Stefanie Schmiedler

Ein radikal übernatürliches Leben

Die „Wort+Geist“-Bewegung und der „Völkerapostel“ Helmut Bauer

„Guten Morgen ihr Starken! Ihr Starken – ihr seid unzerstörbar!“1 Solche oder ähnliche Begrüßungen am Sonntagmorgen mögen auf den einen oder anderen erquickend wirken und dafür sorgen, dass man sich in einem Gottesdienst bei „Wort+Geist“ wohlfühlt. Andererseits können derartige Sätze auch Verwunderung und Befremden auslösen und die Frage aufwerfen: Was ist das für eine neue Bewegung, und wie ist sie einzuschätzen?

Entstehungsgeschichte

Die Geburtsstunde des „Wort+Geist-Zentrums“ liegt im Jahr 1999. Da aber Entstehung und Entwicklung eng mit der Stifterfigur Helmut Bauer verbunden sind, sollte eine Beschreibung bereits neun Jahre früher beginnen. Nach Bauers eigenen Angaben hat sich zu jener Zeit eine Art Konversion ereignet. „In der Nacht von Pfingstsamstag auf Pfingstsonntag 1990, genau um Mitternacht, sei plötzlich – ganz unerwartet – der Heilige Geist über ihn gekommen, obwohl er vorher nie wirklich etwas mit Jesus zu tun haben wollte. Eine starke Kraft kam und blieb auf ihm. Gleich darauf begannen Wunder zu geschehen.“2 In der Folge kam er zu dem Entschluss, sein Leben bewusst Jesus zu übergeben und auch den Lebenswandel seiner Familie und Freunde zu inspirieren. 1994 trat Bauer der Freien Christengemeinde in Freyung (Bayerischer Wald) bei; er wurde Mitglied im Leitungskreis der Gemeinde. 1997 entschloss er sich, das Rhema-Bibeltrainingszentrum in Wels zu besuchen und begann zur gleichen Zeit mit einem Hauskreis in seinem Wohnzimmer. In dieser Phase entwickelte Bauer seine Lehre und fand in Gemeinde und Hauskreis viele begeisterte Anhänger, aber auch Gegner. Wie Hildegrad Jankenschläger, ein Mitglied der damaligen Gemeindeleitung, berichtet, wurden die theologischen Unstimmigkeiten letztlich so groß, dass Bauer 1999 die Gemeinde in Freyung mit einem großen Teil ihrer Mitglieder verließ und im benachbarten Waldkirchen das „Wort+Geist-Zentrum“ gründete.

Damit beginnt die Erfolgsgeschichte der Bewegung. Bereits in den folgenden beiden Jahren werden Tochtergemeinden in Deggendorf und Regen gegründet. 2001 startet man mit einer Bibelschule. 2002 zieht das Hauptzentrum samt Bibelschule nach Röhrnbach und bildet von nun an das Herzstück der Bewegung. In ganz Deutschland und sogar über die Grenzen hinaus entsteht innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Gemeinden. 2003 wird „Wort+Geist-Zentrum“ als gemeinnützige GmbH anerkannt. Ein Jahr später gründet man die „Wort+Geist Medien AG“, die von da an zur Publikation der Lehren genutzt werden kann.

Wurzeln und Lehrgrundlagen

Als Ausgangspunkt von „Wort+Geist“ sind die „Wort des Glaubens“-Bewegung und ihr geistiger Vater Kenneth Hagin (1917-2003) anzusehen. Dieser verband pfingstlich-charismatische Frömmigkeit mit der Kraft des positiven Denkens zu einer Art Erfolgstheologie. Von einer trichotomischen Anthropologie ausgehend, stehen Leib und Seele unter der zentralen Wirklichkeit des Menschen – dem Geist. Bei der Bekehrung wird dieser vollständig durch Gottes Geist in Besitz genommen. Glaube wird damit zu einer göttlichen Kraft im Menschen, die, wenn sie anerkannt und proklamiert wird, die gesamte Lebenssituation verändern kann. Diese Ausstattung mit göttlicher Kraft und Autorität bezieht sich auf alle Bereiche des Lebens. Die Vorstellungskraft des Geistes und dessen Bekenntnis können Realität schaffen, so dass es möglich ist, Krankheit und Armut zu überwinden.

Aus dem angelsächsischen Raum kommend hat die Glaubensbewegung schon seit den 70er Jahren auch in Deutschland einzelne charismatische Gruppen und Gemeinden beeinflusst. Vielfach wird sie aber auch sehr kritisch gesehen.

1974 gründete Hagin in Tulsa das Rhema Bible Training Center USA. Dort sollen Menschen zum brauchbaren praktischen Dienst in der Welt und für Gottes Ernte ausgebildet werden. Seit 1994 existiert auch im österreichischen Wels eine Zweigstelle der Bibelschule. Diese besuchte Helmut Bauer zwei Jahre lang und fand zu dieser Zeit die Grundlagen für „Wort+Geist“.

Die „Wort+Geist“-Bewegung geht von der Grundannahme aus, dass durch Gottes Erlösungstat der menschliche Geist völlig neu geboren wurde und eine göttliche Substanz bekommen hat.3 Der Mensch besitze noch eine Seele und lebe in einem Körper, aber er sei vor allem ein geistliches Wesen.4 Das heißt, Christus lebe nun im Menschen und vollbringe durch ihn seine vorbereiteten Wunder.5 Damit beginnt für „Wort+Geist“ das „übernatürliche“ Leben bereits hier auf Erden und nicht erst im Himmel.6

Das zu erfassen, sei der eigentlich entscheidende Punkt, und das Problem der meisten Christen liege darin, dass sie ihre echte Existenz nicht erkennen bzw. sie mit dem Verstand zu begreifen versuchen. Diesen aber gelte es auszuschalten, denn: „Wenn du den ganzen Tag von deinem Verstand beherrscht wirst, kommt diese übernatürliche Ebene nicht zum Zug. Dein Verstand wird dir keine Ruhe lassen und er wird verhindern wollen, dass du in diese übernatürliche Welt vordringst.“7 Wer sich hingegen darauf konzentriere, was Christus für ihn am Kreuz vollbracht habe, wer erkenne, dass er nun aus Gott ist und nicht mehr von dieser Welt, der könne auch seine Position als „Außerirdischer“, „Supermensch“8 bzw. „Leader des Universums“9 einnehmen und wirklich praktisch erleben, was Gott ihm geschenkt hat. Dazu gehöre, dass es uns in jeglicher Hinsicht gut geht. „Gott lügt nicht und er will nur eins: Dass Sie gesund sind, stark, voller Freude und mit ihm Gemeinschaft haben.“10 „Jeder Mensch hat einen Anspruch auf göttliche Gesundheit. Mangel an Erkenntnis lässt die Menschen Krankheit und Schwäche erdulden und akzeptieren.“11

Diese Überzeugungen gipfeln teilweise in Aussagen wie den folgenden: „Du bist Christus der Gesalbte! ... Du hast alle Macht bekommen so wie Christus, in allem den Vorrang hat! Ja du bist Gott hier auf dieser Erde! ... Die Söhne hier sind sie. Geschaffen wie Gott! Genauso! Die Himmlischen wie der Himmlische jetzt!“12 „Er [Gott] kommt nicht um Mensch zu werden, er kommt um die Menschen zu Göttern zu machen!“13 Auch an Kinder soll diese frohe Botschaft weitergegeben werden, damit sie zu göttlichen Persönlichkeiten heranwachsen können. „Wort+Geist“ sieht die Aufgabe darin, den Kindern bewusst zu machen, welche Macht Gott ihnen genauso wie den Erwachsenen gegeben hat.

Ausbreitung der Bewegung

Vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Gründung kann man eine bedeutende Ausbreitung der „Wort+Geist“-Bewegung konstatieren. Anfänglich sind es die monatlich stattfindenden Heilungsgottesdienste, die Hunderte von Menschen anlocken. Durch die wachsende Zahl an Mitgliedern müssen bald in der Nähe gelegene Tochtergemeinden gegründet werden. Mit der Zeit sprechen sich die Berichte über „Wort+Geist“ vor allem in pfingstlich-charismatischen Gemeinden in ganz Deutschland herum. Röhrnbach wird zu einer Art Wallfahrtsort. Mit der Einrichtung der Bibelschule entsteht ein weiterer Anziehungspunkt. Die ebenfalls angebotene Fernbibelschule ermöglicht es, auch von zu Hause Kontakt zu halten und den neuen Botschaften zu folgen. Einige Besucher entscheiden sich, ihren Wohnort in den Bayerischen Wald zu verlegen, viele aber gehen mit den empfangenen Impulsen in ihre Gemeinden zurück. Dort finden dann die entscheidenden Schritte der Ausbreitung statt. Man versucht in der eigenen Gemeinde Anhänger zu finden und die Lehre umzusetzen. So haben sich vereinzelt ganze Gemeinden der neuen Bewegung angeschlossen. In den meisten Fällen kam es jedoch zu Neugründungen durch Abspaltung. Viele freikirchliche Gemeinden und vor allem die „Jesus Freaks“ haben mit diesem Vorgang schmerzliche Erfahrungen gemacht.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man 25 Gemeinden in Deutschland, zwei in Österreich und eine in der Schweiz zählen. Dazu kommen acht Hauskirchen in Deutschland, die ebenfalls offiziell zur „Wort+Geist“-Bewegung gehören.

Was hat „Wort+Geist“ zu bieten?

Der Erfolg von „Wort+Geist“ setzt wohl bei der Unzufriedenheit und Ermüdung in vielen christlichen Gemeinden an. Die neue Bewegung steht für Kraft, Power, Erfolg und Attraktivität. So schreibt ein begeisterter Anhänger in seinem Internetblog: Die Bewegung „setzt Menschen wirklich frei von religiösen Komplexen, Ängstlichkeit, Verschrobenheit, die das Christsein so unattraktiv für Außenstehende macht. Sie bringt rasch bleibende Freude, Freiheit und Liebe hervor, wobei natürlich alle noch Menschen bleiben und Fehler machen, aber Unreife gibt’s überall.“14 Man verfolgt bei „Wort+Geist“ ein aktionistisches Modell von Mission. Nichtgläubige werden nicht direkt geworben. Man geht davon aus, dass der Erfolg und das Wohlergehen der Gläubigen bzw. das eigene Erleben von Vorteilen und Segnungen ausreichend Wirkungskraft besitzen, um auch andere zum Glauben zu führen. Karl Pilsl nennt dies einen „durch die Offenbarungserkenntnis ausgelösten Automatismus“. Glaube, Handeln, Ergebnisse, Attraktivität, Anziehungskraft und Multiplikation bilden für ihn einen „unvermeidlichen Entwicklungszusammenhang“, der schließlich zur „großen Seelenernte“ führt.15

Die Heilungsgottesdienste, die von Beginn an Anziehungspunkte waren, finden inzwischen außer in Röhrnbach auch in Deggendorf und Linz je einmal monatlich statt. Hier wird man eingeladen, „Gott in Aktion“ zu erleben. Auf der Internetseite des „Wort+Geist-Zentrums“ findet sich eine Auflistung zahlreicher Berichte, in denen Menschen ihre Heilungen schildern. Der Katalog reicht von verschiedenen Schmerzstillungen über die Heilung diverser orthopädischer Probleme und Allergien bis hin zur Richtung schiefer Zähne und zur Verlängerung zu kurz geratener Gliedmaßen. Für dauerhafte Mitglieder der Bewegung ist der Besuch dieser Gottesdienste allerdings eher unvorteilhaft, da Krankheiten für sie eigentlich keine Rolle mehr spielen sollten.

Ein Angebot, das sich vor allem an Neulinge wendet, ist die Bibelschule.16 Sie zu durchlaufen dauert zwei Jahre (sechs Trimester), wobei der Unterricht an drei Abenden in der Woche stattfindet. Die persönliche Anwesenheit im Ausbildungszentrum in Röhrnbach ist dabei nicht erforderlich. Mit zur Verfügung gestelltem Material in Form von Audiovorträgen kann man in ganz Deutschland die Botschaften aus Röhrnbach verfolgen. Die Kosten belaufen sich pro Person und Trimester je nach Materialart auf 340 bis 400 Euro. Zusätzlich zu diesem Angebot findet viermal im Jahr die immer lang im Voraus ausgebuchte Jahreszeiten-Bibelschule statt. Hierbei handelt es sich um einen einwöchigen Intensivworkshop, an dem z. Zt. jeweils 500 Interessierte teilnehmen können.

In den meisten Gemeinden gibt es zudem einmal wöchentlich eine Art Lehrabend, der auch Offenbarungsabend, Kraftabend oder Powertreff genannt wird. Die Verfestigung der Lehre, aber auch die Verbreitung neuer Erkenntnisse bzw. Offenbarungen kann hier sowie im meist sonntags stattfindenden Gottesdienst erfolgen. Dieser hat die für pfingstlich-charismatische Gruppen charakteristische Gestaltung: Halb- bis dreiviertelstündige Blöcke von Predigt und Lobpreis wechseln sich ab. Eine Gesamtdauer von drei Stunden ist nicht ungewöhnlich. Zum Predigen ist im Grunde jeder berufen. In den meisten Gemeinden sprechen vor allem die jeweiligen Leiter und reisende Prediger und Predigerinnen. Gesprochen wird frei, spontan und in dem Bewusstsein, vom Geist geleitet zu werden. Bei Bedarf wird auch eine wahllos aufgeschlagene Bibelstelle rezitiert und als Impuls genutzt. Engagiert, unermüdlich und durchaus auch polemisch schwört man die lautstark reagierende Gemeinde auf das neue Leben ein. Die in Spannungsbögen verlaufenden Reden gipfeln immer wieder in kleinen Höhepunkten. Besonders ausgelassen wird die Stimmung jedoch in den Lobpreisphasen. Zumeist recht professionell anmutende Bands spielen und singen, während die kurzen und oft wiederholten Textpassagen an die Wand projiziert werden. Junge und Alte tanzen und singen wie bei einem Popkonzert.

Im Ganzen gesehen klingen in den Gottesdiensten klassische Merkmale von Enthusiasmus und Ekstase an. Neben auffällig langen und intensiven Umarmungen unter den Gemeindegliedern, euphorischem Aufstehen, Klatschen und Jubeln fällt vor allem ein ständiges, oft bis zur Ekstase gesteigertes Lachen auf, bei dem teilweise die Kontrolle über den Körper verloren zu gehen scheint. Alex Thomsen, einer der Reiseprediger von „Wort+Geist“, sagt dazu: „Vielleicht dachtest du bis jetzt: Ja, die sind ja besoffen. Das stimmt auch. Wir sind besoffen. Wir sind voll Heiligen Geistes ... Bei diesem Lachen handelt es sich um ein triumphales Lachen von Siegern.“17

Stellung zu anderen Christen

Obgleich „Wort+Geist“ vor allem in den Anfangsjahren viel begeisterten Zulauf hatte, wurden besonders im pfingstlich-charismatischen Bereich auch schnell kritische Stimmen laut, obwohl man mit gegenseitiger Kritik sonst sehr zurückhaltend ist. Bereits vor mehreren Jahren haben sich diverse Gemeindebünde und Netzwerke – wie etwa die im „Bund Freier Pfingstgemeinden“ (BFP) zusammengeschlossenen Gemeinden und das charismatische D-Netz, ein lockerer Zusammenschluss zahlreicher unabhängiger Gemeinden – ausdrücklich von „Wort+Geist“ distanziert. Die Initiative „Geistliche Gemeinde-Erneuerung“ im „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden“ kommt in einer 2006 veröffentlichten Stellungnahme zu dem Schluss: „Wenngleich Gott in der Röhrnbacher Bewegung hier und da Zeichen seiner außergewöhnlichen Gnade gewirkt hat, so müssen wir doch leider feststellen, dass diese Bewegung sich in ihrer Lehre weit von dem Gesamtzeugnis der Bibel und aus der Gemeinschaft der christlichen Gemeinden in Deutschland entfernt hat.“

Zu den häufigsten Kritikpunkten gehören die entstandenen Gemeindespaltungen, die Stellung Helmut Bauers, Äußerungen über die göttliche Existenz der Christen und die damit verbundene Missinterpretation und Verkürzung der Erlösungslehre, die Abwertung des Alten Testaments und schließlich die Diffamierung und Dämonisierung bestehender Kirchen und Freikirchen.

Im September 2006 sah sich die „Wort+Geist“-Bewegung zu einer offiziellen Verlautbarung veranlasst, in der sie auf Anfragen und öffentlich geäußerte Kritik einging. Eine teilweise abgewandelte Form dieses Textes ist auch heute noch als Glaubensgrundlage auf der Internetseite des Zentrums zu finden. Die Stellung zu anderen Christen beschreibt man dort folgendermaßen: „Wir glauben nicht, dass die Bewegung WORT+GEIST der einzige Zweig des Leibes Christi ist, durch den Gott momentan wirkt, aber wir stehen auch in voller Zuversicht zu dem uns von Gott gegebenen Auftrag der Reformation und der damit verbundenen Erweckung von geistlichem Leben sowohl im Leib Christi als auch unter noch nicht Gläubigen.“18

In den Predigten und Büchern werden oft etwas deutlichere Worte gefunden, um die Umstände dieser Reformation zu erklären. So der Berliner Prediger Andres Irmisch: „Früher war ich völlig religiös verseucht ... Die Söhne, die aus Gott geboren sind, haben sich betören lassen von der Religion. Sie haben sich verführen lassen. 2000 Jahre Verführung. Und jetzt beginnt etwas Neues!“19 Mitchristen werden als religiöse Geister bezeichnet, deren Lügen es aufzudecken gilt, da sie, wie Karl Pilsl schreibt, dem Leib Christi Power kosten und sogar das Wort Gottes außer Kraft setzen würden.20 Grundsätzlich gilt, Liebe könne sich nur mit Liebe austauschen und wer nicht im Geist sei, könne nichts geben.21 So kommentiert man z. B. im Kindergottesdienst Schwierigkeiten beim Finden von Freunden oder allgemein beim Austausch mit nicht vom Geist erfüllten Menschen: „Warum ist das so? Na ja, weil der Teufel kann mit Gott nicht reden.“22

Gegenwärtige Entwicklungen

Inzwischen scheint die stärkste Zuwachsphase der „Wort+Geist“-Bewegung der Vergangenheit anzugehören. Es gibt erste Aussteigerberichte und eine breite Kritikerlobby, die sich im Internet austauscht.23 Zum Stillstand gekommen ist die Bewegung aber durchaus nicht. In den letzten Jahren und am sichtbarsten wohl in den vergangenen Monaten hat sich in ihrem Inneren eine Entwicklung vollzogen, die man sicherlich als erhebliche Radikalisierung bezeichnen kann.

Kennzeichnend für diesen Vorgang ist das Ausrufen einer neuen Zeitrechnung im Sommer des vergangenen Jahres. Laut einer Predigt des Hamburger Gemeindeleiters Alex Thomsen habe seit der Sommerbibelschule 2008 in Deutschland die „Stunde Null“ begonnen. Helmut Bauer sei aufgestanden und habe nun seinen Stand als Völkerapostel eingenommen. Zudem würde er als solcher nun neue Apostel einsetzen, die unter seiner Autorität ins Land hinausgehen und überall Schlüsselpositionen der Reformation aktivieren.24 Man geht davon aus, dass jetzt „die göttliche Ordnung“ etabliert wird.

Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung stehen auch Innovationen und Umbrüche in der Lehre der Bewegung. So predigte der Berliner Gemeindeleiter Andres Irmisch Anfang des Jahres: „Ich habe hier bis vor ein paar Wochen was anderes gepredigt. In den meisten Büchern steht’s auch anders drin. Aber Gott gibt Offenbarungen; dass es weiter geht. Dass das Bild, das wir erkennen dürfen, immer vollkommener wird.“25 In Bezug auf die Bibel bedeutet dies eine enorme Abschwächung ihrer Autorität: „Manche Dinge, die wir bereits jetzt predigen und die kommen werden, wirst du in keinem Buch finden, nicht mal in der Heiligen Schrift. Weil es ja weiter geht ... Begrenze Gott nicht mit diesem Buch.“26

Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung sind verschärfte Einstellungen zur Liebe. Die göttliche Liebe spielte bei „Wort+Geist“ schon immer eine sehr große Rolle. Es herrscht die Vorstellung, dass jeder durch den Geist die göttliche Liebe in sich trägt und Liebesenergien von einem zum anderen fließen können. Dies geschieht durch intensiven Blickkontakt und innige Umarmungen, bei denen die Geister „verschmelzen“. Damit sich die Liebe Bahn brechen kann, müssen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, zu denen im Zuge der neuesten Entwicklungen auch die Ehe gezählt wird. Sie habe ausgedient und sei das größte Bollwerk gegen das Durchbrechen der göttlichen Liebe.27

Die Verehrung Helmut Bauers hat durch seine Einsetzung als Völkerapostel ihren bisher höchsten Stand erreicht. Er hat eine Art Mittlerposition zwischen Gott und den Menschen eingenommen. Die Gläubigen sind ganz auf ihn ausgerichtet, und er scheint stellvertretend die Beziehung zu Gott zu führen. Das gipfelt in Aussagen wie diesen: „Ich bin ausgerichtet auf den Apostel. Ich glaub auch nicht Gott, ich glaub ihm. Amen!“28 „Durch dich, durch deine Liebe leben wir!“29

Schließlich geht man auch auf der Ebene der übernatürlichen Kräfte von einer kontinuierlichen Steigerung aus. Schon jetzt seien neben der Macht zu heilen und Dämonen auszutreiben teilweise Geistreisen, Gedankenlesen und Himmelserfahrungen möglich. „Wir werden die natürliche Ebene des Seins komplett verlassen. Täuscht Euch nicht. Nur weil wir noch keine Toten auferweckt haben, ist es trotzdem die höchste Salbung, in der Menschen jemals gedient haben. Es ist eine Autorität, die sich permanent steigert.“30 Ein letztes Zitat soll die zusammengefasste Darstellung der neuesten Entwicklungen beenden: „Diese Bewegung geht in die zweite Phase! Es wird zu einer Selektion kommen, zu einer Aussonderung. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“31

Besonders die Entwicklungen der letzten Zeit deuten darauf hin, dass sich die „Wort+Geist“-Bewegung in einem unberechenbaren Prozess befindet und ihre Aussagen schwerlich mit einem authentischen christlichen Zeugnis in Einklang zu bringen sind. Die durchaus gesunde Grundtendenz zur lebensfrohen und dankbaren Annahme der von Gott geschenkten Gnade wird bei „Wort+Geist“ bis zur Hybris gesteigert. Anstatt sich mit mühevollen und kritischen Lebenserfahrungen auseinanderzusetzen, leugnet oder verteufelt man sie. Der Mensch sieht sich dadurch unvermeidlich mit einem Dilemma konfrontiert – der Unvereinbarkeit von Erleben und Vorstellen der eigenen Existenz. Dies birgt besonders für Kinder und seelisch instabile Menschen ein gefährliches Potential. Wer körperliche und seelische Probleme weder äußern noch haben darf, gerät in einen Konflikt, für den es keine Lösung gibt. Dieses Dilemma ist womöglich auch der Grund für die radikale Steigerung der Aussagen. Das stetige Anschwellen ist scheinbar der Versuch, den eigentlich unmöglichen Verbleib auf einem ständig hohen Euphorieniveau zu ermöglichen.


Stefanie Schmiedler, Berlin


Anmerkungen

1 Andres Irmisch, Berlin, Predigt vom 18.1.2009: „Völlig anders – völlig neu“. Diese sowie alle im Folgenden zitierten Predigten wurden von der Bewegung vorübergehend im Internet zum Download bereitgestellt und liegen der Redaktion als Audiodatei vor.

Charisma 129 (2004), 4.

3 Vgl. Helmut Bauer, Die Invasion der Außerirdischen, Röhrnbach 2006, 12.

4 Vgl. ebd. 15.

5 Vgl. Karl Pilsl, Der kybernetisch wirkungsvollste Punkt im Glaubensleben, Röhrnbach 2004, 15. Karl Pilsl hatte in den Anfangsjahren eine zentrale Stellung in der „Wort+Geist“-Bewegung inne. Er war Prediger und Buchautor, Leiter des Ausbildungsbereiches, Vorstandsvorsitzender der „Wort+Geist Medien AG“ und persönlicher Freund Helmut Bauers. Seit 2006 geht er allerdings wieder eigene Wege. Er ist selbständiger Medienunternehmer, Wirtschaftsjournalist/-berater und Gründer dutzender Firmen und Organisationen in Österreich, Deutschland und den USA. Als solcher hält er zahlreiche Vorträge zu den Themen Wirtschaftsrevolution und erfolgreiches Leben.

6 Vgl. H. Bauer, Die Invasion der Außerirdischen, a.a.O., 13.

7 Ebd., 80.

8 Ebd., 12, 14.

9 Vgl. K. Pilsl, Der kybernetisch wirkungsvollste Punkt, a.a.O., 15.

10 Karl Pilsl, ... und er heilte sie alle, Röhrnbach 32004, 25.

11 H. Bauer, in: Karl Pilsl, ... und er heilte sie alle, a.a.O., 25.

12 Andres Irmisch, Berlin, Predigt vom 18.1.2009: „Völlig anders – völlig neu“.

13 Alexander Fuhrmann, Röhrnbach, Predigt vom 25.1.2008: „Frei vom Menschlichen“.

14 Michael Stadler, 27.7.2006 im depone-Internet-Blog.

15 Vgl. K. Pilsl, Der kybernetisch wirkungsvollste Punkt, a.a.O., 38-44.

16 Beispiele für Lehrinhalte: „Der Erlösungsplan“, „Die neue Art des Lebens“, „Die neue Schöpfung“, „Die neue Art der Erkenntnis und des Glaubens“, „Heilung und göttliche Gesundheit“, „Göttliche Verwalterschaft“, „Leiterschaft und Hingabe“.

17 Alex Thomsen, Köln, Predigt vom 18.10.2008.

18 www.wortundgeist.de/index.php?option=com_content&task=view&id=2&Itemid=11 .

19 Andres Irmisch, Berlin, Predigt vom 18.1.2009: „Völlig anders – völlig neu“.

20 Vgl. K. Pilsl, Der kybernetisch wirkungsvollste Punkt, a.a.O., 15f.

21 Vgl. Kinderpredigt Ana/Ingrid, Röhrnbach, 18.1.2009: „Ich bin Liebe“.

22 Ebd.

23 Beispiele: http://irrglaube.parlaris.com; www.pray.de; www.bibelkreis.ch.

24 Alex Thomsen, Hamburg, Predigt vom 31.8.2008: „Stunde Null“.

25 Andres Irmisch, Berlin, Predigt vom 18.1.2009: „Völlig anders – völlig neu“.

26 Ebd.

27 Michael Trenkel, Köln, Predigt vom 22.11.2008: „Bis dass der Tod euch scheidet“.

28 Ralf Schuppan, Röhrnbach, Predigt vom 14.12.2008: „Jesus im Fleisch“.

29 Ebd.

30 Alex Thomsen, Köln, Predigt vom 18.10.2008.

31 Ralf Schuppan, Röhrnbach, Predigt vom 14.12.2008: „Jesus im Fleisch“.