Interreligiöser Dialog

„Die Zukunft der Religion“: Konferenz anlässlich der Woche der interreligiösen Harmonie

In einer bis dahin beispiellosen Aktion wandten sich im Oktober 2007 insgesamt 138 muslimische Gelehrte aus der ganzen Welt in einem offenen Brief „A Common Word between Us and You“ an die Christenheit.1 In ihrem Schreiben luden sie den damaligen römisch-katholischen Papst Benedikt XVI. und „Führer christlicher Kirchen überall“ zu einem Gespräch über die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Weltreligionen ein. Diese Initiative nahm drei Jahre später der jordanische König Abdullah II. auf und schlug auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2010 die Verabschiedung einer UN-Resolution über die Einführung einer „World Interfaith Harmony Week“ vor. Diese wird seither jedes Jahr in der ersten Februarwoche begangen und bietet weltweit Anlass für vielfältige interreligiöse Veranstaltungen.

In diesem Jahr lief Corona-bedingt im interreligiösen Dialog vieles anders als sonst; was blieb aber waren die Gemeinsamkeiten. Eine aktuell besonders naheliegende Gemeinsamkeit nahezu sämtlicher Religionsgemeinschaften der Welt griffen nun auch drei interreligiöse Dialogorganisationen auf. Am 2. Februar luden das Interfaith Center of New York (ICNY), Interfaith Glasgow und die Cape Town Interfaith Initiative zu einer drei Kontinente und sieben Zeitzonen umspannenden Online-Diskussion zum Thema „Die Zukunft der Religion – Wie hat die Pandemie unsere religiöse Praxis verändert?“ In anderthalb dicht gefüllten Stunden erhielten die insgesamt 80 TeilnehmerInnen (vorwiegend aus den gastgebenden Ländern USA, Großbritannien und Südafrika) Gelegenheit, mehr über die Auswirkungen der das spirituelle Leben fast aller Religionsgemeinschaften gleichermaßen treffenden Corona-Einschränkungen zu lernen und sich über eigene Erfahrungen auszutauschen. Um den Gesprächsgegenstand abzugrenzen, formulierte Rose Dew, Geschäftsführerin von Interfaith Glasgow, die alle TeilnehmerInnen bewegende Frage: „Wie wird die ‚neue Normalität‘ aussehen?“ Aus den Erfahrungen der Gegenwart sollten also Thesen über die Zukunft religiöser Praxis nach dem herbeigesehnten Ende der Corona-Krise entwickelt werden.

Den Auftakt bildete ein Impulsvortrag des Religionswissenschaftlers und Anthropologen Joshua Edelman, der an der Manchester Metropolitan University das Forschungsprojekt „British Ritual Innovation under COVID-19“ (https://bric19.mmu.ac.uk) leitet und von ersten Ergebnissen seiner Untersuchungen von Innovationen, oder nach seinen Worten besser „Anpassungen“, ritueller Praxis während der Corona-Krise berichtete. Denn eine der frühesten Erkenntnisse der groß angelegten britischen Studie sei gewesen, dass religiöse Rituale im Angesicht der Pandemie weniger weiterentwickelt oder gar neu erfunden würden, sondern dass es den Angehörigen aller befragten Religionsgemeinschaften seit nunmehr fast einem Jahr vor allem um eine größtmögliche Kontinuität im Vergleich mit der Vorkrisenzeit gegangen sei. Eine weitere Überraschung sei für ihn gewesen, dass die Anzahl an Gottesdiensten in der Krise eher gestiegen als gesunken sei und die Besuchszahlen dieser online abgehaltenen Veranstaltungen durchschnittlich um ein Dreifaches oder sogar Vierfaches höher lägen als die ihrer konventionellen Pendants vor Ausbruch der Pandemie. Freilich sei dieses gestiegene religiöse Engagement der GottesdienstbesucherInnen vergleichsweise oberflächlicher als zuvor, die Gläubigen sprächen in Interviews eher davon, sich einen Gottesdienst „anzusehen“, als sich als ein Teil des Geschehens zu empfinden.

Daneben verwies Edelman auch auf die sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu den entstandenen Online-Angeboten. Zwar seien Gottesdienste in dieser neuen Form etwa für Menschen mit körperlichen Behinderungen erreichbarer als herkömmliche Präsenzgottesdienste. Auch Angehörige kleinerer Religionsgemeinschaften, die auf dem Land fernab des nächsten Gotteshauses leben, profierten von der aktuellen Situation. Viele Gläubige aller befragten Religionen hätten sich in der Nähe von PC oder Fernseher eigene Gebetsnischen eingerichtet. Diesen und anderen positiven Entwicklungen in der Krise stehe jedoch deutlich das Phänomen der „digitalen Armut“ gegenüber, die Tatsache, dass gerade ältere Menschen oftmals nicht über einen Internetzugang verfügten. Das wohl größte, sämtliche Religionsgemeinschaften betreffende Problem in der Corona-Krise aber sei der Wegfall etablierter Trauerrituale, sodass sich Gläubige nach dem Tod eines Angehörigen alleingelassen fühlten. In vielen Fällen sei nicht zuletzt auch die Finanzierung von Gemeinden gefährdet, vor allem wenn Spenden sonst fester Bestandteil des Gottesdienstes sind.

Auf diese inhaltliche Einführung folgte eine digitale Paneldiskussion, bei der Geistliche unterschiedlicher Glaubensrichtungen an die Ausführungen Edelmans anknüpften und diese mit ihren eigenen Erfahrungen abglichen. Nontando Hadebe, eine katholische Laienpredigerin in Johannesburg, unterstrich die Probleme sozialer Ungleichheiten, die sich auch in der Corona-Krise zeigten oder sogar noch weiter verschärften. In Südafrika sei das zur Pandemiebekämpfung notwendige „social distancing“ der Mehrheit der Bevölkerung aufgrund ihrer beengten Lebensumstände kaum möglich. Auch über einen Internetzugang zu verfügen, sei häufig eine Frage der sozialen Schicht. Der New Yorker Rabbiner Joseph Potasnik ergänzte seine Wahrnehmung, dass es vielen Gemeinden dank digitaler Technologien mitunter besser als zuvor gelinge, auch isolierte und womöglich vereinsamte Mitglieder zu erreichen. Andererseits stünden Online-Formate manchen orthodoxen jüdischen Gemeinden kaum zur Verfügung, da das Sabbatgebot für sie auch den Umgang mit Technologien ausschließe.

Der Imam A. Rashied Omar aus Kapstadt erläuterte, dass man solchen dogmatischen Problemen im Islam u. a. mit einem Verweis auf einen Hadith (überlieferten Ausspruch) des Propheten Mohammed begegnen könne, demzufolge der muslimische Gebetsruf Adhan im Ausnahmefall um die Aufforderung zu ergänzen sei, das Gebet zu Hause zu verrichten. Auch die New Yorker Roshi Pat Enkyo O‘Hara stellte vor allem die positiven Seiten der Pandemie heraus. Die von ihr geleitete buddhistische Gemeinschaft habe in den letzten Monaten viele neue Mitglieder aus der ganzen Welt gewonnen, und vor allem junge Menschen übernähmen vermehrt Verantwortung. Auch finanziell habe man inzwischen wieder Vorkrisenniveau erreicht. Besonders erfolgversprechend schien ihr der digitale Austausch in Kleingruppen. Diesen Gedanken griff abschließend auch Joshua Edelman noch einmal auf, indem er feststellte, dass eben auch Online-Gemeinden tatsächlich Gemeinden seien.

In einer anschließenden Besprechung in kleinerer Runde ergänzte Nontando Hadebe auch noch einige aus ihrer Sicht vorteilhafte Entwicklungen während der Corona-Pandemie. So sei eine deutlich verbesserte Beteiligung von Frauen am katholischen Gemeindeleben in Afrika zu verzeichnen. Auch eine in dieser Runde anwesende Vertreterin der Baha’i-Gemeinschaft in den USA empfand die Krise als Chance. Gerade für ihre Glaubensgeschwister in ländlichen Regionen werde es in der aktuellen Lage deutlich einfacher, Kontakt zueinander zu halten, als zuvor. Zum Abschluss dieser überaus erkenntnisreichen Online-Veranstaltung blendete das gastgebende Interfaith Glasgow eine Kerze ein, um allen TeilnehmerInnen Gelegenheit zu geben, den gemeinsamen Mittag bzw. Abend für eine Minute in Stille nachklingen zu lassen.2


Alexander Benatar

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Friedmann Eißler (Hg.): Muslimische Einladung zum Dialog, EZW-Texte 202, Berlin 2009.
  2. Literaturhinweis: Jeannine Kunert (Hg.): Corona und Religionen. Religiöse Praxis in Zeiten der Pandemie, EZW-Texte 268, Berlin 2020.