Psychotherapie

Erfahrungsbericht einer Patientin von Traumatherapie bei „Ritueller Gewalt“

Der im Sommer veröffentlichte Jahresbericht 2019 des staatlichen „Sekten-Info NRW“ widmet sich ausführlich dem Thema „Rituelle Gewalt“ (RG). Der Bericht enthält den ersten auf Deutsch publizierten Erfahrungsbericht einer Patientin, die in einer Therapie die Diagnose „Dissoziative Persönlichkeitsstörung“ gestellt und Erinnerungen an kindliche RG-Erfahrungen suggeriert bekam.

Der RG-Theorie zufolge gibt es große internationale Täternetzwerke vermeintlich ehrbarer Bürger, die durch „rituelle“ sexuelle Gewalt und „Mind-Control“-Techniken bei ihren Opfern absichtlich eine Dissoziative Identitätsstörung erzeugen können (DIS; auch als „Multiple Persönlichkeitsstörung“ bekannt). Die wiederholte Anwendung schwerster Folter und sexuellen Missbrauchs bereits bei Säuglingen und Kleinkindern erzwinge eine gezielte Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit. Diese Persönlichkeitsanteile sollen dann programmiert und von den Tätern gesteuert werden können. „Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat“, heißt es in einer Publikation des Bundesfamilienministeriums von 2018.

Gestützt wird die gesamte Theorie „Rituelle Gewalt und Mind-Control“ allein durch die Berichte von Betroffenen, deren Erinnerungen an schwerste Grausamkeiten meist erst im Erwachsenenalter und oft innerhalb einer Therapie scheinbar „wiedererlangt“ werden (vgl. Kai Funkschmidt [Hg.]: False Memory, EZW-Texte 266, Berlin 2020). Es gibt eine relativ kleine, aber medial und lobbyistisch sehr aktive Gruppe von Traumatherapeuten, die sehr häufig diese Diagnose stellen, während die meisten Kollegen das ganze Konstrukt ablehnen und keine Opfer Ritueller Gewalt „entdecken“.

Seit die RG-Theorie mit einer Publikation Michaela Hubers 1995 nach Deutschland gelangte, konnten zahlreiche polizeiliche Ermittlungen nie einen Hinweis auf die Existenz solcher Verschwörernetzwerke finden. Wissenschaftlich höchst strittig ist auch heute noch, ob das Phänomen einer „Dissoziativen Persönlichkeit“ überhaupt existiert. Mehrere führende Wissenschaftler, die es in den 1980er Jahren in das amerikanische Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders aufnahmen, haben sich inzwischen davon distanziert und halten es für eine Fiktion.

Gerahmt von einer Einordnung und Analyse der Psychologin Bianca Liebrand schildert ein ausführlicher Erfahrungsbericht das Funktionieren einer Psychotherapie, die falsche Erinnerungen suggeriert und einer Patientin schrittweise einredet, aus vielen verschiedenen Innenpersönlichkeiten (sog. „Innies“) zu bestehen. Diese „Innies“ sollen sich als Reaktion auf kindliche Erfahrungen Ritueller Gewalt von ihrem Ich abgespalten haben.

„Ich wurde danach gefragt und verneinte ganz klar, da ich keinerlei Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch hatte. Die Therapeutin erklärte mir, dass man Missbrauch verdrängt und je schlimmer ein Missbrauch sei, desto tiefer würde man ihn verdrängen.“ Diese anfängliche Skepsis illustriert ein Gespräch im Rahmen der Therapie, bei dem festgestellt werden sollte, ob sie eine DIS-Persönlichkeit sei.

Ich wurde „plötzlich gefragt, ob ich mich prostituieren würde. (zur Erklärung: Ein solcher Hintergrund wird bei der Diagnose DIS häufig vermutet, gehört quasi zur Grundannahme dazu). Ich: „Nein, natürlich nicht!“ Diagnostikerin: „Woher wollen Sie denn wissen, dass Sie sich nicht prostituieren?“ Ich: „Ich würde doch wissen, ob ich mich prostituiere!“ Diagnostikerin: „Wenn eine andere Person von Ihnen sich prostituieren würde, würden Sie davon ja nichts mitbekommen.“ Ich: „Ich würde doch wissen, ob ich mich prostituiere!“ Diagnostikerin: „Ja, woran würden Sie das denn merken, dass Sie sich prostituieren?“ … Ich: „Ich hätte dann ja wohl so etwas wie Reizwäsche.“ Diagnostikerin: „Es könnte ja sein, dass die andere Person das bei ihrem Zuhälter aufbewahrt.“ Ich: „Ich hätte mehr Geld.“ Diagnostikerin: „Es könnte ja sein, dass eine andere Person von Ihnen ein anderes Bankkonto hat.“ Ich: „Aber ich würde doch wissen…aber ich würde doch wissen…“ Diese Form der Argumentation, bei der mir am Ende kein Argument mehr einfiel, begegnete mir während meiner gesamten Therapiezeit.“

Die Patientin wird als Dissoziative Persönlichkeit diagnostiziert und beschreibt, wie es ihr im Laufe der Therapie immer schlechter ging, wie verschiedene Therapeutinnen sie zunehmend überzeugten, sie sei bis heute von verborgenen Verschwörernetzwerken umgeben, jenen Leuten, die sie schon als Kind durch Rituelle Gewalt programmiert hätten, sodass sie sich nicht daran erinnern könne. Wahrscheinlich habe eine ihrer anderen Innenpersonen bis heute Täterkontakt. Für die Patientin war das alles logischerweise nicht widerlegbar – es sollte ja jenseits ihres „normalen“ Wachbewusstseins stattfinden.

„Man hat Personen, von denen man nichts weiß, die schreckliche Dinge erlebt haben, von denen man nichts weiß, und auch heute Dinge tun, von denen man nichts weiß und man weiß gar nicht, dass man nichts weiß. Das alles muss in der Therapie dann erst aufgedeckt werden. Das kann man als Klient nicht widerlegen, denn man würde gar nicht wissen, wenn es so wäre.“

Das Zusammenwirken der DIS-Patientinnen und ihrer gut vernetzten Psychotherapeuten, die an die Theorien von DIS und Ritueller Gewalt glauben, beschreibt die Patientin als eine Art geschlossenes Sektenmilieu, in dem zumindest die Patientinnen zunehmend von ihren bisherigen sozialen Kontakten und Familien abgeschnitten werden. Die Welt werde hier in „Überlebende, Verbündete und Helfer“ einerseits und Täter und Täterschützer andererseits eingeteilt, umgeben von einer ahnungslosen Gesellschaft – die für Verschwörungstheorien typische Dreiteilung der Welt.

Den Ausstieg schaffte die Klientin nach mehreren Jahren, in denen es ihr immer schlechter ging, als sie eine Ergotherapeutin und eine amtliche Betreuerin zur Alltagsunterstützung bekam, also zwei Außenkontakte, die nicht aus dem Kreis der DIS-Anhängerinnen stammten. Eigenes Nachdenken und nachfolgende Zweifel führten schließlich dazu, dass sie sich selbst aus dieser Therapie befreite. Zweifel weckte zum Beispiel, dass Michaela Huber, bis heute prominenteste Vertreterin der RG-Theorie in Deutschland, in einem Radio-Interview erklärte, bei einer DIS-Patienten-Persönlichkeit könnten verschiedene Innenpersönlichkeiten verschiedene Augenfarben haben. Immer mehr Behauptungen zur Untermauerung der Theorien dieses geschlossenen Milieus erschienen der Patientin unplausibel. Dazu gehörten die Behauptung Michaela Hubers, DIS-Patientinnen hätten übernatürliche Fähigkeiten, und die Erzählungen über Menschen, die als Baby eine Vergewaltigung über glühenden Kohlen überlebt haben sollten und später eine DIS entwickelten.

Als sie diese Zweifel äußerte, reagierte ihre Therapeutin wenig verständnisvoll, vermutete bei der Patientin mangelnde Loyalität und erhöhte den Druck. Nachdem die Patientin die Therapie abgebrochen hatte, durchlebte sie Gefühle starker Befreiung und großer Angst („Und wenn meine Befreiung jetzt ein Täterprogramm ist?“). Sie und ihre Alltagsbetreuerin verglichen den Prozess mit einem Sektenausstieg. Die Patientin zeigt sich im Rückblick erstaunt, dass eine Heilbehandlung, die auf so dünner wissenschaftlicher und sachlicher Grundlage steht und so destruktiv wirkt, dass sich auch nach mehrjähriger Therapie keine Verbesserung, sondern eher das Gegenteil einstellt, eine anerkannte kassenfinanzierte Therapieform ist.


Kai Funkschmidt, 08.10.2020


Quelle:

https://sekten-info-nrw.de/information/artikel/esoterik/zersplitterung-nach-therapie---bedenkliche-auswirkungen-der-„rituelle-gewalt-mind-control“-theorie