Gesellschaft

Eine Arbeitshilfe zur religionssensiblen Migrationssozialarbeit

Religionen formen das menschliche Verhalten, Denken und Fühlen und entfalten zugleich ambivalente Wirkungen: Sie können ethisch verantwortungsvolles Zusammenleben, zugleich aber auch Abgrenzungsprozesse befördern. In der Sozialen Arbeit lassen sie sich daher sowohl konstruktiv-kritisch als auch ressourcenorientiert thematisieren. Der neuen Arbeitshilfe des FMI (Fachzentrum für Soziale Arbeit in den Bereichen Migration und Integration) zufolge haben die Fragen nach Religion und Religiosität geflüchteter Menschen in der Sozialen Arbeit bislang jedoch nur wenig Beachtung gefunden. Umso bedeutsamer erweist sich damit die Entwicklung einer religionssensiblen Migrationssozialarbeit, „die Religion als Teil der menschlichen Lebenswelt, als psychosozialen Stabilisator und als Ressource bei der Überwindung von Lebenskrisen und traumatischen Fluchterfahrungen wahrnimmt“ (FMI, 1) und die das Verhalten (Umgang und Kommunikation), die Reflexion (Selbstreflexion und Haltung) und das Verstehen (Wissen und Kontext) des Menschen als grundlegende „Bausteine“ einer religionssensiblen Migrationssozialarbeit begreift.

Der Baustein „Verstehen“ zielt dabei vornehmlich auf das Wissen sowohl um die Religionen und ihre Traditionen als auch um die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen der modernen Gesellschaft. Zu den letzteren gehört u. a. die mit 14 Jahren erlangte Religionsmündigkeit, das Grundrecht der (positiven und negativen) Religionsfreiheit und – deutschlandspezifisch – das partnerschaftliche Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. Zum Wissen um die Religion gehört demgegenüber zunächst die Aufklärung darüber, mit wem es die Migrationssozialarbeit grundlegend zu tun hat: Was die Religionszugehörigkeit der Geflüchteten betrifft, so hat eine Kurzanalyse des BAMF (Siegert 2020) einen konfessionslosen Anteil von 6,2 %, einen muslimischen von 70,7 % und einen christlichen von 16,8 % feststellen können.

Der Baustein „Reflexion“ zielt auf die Entwicklung einer interreligiösen Empathie, welche die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen (religiösen oder weltanschaulichen) Prägung sowie zum Perspektivenwechsel beinhaltet. Als Voraussetzung dafür werden zum einen das Bewusstsein für die weitgehende Privatisierung des Glaubens in der modernen Gesellschaft genannt – lediglich 2 % der Deutschen sprechen außerhalb des Familien- und Freundeskreises über Religion (Weitz 2015). Zum anderen betont die Arbeitshilfe das Bewusstsein für gemeinsame „Grundwerte“, „die im Humanismus genauso begründet sind wie in den meisten Religionen“ (Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung 2017). Eine religionssensible Selbstreflexion habe dabei nicht nur das eigene Verhältnis zu Religion und Religiosität zu thematisieren, sondern auch die Frage nach der Religionssensibilität vorgegebener (Arbeits-)Strukturen. Zu klären sei, in welchem Umfang diese Strukturen Rücksicht auf religiöse Rituale wie beispielsweise das Fasten oder Gebets- und Meditationszeiten nehmen.

Der Baustein „Verhalten“ schließlich thematisiert die Fähigkeit, „religiösen Geltungsansprüchen angemessen zu begegnen“ (FMI, 7): „Religiöses Werben und Religionsfreiheit“ werden zunächst als „zwei Seiten derselben Medaille“ beschrieben, und zur Verdeutlichung eines „problematischen Werbens“ wird eine Checkliste von SektenInfo Berlin zur Verfügung gestellt. Sie soll in 17 Punkten eine kritische Einordnung problematischer Gruppierungen ermöglichen. Treffen mehrere Punkte zu, so sei, wie die Checkliste formuliert, „Vorsicht“ geboten. Zu den Punkten gehört, dass die jeweilige Gruppierung beansprucht, genau zu wissen, was dem Menschen fehlt (Punkt 1), sowie ein einfaches Bild der Welt (3) und „ewig wahres Wissen“ (6) zu ihrer Rettung liefert (8). Weiter wird genannt, dass sich eine Gruppe gegen die übrige (verlorene) Welt durch spezifische Kleidung und Ernährungsvorschriften abgrenzt (9-11), ein bestimmtes Sexualverhalten (13) und spezifische Gebets- und Meditationszeiten vorschreibt (14) und schließlich die „Befolgung ihrer Regeln und Disziplin als einzigen Weg zur Rettung“ erwartet (17).

Abgeschlossen wird die Arbeitshilfe durch eine Liste religionsspezifischer Anlaufstellen, die neben dem FMI, den Landesintegrationsbeauftragten und diversen säkularen Vereinen zur Flüchtlingshilfe auch die EZW umfasst. Tipps bzw. Empfehlungen für eine respektvolle und religionssensible Kommunikation runden die Arbeitshilfe ab. Genannt werden u. a. Neugierde und Nachsicht, die Vermeidung pauschalisierender Stereotypen sowie die Ausrichtung auf eine stärker verhaltens- als allein religionsbezogene Kommunikation. Letzteres macht zugleich deutlich, dass eine gedeihliche religiöse Kommunikation, die religionsrechtliche und religiös-moralische Prägungen ohne Verkürzungen konstruktiv-kritisch zur Sprache bringt, erheblicher Voraussetzungen bedarf. Weil diese in einer zunehmend säkularisierten, Religion ins Private abdrängenden Gesellschaft nicht mehr ohne Weiteres gegeben sind, werden Arbeitshilfen wie die des FMI in Zukunft nicht nur in der Migrationssozialarbeit, sondern noch in weiteren gesellschaftlichen Feldern auf große Nachfrage stoßen.


Rüdiger Braun, 12.11.2021

 

Quellen

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (2017): Über den Humanismus als Integrationsfaktor,https://tinyurl.com/4cmt6vjr (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 7.10.2021).

FMI (Fachzentrum für Soziale Arbeit in den Bereichen Migration und Integration): Arbeitshilfe: Religionssensible Migrationssozialarbeit,www.isa-brb.de.

Siegert, Manuel (2020): BAMF-Kurzanalyse. Die Religionszugehörigkeit, religiöse Praxis und soziale Einbindung von Geflüchteten,https://tinyurl.com/4v6a38ph.

Weitz, Burkhard (2015): Die Gretchenfrage stellen (Interview mit Henning Kiene, 25.2.2015),

https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2015/30931/ist-es-peinlich-ueber-religion-zu-reden.