Gesellschaft

„Erklärvideo“ des BMFSFJ zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder verbreitet Verschwörungstheorie

In einem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Video vom November 2019 wird vor ausgedehnten Netzwerken organisierter „Ritueller Gewalt“ (RG) gewarnt. Der Film wurde auf Initiative des Ministeriums von zwei Kinderschutzorganisationen erstellt. Er zeichnet ein dramatisches Bild. Demnach seien zahlreiche Kinder und Jugendliche in internationalen Verschwörernetzwerken lang anhaltender, systematischer ritueller Gewalt ausgesetzt und könnten kaum aus diesen Strukturen ausbrechen und Hilfe bekommen. Sie würden durch äußerst brutale sexuelle Gewalt, die systematisch als „Mind-Control-Methode“ (Gehirnwäsche) eingesetzt wird, gefügig gemacht und gerieten in völlige Abhängigkeit von den Tätern. Durch die extreme Gewalt würden sie dazu gebracht, die Erinnerung an diese Taten in verschiedene Personen „abzuspalten“. Diese sogenannte „Dissoziation“ (Multiple Persönlichkeitsstörung) erlaube es den Tätern, ihre Taten jahrzehntelang zu verschleiern und diese verschiedenen Persönlichkeiten – manchmal sollen es mehrere Dutzend, bisweilen Hunderte sein – zu programmieren und beliebig zu steuern. Weil sie sich in ihrem Alltagszustand an die Taten nicht erinnern, könnten die Opfer bei der Polizei keine verwertbaren Angaben machen. Viele Kinder erlebten diese Gewalt innerhalb ihrer Familien, die teilweise schon seit Generationen Mitglied einer solchen Ritualgruppe seien.

Der gesamte Komplex „Satanistisch-Rituelle Gewalt“ weist alle Merkmale einer typischen Verschwörungstheorie auf und ist altbekannt. Dass trotz aller Grausamkeiten bei wiederholten großangelegten Polizeiermittlungen in vielen Ländern nie etwas herauskam, erklären die Anhänger der RG-Theorie wahlweise mit behördlicher Inkompetenz und Voreingenommenheit oder damit, dass hochrangige Mitarbeiter in Polizei und Justiz selbst zu den Verschwörern gehören und Aufklärung verhindern. Allerdings ist die Annahme, dass scheinbar respektable Bürger sich jahrzehntelang nachts zu rituellen schwarzen Messen treffen, ohne dass man ihnen oder ihren (persönlichkeitsgespaltenen) Opfern tagsüber etwas anmerkt und ohne dass jemals einer gefasst wurde, sich verriet oder ausstieg, schon aus sozialpsychologischen Gründen undenkbar (hierzu MdEZW 4/2003, 123-131).

Opfer gab es freilich dennoch. In den 1980er und 1990er Jahren kamen in mehreren Ländern Unschuldige – häufig Väter und Elternpaare, gelegentlich Babysitter – aufgrund in Therapien „wiedergefundener“ Erinnerungen vermeintlicher Missbrauchsopfer vor Gericht. Vor allem in den USA wurden einige auch verurteilt und teilweise erst Jahre später freigesprochen, als sich die öffentliche Hysterie gelegt hatte. Weitere Opfer sind die Patientinnen, die in einer Therapie Erinnerungen an rituelle Gewalt in der eigenen Familie „wiederfinden“. Denn auch ohne Justiz führt dies zum Zerbrechen von Familien. Die Patientinnen verlieren ihr persönliches Umfeld und geraten bisweilen in totale Abhängigkeit von ihren Therapeuten.

Die zwei Jahrzehnte währende Ausbreitung der RG-Theorie in der angelsächsischen Welt mit teilweise hexenjagdartigen Zügen ist dort unter dem Begriff „Satanic Panic“ inzwischen ausführlich wissenschaftlich erforscht worden. Auch auf Deutsch liegt umfangreiche kritische Literatur vor. Hierin werden auch die komplizierten Hilfsannahmen dekonstruiert, die zur Plausibilisierung der RG-Theorie vorgebracht werden. Diese Hilfsannahmen sind die wissenschaftlich teils umstrittenen, teils widerlegten Behauptungen von a) der „Programmierung“ von Menschen durch Gewalt (bis dahin, dass diese sich auf ein Triggerwort hin das Leben nehmen würden), b) der traumabedingten „Dissoziation“ und c) der verdrängten Erinnerung.

Die Gedächtnisforschung zeigt, wie leicht es ist, Menschen falsche Erinnerungen zu suggerieren, auch ungewollt oder autosuggestiv. Diese von der Amerikanerin Elizabeth Loftus begründete „False Memory“-Forschung beeindruckt mit zahlreichen experimentellen Studien. Zuletzt wurde der aktuelle Forschungsstand von Julia Shaw allgemeinverständlich dargestellt („Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“, 2018). Hier wird auch der RG-Mythos thematisiert (vgl. MdEZW 9/2019, 351-353).

Dieser gesamte Forschungsbereich wird von den RG-Therapienetzwerken als „Täterschutz“ diskreditiert und taucht in den Begleitmaterialien zum Video des BMFSFJ nicht einmal auf. Es gibt dort auch keinen Hinweis, dass die umfangreiche Forschungsliteratur zur „Satanic Panic“ überhaupt bekannt ist. Verschwiegen werden die unschuldig Verurteilten und die Tatsache, dass in den USA, in Schweden und Frankreich bereits mehrfach Therapeuten zu Schadensersatz verurteilt wurden, weil sie Patientinnen rituelle Missbrauchserinnerungen suggeriert und damit ihr soziales Umfeld zerstört hatten. Statt aufgrund dessen zu Besonnenheit zu mahnen, empfiehlt das vom BMFSFJ initiierte Erklärvideo Sozialarbeitern und Polizei sogar, Vernunft und gesunde Skepsis beiseite zu lassen: „Seien Sie bereit, Dinge zu glauben, die jenseits ihrer eigenen Vorstellungskraft liegen.“ Die staatlichen Stellen täten gut daran, sich beim Thema Kindesmissbrauch auf reale Verbrechen zu konzentrieren, denn davon gibt es genug. Sie sollten sich nicht von Therapeutennetzwerken auf die Fährte abseitiger Verschwörungsfantasien führen lassen, die Familien zerstören und hilfsbedürftigen Patientinnen fiktive Erklärungen für ihre Probleme suggerieren.


Quelle: www.kinderschutz-zentren.org/index.php?a=v&t=f&i=40327 (Erklärvideo).

Online verfügbare Literatur: Uta Bange: Ritueller Missbrauch im Satanismus, Sekten-Info NRW 2006, http://sekten-info-nrw.de; Andreas Hahn: Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen – ein populärer Mythos?, in: MdEZW 7/2019, 243-251, www.ezw-berlin.de/downloads/Materialdienst_07_2019_243-250.pdf.

Videos: Kriminalpolizeiliche Sicht: https://blog.gwup.net/2018/06/13/skepkon-video-der-mythos-vom-satanisch-rituellen-missbrauch;
False Memory Forschung: www.youtube.com/watch?v=vOGGM6FDKZ0 (Kurzfilm des SWR über Julia Shaws Forschungen zu implantierten Erinnerungen).

Kai Funkschmidt