteresse des Autors entspricht – auch hier Fehlanzeige. Stattdessen schildert der Autor eigene ungewöhnliche Erfahrungen, auch während des Studiums. Nach einer Meditationsübung während eines Seminars habe ihn etwa der Studiengangsleiter zu weiteren Selbsterfahrungsversuchen mit dem Kozyrev-Spiegel ermutigt. In der Referenzliteratur fehlen die Standardwerke, jedoch wird auf zahlreiche esoterische Autoren Bezug genommen, durch die der Autor die entscheidenden Impulse für seine Forschungen erhalten hat. Eine kritische Distanz zum Thema sowie die Rezeption diesbezüglicher kritischer Literatur fehlen gänzlich. Im vorliegenden Forschungskontext der komplementären Medizin hätte weiterhin auf die erstaunlichen Forschungsergebnisse des Placebo-Phänomens hingewiesen werden müssen, das im letzten Jahr von der Bundesärztekammer ausdrücklich zur Nutzung empfohlen wurde.5 Die Erforschung ungewöhnlicher Zusammenhänge einschließlich spiritueller Aspekte ist eine wichtige Aufgabe, um die Wirkweisen komplementärer Medizin besser zu verstehen.6 Dafür sollten aber wissenschaftliche Standards eingehalten werden.

Ganz anders sieht die Sachlage hinsichtlich der Spiritualitätsforschung im theologischen Kontext aus. Schon vor knapp 50 Jahren hat Hans Urs von Balthasar eine allgemeinmenschliche Dimension von Spiritualität beschrieben, die er von dem christlichen Verständnis gelebter Glaubenspraxis unterschied.7 Die menschliche Bezogenheit auf ein größeres Ganzes passt gut in ein katholisches Weltbild. Auch wenn sich die katholische Kirche bislang nicht direkt an diesem Studiengang beteiligt, ist es unangemessen, ihn gleich als „esoterisch“ abzuqualifizieren.8 Die knapp 50 Teilnehmer der Weiterbildung beschäftigen sich in den über vier Semester verteilten Modulen mit religionswissenschaftlichen Grundlagen westlicher und östlicher Spiritualität (Judentum, Christentum, Islam beziehungsweise Hinduismus, Buddhismus). Auch humanwissenschaftliche und quantenphysikalische Aspekte sollen behandelt werden. Theologische Weiterbildungen zu interreligiöser Spiritualität sind allerdings nicht so neu, wie es die Zeitungen glauben machen wollen. Masterstudiengänge mit vergleichbaren Zielen werden von anderen Universitäten seit Jahren angeboten.9 Vielleicht ist es Kirchenverantwortlichen ein Dorn im Auge, dass eine Anschub­finanzierung in sechsstelliger Höhe von der mit dem „Benediktushof“ in Holzkirchen (Unterfranken) zusammengehörenden Stiftung „Akademie West-Östliche Weisheit“ stammt. Das von dem beurlaubten Benediktiner der Abtei Münsterschwarzach, dem Zen-Meister Willigis Jäger, ins Leben gerufene Meditationszentrum „Benediktushof“ erfreut sich großer Beliebtheit, hat aber auch kirchliche Kritik hervorgerufen.10

Ohne Zweifel gibt es Unterschiede zwischen dem transpersonalen und überkonfessionellen Spiritualitätsverständnis Jägers und dezidiert christlicher Spiritualität. Ist aber nicht gerade der universitäre interdisziplinäre Diskurs der optimale Ort, um darüber zu diskutieren und eine eigene Position zu finden? Die skeptischen Medienreaktionen hinsichtlich einer esoterischen Unterwanderung der Universität sind auch deshalb nicht verständlich, weil die Pressemitteilung des Instituts zum neuen universitären Weiterbildungsangebot schon in der Überschrift das Ausbildungsziel deutlich formulierte: „Fundierter und kritischer Umgang mit Religionen“.11 Das ist in Zeiten spiritueller Vielfalt und postmoderner Beliebigkeit dringend nötig!

Trotz aller Unterschiedlichkeit der beiden Projekte ist ihnen gemeinsam, dass die kulturelle Verwurzelung der Spiritualität im Zentrum steht. Diese Fokussierung ist weiterführend. Denn es ist unvermeidbar, dass die Studienergebnisse von dem jeweiligen Begriffs-Vorverständnis abhängen, also den Konzepten, die sich bei den Institutsleitern hinter „transkulturell“ bzw. „interkulturell“ verbergen. Hier gilt es allerdings zu bedenken, ob und wie genau Spiritualität unabhängig von ihrer kulturellen Einbettung zu erfassen und zu erforschen ist. So wie Menschen nicht in einer Sprache miteinander reden, sondern auf Deutsch, Französisch oder Polnisch, kann sich auch Spiritualität nur in einer konkreten kulturellen Ausprägungsform als jüdische, christliche oder buddhistische Spiritualität ausdrücken. Nur Forschungsprojekte, die das jeweilige fachliche und weltanschauliche Vorverständnis reflektiert und im interdisziplinären Austausch gemeinsame Begriffe gefunden haben, können weiterführende Fragestellungen bearbeiten. Damit tragen sie zu einem besseren Verständnis und zur angemessenen Einbeziehung menschlicher Spiritualität bei.


Michael Utsch


Anmerkungen

1 www.sueddeutsche.de/bildung/freiburg-startet-esoterik-studium-gotteszeichen-im-nilpferdmaul-1.1356478  (30.5.2012).

2 Vgl. www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/kozyrev-spiegel-masterarbeit-an-der-viadrina-uni-belegt-hellsehen-a-831305.html  (27.5.2012).

3 Peter Conrad, Der Kozyrev-Spiegel in der Praxis. Masterarbeit an der Europa-Universität, Frankfurt (Oder) 2011, 10 (abrufbar auf www.fostac.ch).

4 Carl Friedrich von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München 1988, 602.

5 Bundesärztekammer (Hg.), Placebo in der Medizin, Köln 2011.

6 Siehe als aktuellen Beleg Arndt Büssing/Niko Kohls (Hg.), Spiritualität transdisziplinär, Berlin 2011.

7 Hans Urs von Balthasar, Das Evangelium als Norm und Kritik aller Spiritualitäten in der Kirche, Concilium 1 (1965), 715-722.

8 Vgl. www.domradio.de/aktuell/81696/bundesweiter-pilot-studiengang-zu-spiritualitaet.html  (27.5.12).

9 Z. B. an der Universität Fribourg/Schweiz, der Universität in Zürich oder der katholisch-theologischen Fakultät in Salzburg. Das Institut für Spiritualität der philosophisch-theologischen Hochschule Münster bietet den dreijährigen, berufsbegleitenden Masterstudiengang „Theologie der Spiritualität“ an. Zum Ganzen vgl. Michael Utsch, Zum Profil christlicher Spiritualität, in: MD 1/2012, 14-17.

10 Vgl. Michael Utsch, Willigis Jäger gründet westliche Zen-Linie, in: MD 9/2009, 343f.

11 Siehe die Pressemitteilung vom 2.4.2012, www.pr.uni-freiburg.de/pm/2012/pm.2012-04-02.70  (30. 5.2012).