Esoterik

Ein Dinosaurier wurd´ immer trauriger ...

Die Fußball-Bundesligasaison 2013/14 neigte sich dem Ende zu. Unvorstellbares drohte. Neben dem 1. FC Nürnberg und Eintracht Braunschweig bangte auch der Bundesliga-Dinosaurier Hamburger Sportverein (HSV) um den Verbleib in der höchsten deutschen Spielklasse. Hamburg war in Sorge: Sollte nach 51 Jahren Erstligazugehörigkeit die Stadionuhr abgestellt werden? Und der HSV versuchte alles. Vier Spieltage vor Saisonende nahm Joseph Kuhnert – in den Medien als „Geistheiler“ und „Bio-Energetiker“ bezeichnet – seine Tätigkeit beim Bundesligisten auf. Als Honorarkraft wurde er der medizinischen Abteilung zugeordnet, um – wie schon sieben Jahre zuvor – die Spieler mental zu stärken. Das Medienecho auf diese ungewöhnliche Maßnahme war gewaltig. Selbst dem europäischen Fußballverband UEFA war das Engagement Kuhnerts Anfang Mai 2014 eine Meldung auf seiner Homepage wert.

In einem Zeitungsinterview beschrieb Kuhnert seine Arbeitsweise, bei der verschiedene Praktiken der Esoterik-Szene eine Rolle spielen. Er habe Kristallarbeit von einem speziellen Trainer gelernt: Hohe Energie von Bergkristallen werde „in einem speziellen Muster, der Blume des Lebens, angeordnet. Das Muster ist auch auf vielen heiligen Tempeln, schon aus der Zeit der alten Ägypter zu finden ... die hauptsächliche Energie fließt durch mich und den Kontakt und die Einweihungen, die ich von den Spielern erhalte“ (Hamburger Morgenpost, 29.4.2014). Allerdings nahm Kuhnert für sich nicht in Anspruch, den HSV vor dem Abstieg retten zu können. Er würde den Spielern nur helfen, in Harmonie zu kommen, um bessere Leistungen durch mehr Kraft und Energie bringen zu können.

Die Mitwirkung eines Bioenergetikers, der mit Bergkristallen neue Kräfte bei Profifußballern freisetzen sollte, führte zwar zu süffisanten Kommentaren in Internetforen und in der Presse, es blieb aber vor der Öffentlichkeit verborgen, wie viele Spieler Kuhnerts Dienste in Anspruch nahmen. Im Zeitungsinterview behauptete Kuhnert, mehrere Spieler hätten sich an ihn gewandt. Andere – wie der niederländische Nationalspieler Rafael van der Vaart – zeigten kein Interesse an dem Angebot: „Das ist persönlich und privat, wenn einer das machen will. Ich brauche das nicht“ (Hamburg 1, 13.5.2014).

Der HSV war nach Auskunft des Mediendirektors Jörn Wolf vor allem an Kuhnerts Arbeit als Bioenergetiker interessiert. Diese Körpertherapieform beruht auf einer Konzeption von Alexander Lowen (1910 – 2008), von dem sie 1956 als Bioenergetik bzw. bioenergetische Therapie vorgestellt wurde. Durch Körperübungen soll u. a. „das Gefühl der Harmonie mit dem Universum“ festgehalten werden.Grundlegend für die bioenergetische Therapie ist die Einteilung in fünf verschiedene Charaktertypen (schizoide, orale, psychopathische, masochistische, rigide Charakterstruktur), denen jeweils ein bioenergetischer Zustand, eine körperliche Erscheinung, psychologische Begleitmerkmale sowie ursächliche und historische Faktoren zugeordnet werden (vgl. Alexander Lowen, Bio-Energetik, Bern 1986).

Die Bioenergetik mit den fünf Charakterstrukturen baut auf der von Wilhelm Reich (1897 – 1957) entwickelten Orgontherapie auf, in deren Mittelpunkt das Freisetzen einer blockierten Lebensenergie steht. Diese sei in den als Batterien bezeichneten „Orgonakkumulatoren“ gesammelt und gespeichert worden; Reich behauptet, bei Abgabe dieser Energie seien auch bei lebensbedrohlichen Krankheiten außergewöhnliche Heilungserfolge erzielt worden.

Lowen hat die Vorstellung blockierter Energien aufgenommen – allerdings ohne die der Akkumulatoren. Bioenergetiker gehen davon aus, dass in der jeweiligen Charakterstruktur zentrale lebensgeschichtliche Konflikte „konserviert“ und dadurch körperlich Energie „gebunden“ wird. Über 100 Körperübungen könnten diese „konservierten“ Gefühle freisetzen. Im Mittelpunkt steht das sogenannte „Grounding“ (Erden), durch das „das Erregungsgeschehen im Menschen mit dem Körper, der Sexualität, der Erde, d. h. der Realität“ verbunden werde. Im Ergebnis fühle sich der Mensch „im Kontakt mit sich. Er erlebt mehr Sicherheit über seinen Stand und seine Balance. Er weiß, wo und wie er steht, wer er ist und dass er jemand Bestimmtes ist“ (Ulrich Sollmann, Bioenergetische Analyse/Bioenergetik, in: Handbuch für ganzheitliche Therapie und Lebenshilfe, Gschwend 1999, 38-41).

Kritik ruft die bioenergetische Analyse insbesondere wegen der These hervor, die Konservierung lebensgeschichtlicher Konflikte führe zur Blockade des Energieflusses im Körper. Als problematisch erscheinen auch die Einteilung in fünf Charakterstrukturen und mangelnde Nachweise zur Wirksamkeit bioenergetischer Übungen.

Dass ein Bundesligist kurz vor Saisonende angesichts des drohenden Absturzes in die Zweitklassigkeit einen Bioenergetiker engagierte, der zudem glaubt, vermeintlich in Bergkristallen gespeicherte Energie nutzen und mit Einweihungen den Energiefluss herstellen zu können, wirkte wie das verzweifelte Klammern an den berühmten letzten Strohhalm. Und es erinnert an Berichte aus der Esoterik-Szene, dass sich zweifelhaften Therapieformen zugewendet wird, wenn Heilung aus medizinischen Gründen ausgeschlossen scheint.

Dem HSV jedenfalls ist es gelungen, in der ersten Liga zu überleben. Ob trotz oder wegen der vermeintlichen Zuführung universaler Energien durch einen Bioenergetiker, wird wohl immer offen bleiben. Festzuhalten ist, dass der HSV in der Bundesliga nach Aufnahme der Tätigkeit Joseph Kuhnerts bei 5:13 Toren punktlos blieb. Und auch in den beiden Entscheidungsspielen hat der HSV den Abstieg nur denkbar knapp vermeiden können. Für den Fall des Scheiterns hatte Kuhnert im Zeitungsinterview schon vorgebaut. Die Frage, ob er den HSV retten könne, verneinte er: „Am Ende kommt es aber darauf an, dass es zielführend auf dem Platz umgesetzt wird.“ Hamburg atmete schlussendlich auf, der Dino konnte sich trotz trauriger Saisonbilanz am Ende noch retten.


Jörg Pegelow, Hamburg