Georg Schmid

Die Zukunft der Kirchen und Religionen

Religionswissenschaftliche Skizzen

Im Februarheft (MD 2/2015, 43-58) wurden die Kernergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsunter­suchung der EKD vorgestellt. Der Religionssoziologe Gert Pickel zeigte auf, wie die religiöse und kirchliche Landschaft heute aussieht und welche Tendenzen erkennbar sind. Wie es aber wirklich weitergehen wird, kann nur spekuliert werden. Der Religionswissenschaftler Georg Schmid nahm das 50-jährige Jubiläum der „Evangelischen Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen“ (Rüti bei Zürich)1 zum Anlass, sich auf den „glitschigen Pfad“ religionswissenschaftlicher Prognosen zu begeben. Wir dokumentieren seinen Vortrag.

1 Chancen und Probleme religionswissenschaftlicher Spekulation

Wenn Wissenschaft es wagt, die Zukunft der Kirchen und Religionen vorauszusagen, betritt sie glitschige Pfade. Denn Wissenschaft ist primär systematische Beobachtung des Vorgegebenen. Die Zukunft aber ist nirgends direkt vorgegeben. Wie glitschig dieser Weg der sogenannten wissenschaftlichen Prognosen ist, zeigt sich zum Teil in ihren konträren Ergebnissen: Der Biopsychologe Nigel Barber z. B. stellt fest, dass mit zunehmendem Wachstum des Wohlstandes Religion überflüssig wird und Atheismus sich ausbreitet. Zwischen 2038 und 2041 wird also mit dem allgemeinen Wohlstand Religion völlig aussterben. Eine völlig andere Vision legt uns der Politikwissenschaftler Eric Kaufmann vor.2 Aus seiner Sicht wird die Welt immer religiöser, weil die konservativen religiösen Gesellschaftsschichten und Nationen weit mehr Kinder haben als die wohlhabenden Aufgeklärten. Wer von beiden hat nun recht? Vielleicht ein möglicher Dritter, ein nüchterner Rechner, der gegenwärtige Trends ungebrochen in eine nähere und fernere Zukunft überträgt und voraussagt, dass um 2050 das evangelikale Christentum und der Islam die beiden zahlenmäßig bedeutendsten religiösen Strömungen unserer Welt sein werden?3

Doch nicht nur längerfristige Prognosen, sondern auch kurzfristige Stimmungsbilder werden oft innerhalb von Wochen oder Monaten durch Ereignisse überholt. In der Ausgabe März/April 2013 von „Futuribles“ wird z. B. die Rolle des Islam und der Islamisten im sogenannten arabischen Frühling und der aufbrechende konfessionelle Gegensatz Schiiten/Sunniten besprochen.4 Die kurz danach erfolgte Absetzung von Präsident Mursi und das Vorgehen des neuen Regimes gegen die Muslimbrüder setzten dann neue Akzente in der Debatte. Ähnlich ergeht es den im gleichen Heft publizierten Erwägungen zur Krise oder gar zur Dekadenz der katholischen Kirche – mit Formulierungen von derart deprimierender Nüchternheit, dass sie beinahe aus der Feder eines Mitglieds der Piusbruderschaft stammen könnten.5 Ich vermute, dass François Mabille, der Autor des Artikels, sein Stimmungsbild nach der Wahl von Papst Franziskus korrigieren würde.6

Bevor wir nun das dünne Eis eigener Prognosen betreten, halten wir uns vor Augen, was wir nun tun: Wir spekulieren. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber Spekulation ist nicht immer gleich Spekulation. Wenn wir spekulieren, dann hoffentlich nicht einfach getrieben von eigenen Wünschen und Ängsten, sondern mit Stil. Stilvolle Spekulation lässt sich von möglichst vielen Beobachtungen und Reflexionen leiten. Und sie weiß, was sie tut. Sie weiß, dass sie spekuliert. Sie weiß vielleicht sogar, unter welchen Prämissen, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck sie spekuliert. Solche Angaben machen Spekulation beinahe schon plausibel. Stilvolle Spekulation pflegt nicht zuletzt auch die Kunst, zwischen zur Zeit sichtbaren Trends und möglichen zukünftigen Entwicklungen so sorgsam wie möglich zu unterscheiden, wobei selbstverständlich vielen gegenwärtigen Trends schon heute gegenläufige Entwicklungen gegenüberstehen und zudem nie sicher auszumachen ist, wie lange Trends anhalten werden. Wenn in der religiösen Welt ein Trend zu bestimmend wird, provoziert er in der Regel bald die gegenläufige Entwicklung. Dieses Umschlagen ins Gegenteil wird verständlich, wenn wir die vorvernünftige, subrationale – aber nicht unbedingt irrationale – Dynamik in der persönlichen und kollektiven religiösen Entwicklung beachten. Kurz – auch wer in seinen Prognosen den gegenwärtigen Trends folgt, geht nicht in jedem Fall auf sicherem Pfad. Auch er sollte die Tugend der Unterscheidung pflegen und das spekulativ Näherliegende vom spekulativ relativ Fernen unterscheiden.

2 Prognosen aufgrund gegenwärtiger Trends

2.1 Die sogenannte Entkirchlichung oder Säkularisierung wird in Mittel- und Westeuropa noch fortschreiten. Gleichzeitig rücken in der Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat die sogenannten separatistischen und die sogenannten staatskirchlichen Modelle einander immer näher.

In Mittel- und Westeuropa schrumpfen die traditionellen Großkirchen. Die Zahl der Kirchenaustritte übertrifft bei Weitem die der Eintritte.7 Die laue Beteiligung am gottesdienstlichen Leben führt nicht durchweg, aber oft zum Phänomen nur noch rudimentär gefüllter Kirchen.8 Das Phänomen der mitteleuropäischen Kirchenmüdigkeit9 wird durch das Auftreten einzelner attraktiver Freikirchen nur eingeschränkt, da meistens wachsenden Freikirchen auch schrumpfende freikirchliche Gemeinschaften gegenüberstehen.10 Eindeutigere Grenzen setzt der fortschreitenden Säkularisierung wahrscheinlich auch in Europa in Zukunft der heute weltweit beobachtbare Trend, wonach neue religiöse Bewegungen vor allem pfingstlerischer und islamischer Prägung sich im urbanen Milieu etablieren und als alternative Lebenswelten ausbreiten.11 Trotzdem wächst der Anteil der konfessionslosen Bevölkerung voraussichtlich noch für einige Zeit stetig. Eine Pew-Studie erkennt wachsende Konfessionslosigkeit in allen reicher werdenden Gesellschaften. Wahrscheinlich besteht weltweit ein Zusammenhang zwischen wachsendem Wohlstand und abflauender Religiosität.12 Mancherorts weitet sich die Kirchenmüdigkeit zu einer generellen Religionsmüdigkeit aus. In einer weltweit durchgeführten Atheismus-ISSP-Studie figuriert in der Liste

der glaubensfernsten Regionen der Welt auf Platz 1 das Gebiet der ehemaligen DDR, auf Platz 2 die Tschechische Republik und auf Platz 3 Frankreich.13 Mittel- und Westeuropa figurieren in dieser Liste an prominenter Stelle. Eine Pew-Studie erwähnt die Tschechische Republik mit 76 Prozent konfessionsloser Bevölkerung als das konfessionsloseste Land der Welt (noch vor Nordkorea, 71 Prozent).14

Nur scheinbar überrascht die gegenwärtige Neigung zur Angleichung separatistischer und ehemals staatskirchlicher Ordnungsmodelle. Die auch zahlenmäßig schwindende Bedeutung der ehemaligen Staatskirchen15 ermuntert den Staat, seine Beziehungen zu den bisherigen Mehrheitskirchen zu lockern. Andererseits veranlasst die immer buntere religiöse Szene mit u. a. den vielfältigen Immigrantengemeinschaften christlicher und islamischer Prägung den Staat, seinen mäßigenden Einfluss auf die ganze Weite der religiösen Szene eher aus- als abzubauen. Die Entwicklung der Religionspolitik in Frankreich in den letzten Jahrzehnten deutet eindeutig in diese Richtung. „Réassociation“ nennt Philippe Portier diesen Prozess.16 Wahrscheinlich – so lassen die gegenwärtigen Trends vermuten – treffen sich religiöse Gemeinschaften und westeuropäische Staaten über kurz oder lang in einem wie auch immer gestalteten Modell der Partnerschaft.

2.2 Das gegenwärtig offenkundige zahlenmäßige Wachstum des Islam wird sich weltweit und in Europa verlangsamen. Gleichzeitig werden wahrscheinlich noch für Jahrzehnte der leidenschaftliche Hang zur „Reislamisierung“ und die Bereitschaft zur möglichst weitgehenden Integration in die pluralistische und zuletzt sogar in die religionskritische moderne Welt hart aufeinanderstoßen. Wie und wann dieses Ringen um eine neue (resp. uralte) islamische Identität ausklingen wird, ist noch nicht auszumachen.

Beobachter des gegenwärtigen Islam stellen zwei gegenläufige Tendenzen fest: Eine Reislamisierung und eine Deislamisierung.17 Die Reislamisierung ist genügend präsent. Kulturgeschichtlich betrachtet zeigt sie ungefähr folgendes Bild: Die islamische Welt durchläuft seit Jahrzehnten, seit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten oder noch deutlicher seit der Vertreibung des Schahs im Iran eine Phase offensichtlicher Islamisierung, d. h. einer Neubesinnung auf die islamische Tradition und einer überzeugten Abwehr unislamischer westlicher Sitten und Werte. Inwieweit der westliche Kolonialismus in dieser anhaltenden Islamisierung des Islam noch nachwirkt, inwieweit die als Affront empfundene Existenz des Staates Israel immer wieder neues Öl ins Feuer dieser Islamisierung gießt, inwieweit die Omnipräsenz westlicher Medien und des westlichen Lebensstils traditionsbewussten Muslimen keine andere Möglichkeit lässt, als in islamistische Fahrwasser abzugleiten, all dies sei hier dahingestellt. Offensichtlich hat diese in manchen Aspekten reaktionär wirkende Islamisierung nicht nur konfessionelle Gegensätze wieder wachgerufen und im Ringen um ein rechtes Verständnis des Dschihad zu den verschiedensten Varianten kampfbereiten Glaubens geführt. Die liberaler denkenden Muslime fühlten und fühlen sich durch die reaktionären Elemente der Islamisierung auch in ihrer eigenen Identität bedroht, genauso, wie sich die Islamisten noch immer in ihrer Identität durch Islamkritik und modernen Zeitgeist nicht nur verunsichert, sondern direkt attackiert fühlen. Jede Islamkritik ist für die einen Blasphemie, d. h. Gotteslästerung. Jeder islamische Fanatismus ist für die anderen eine Beleidigung ihres Glaubens.

Die gegenläufige Bewegung, die Deislamisierung, ist weit weniger augenfällig, aber bei genauerer Betrachtung ebenso nachweisbar: Die zunehmende Bildung zumal auch der Mädchen und Frauen, die sich nicht selten mit der Liebe zum eigenen Denken und zur eigenen Lebensgestaltung verbindet, der bisherige fragwürdige Ausgang der islamistischen Revolutionen – nicht zufällig zweifeln vermehrt junge Iraner am Islam - all dies führt zu einem Verlust der Evidenz des eigenen Glaubens in der Optik zahlreicher Muslime. Dass sich dieser Verlust nicht offen religionskritisch artikuliert, liegt – solange Vertreter islamischer Institutionen sich massiv gegen jede Islamkritik stellen – auf der Hand. Aber das noch weitgehende Schweigen der in ihrem Glauben verunsicherten oder von ihrem Glauben frustrierten Muslime darf nicht zur Annahme führen, dass alle Muslime zweifelsfrei zu ihrem Glauben stünden.

Was nun das zahlenmäßige Wachstum des Islam betrifft, so ist ein bekannter Umstand nicht zu übersehen: Mit steigendem Wohlstand und steigender Bildung gleichen sich die Geburtenraten verschiedener Religionsgruppen allmählich an. Diese Regel beeinflusst nicht nur alle Voraussagen über die Entwicklung der einzelnen Religionen weltweit. Wenn wir annehmen, dass auch die Kinderzahlen in den muslimischen Familien Europas sich allmählich den analogen Zahlen in ihrem europäischen Umfeld angleichen, dann überzeugen uns die Prognosen einer Pew-Studie18, die mit einem stetigen, aber verhaltenen Wachstum des islamischen Bevölkerungsanteils in Europa rechnen:19 Er wird zwischen 2010 und 2030 von 6 auf 8 Prozent der Gesamtbevölkerung wachsen. Die Zahlen für die Schweiz lauten: 5,7 Prozent 2010 und 8,1 Prozent 2030. Welche Entwicklungen innerhalb dieser anwachsenden islamischen Bevölkerung stattfinden werden, lässt sich andeutungsweise auch voraussagen: Während ein Teil davon zu einem wirklich liberalen, d. h. auch selbstkritischen Islam durchfindet, wird sich ein anderer Teil möglichst gegen jeden westlichen Einfluss abschotten, während ein dritter Teil, wahrscheinlich der größte, vom Westen ein gutes Maß an religiöser Indifferenz übernimmt.20 Wie sich der Blick auf diesen europäischen Islam in der übrigen Bevölkerung verändern wird, wird wahrscheinlich auch durch das abflauende oder andauernde Drama islamischer Selbstfindung in der außereuropäischen Welt mitbestimmt. Offen bleibt wahrscheinlich noch für einige Zeit die Frage: Wann gelingt es dem Islam, Religionskritik als selbstverständliche Möglichkeit zu erleben und seine Angst vor Islamkritik zu überwinden?

Summa: Der Islam durchläuft in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich noch immer eine Periode spannungsreicher Selbstfindung. In der modernen Gegenwart wirklich angekommen ist der Islam erst, wenn er auch die Möglichkeit zur Islamkritik bejaht.

2.3 Der Buddhismus – in geringerem Maß auch andere Varianten östlicher Spiritualität – verbindet sich in der modernen westlichen Welt mit den vielfältigsten Versuchen individueller Selbstfindung, entkleidet sich vieler ritueller Regeln und Gebote und präsentiert sich immer nachhaltiger als die neurowissenschaftlich approbierte Religion des 21. Jahrhunderts. Seine immense Popularität in der westlichen akademischen Welt wird wahrscheinlich noch lange anhalten und sich trotzdem nie in großen Scharen von neu bekehrten Buddhisten niederschlagen.

Buddhismus ist „in“, der Dalai Lama für viele die unbestrittene Nummer eins in der Liste der spirituellen Führer. Diese westliche Liebe zum Buddhismus – oder sollte man lieber von einem bloßen Flirt sprechen? – schlägt religionsstatistisch aber kaum zu Buche. Der westliche Flirt mit buddhistischer oder allgemein alternativer Spiritualität scheint für die meisten keine wirkliche neue religiöse Option zu sein, sondern eher nur ein Versuch, autoritätsfern sich selbst verwirklichend zu glauben und betonte Kirchenferne und Glaubensmüdigkeit spirituell zu bereichern. Bloße Glaubensferne führt manche offensichtlich in eine zu karge, weitgehend sinnleere Welt.

Dieser Liebe zur persönlichen spirituellen Selbstverwirklichung kommt der Buddhismus weitgehend entgegen. Buddhismus ist schon in seiner ältesten noch greifbaren Form, im Theravada, in seinem Kern Analyse des menschlichen Geistes mit entsprechender Geistesschulung. Dass Psychologen und Neurowissenschaftler fasziniert feststellen, dass diese buddhistischen Analysen des menschlichen Geistes völlig psychologisch prozesshaft argumentieren und auf jedes Konzept eines eigenen ewigen Selbst, eines Gottes, und auf jede Kosmogonie verzichten, verwundert niemanden, der sich mit buddhistischen Lehrtexten beschäftigt. Die möglichst rationale, durchaus nicht axiomfreie und doch beinahe wissenschaftliche Analyse ist dem Buddhismus in die Wiege gelegt. Die Chancen des Buddhismus, sich als wissenschaftliche Religion zu präsentieren, liegen zu nahe. Es wäre seltsam, hätten moderne Buddhisten diese Chance nicht schon längst ergriffen. Zur neuen westlichen oder gar weltweiten Volkskirche wird der Buddhismus trotzdem nie werden. Zu offensichtlich spricht er gerade in seiner analytischen Kraft spirituelle Eliten an. Als Volksreligion stand und steht der Buddhismus dem wissenschaftlichen Denken gegenüber nicht weniger fern als jeder andere volkstümliche Glaube. Überdies hat gerade der analytische Buddhismus nie viel von Bekehrungen und Mission und religiösen Organisationen gehalten. Die vom Buddhismus faszinierten Zeitgenossen sehen sich vielleicht als Teil eines buddhistischen Freundeskreises, aber sie tragen sich ungern in Listen neuer Religionsmitglieder ein. Man lässt sich faszinieren, ansprechen und oft auch anleiten, aber nicht einbinden.21

Einem weltweiten zahlenmäßigen Erfolg (falls es aus buddhistischer Sicht überhaupt sinnvoll wäre, einen solchen anzustreben) steht auch jener Umstand entgegen, den Lama Ole Nydahl uns gegenüber einmal in seiner bekannt flapsigen Art so formulierte: „Jedem Christen, der im Westen Buddhist wird, entsprechen zehn Buddhisten, die im Osten Christen werden.“ Ein zusätzlicher Umstand setzt dem Buddhismus wie jeder anderen betont meisterorientierten Spiritualität in der Praxis immer wieder Grenzen: Je höher eine religiöse Leitgestalt geachtet wird, desto schwieriger wird es auch für sie, den hoch gesteckten Erwartungen zu entsprechen. Wie andere religiöse Leitgestalten verstricken sich selbstverständlich auch manche buddhistischen Meister in publizistisch oft breit dargelegte menschliche Unzulänglichkeiten. Zudem leidet gerade auch in letzter Zeit das lange propagierte Bild eines immer pazifistischen Buddhismus durch das Auftreten radikaler buddhistischer Nationalisten in Sri Lanka und Südostasien.

Summa: Der Buddhismus stellt in seiner analytischen Kraft auch in Zukunft eine geistige Herausforderung erster Güte dar. Aber zur neuen Massenreligion wird er sicher nicht werden.

2.4 In den sogenannten Schwellenländern zeigt das Christentum vor allem in seinen evangelikal-charismatischen Varianten – gegenwärtig und wahrscheinlich noch für längere Zeit – eine in diesem Ausmaß bisher noch nie bekannte Anziehungskraft. Gleichzeitig profitieren die traditionellen Religionen Asiens mancherorts von einer enormen Spendenfreudigkeit.

In Ost- und Südasien, in Afrika südlich der Sahara22 und in Lateinamerika23 scheint ein charismatisch geprägtes Christentum den existenziellen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen mancher Menschen weitgehend zu entsprechen.24 Hier begegnen viele einem erlebbar nahen Gott, der sich um sie und um ihr Leben kümmert bis hinein in die eigenen Gesundheitsprobleme und die eigenen finanziellen Schwierigkeiten. Zudem befreit das charismatisch-evangelikale Christentum in der modernen Welt sich etablierende Gesellschaftsschichten ein Stück weit von vielem, was sie in der bisherigen Religiosität als religiöse Bevormundung und als rückständig erleben konnten, von Priesterhierarchien und Kastenvorurteilen, von Frauenverachtung, von den Mythen der Vorfahren und der Magie der Vorgestrigen, von Pagodenmystik und Tempelmoder. (Man darf als europäischer Tourist nicht meinen, jeder Einheimische würde mit analoger Faszination den Tempel der schwarzen Kali in Kalkutta durchwandern.) Charismatisches Christentum ist für viele intensiver religiöser Aufbruch in eine für sie befreiend neue Welt. Charismatisches Christentum eröffnet zudem so etwas wie eine Türe zu einem eigenen neuen Entwicklungsschritt: Es schenkt ekstatisch-eindrückliche Vergebungserfahrungen und neues Menschsein in der engagierten Glaubensgemeinschaft. Das heißt nicht, dass wir in der außereuropäischen Welt nun das ideale Christentum vorfinden würden. Die vielschichtige Problematik zumal des sogenannten Wohlstandevangeliums25, der Heilungsversprechen und des Starevangelistentums bleibt unbestritten. Es heißt nur: Viele aufstrebende Schichten finden sich im evangelikal-charismatischen Christentum und – in geringerem Ausmaß – in der analogen katholischen charismatischen Bewegung. Der Schwerpunkt des Christentums verschiebt sich immer offenkundiger in die außereuropäische Welt.26

Gleichzeitig erlebt auch die tradierte Religiosität zumal Asiens ein gewisses Revirement. Dies gilt weniger für das ehemals oder immer noch kommunistische Asien. China, Nordkorea und Vietnam zählen noch immer zu den Ländern mit den meisten Konfessionslosen. Aber andernorts gilt: Nicht nur neue Kirchen, sondern auch laufend neue Tempel und Pagoden werden in Süd- und Südostasien gebaut. Die Spendenfreudigkeit und die entsprechenden Besucherzahlen in Kirchen und Tempeln sind – an mitteleuropäischen Maßstäben gemessen – enorm. (Selbstverständlich verbessern alle Spender mit ihrer Gabe ihr Karma.) Indien erlebt – nicht zuletzt dank der neuen Möglichkeiten des Internets – auch eine neue Blüte der Guru-Frömmigkeit. Eine Art Weltrangliste der beliebtesten Gurus hat sich im Internet etabliert.27 Neue Jünger können laufend die Position ihres Meisters oder ihrer Meisterin um eine zusätzliche Stimme verbessern. Selbstverständlich begibt sich der Schüler der Neo-Gurus auch wieder in spirituelle Abhängigkeit. Aber er wählt seinen Guru selbst. Und der neue Guru führt den Schüler mindestens in seiner Vorgabe noch deutlicher als der Guru der Vergangenheit zu sich selbst. Selbstfindung und Autonomie werden sogar dort groß geschrieben, wo – etwas drastisch formuliert – radikal glaubenswillige Jüngerscharen jedes Wort von den Lippen des Meisters ablesen und nachbeten.

Summa: Es scheint, dass in der außereuropäischen, nichtislamischen Welt sich die tradierte Religiosität und das inzwischen auch weitgehend indigene Christentum gegenseitig mit ihrem spirituellen Feuer anstecken würden. Von europäischer Religionsmüdigkeit ist wenig oder noch wenig zu spüren.

Wie lange wird aber diese neu erwachte Liebe zumal zum evangelikalen Christentum und dieses gleichzeitige Revirement der tradierten Religionen anhalten? Solange sich Menschen finden, die auch im Glauben die eigene Erfahrung über die bloß tradierte Autorität stellen und die bewusst in ein persönliches, selbstverantwortetes Leben aufbrechen, bleiben das evangelikale Christentum und das gleichzeitige möglichst erfahrungsnahe Revirement der tradierten Religiosität für viele überzeugende Optionen. Etwas überspitzt lässt sich sagen: Der Westen wird „östlicher“ und säkularer, der Osten und der Süden werden christlicher. Ein Ende dieser Prozesse ist noch lange nicht in Sicht.

3 Weiterführende spekulative Erwägungen

Während wir bisher von konkreten Beobachtungen ausgehend den Weg in die religiöse Zukunft erkennen wollten, erlaube ich mir nun noch ein paar Anmerkungen zu Umständen, die die religiöse Zukunft mitgestalten werden, die sich bei näherer Reflexion zwar auch aufdrängen, die aber zum Teil zugegebenermaßen noch deutlicher spekulativ sind.

3.1 Der wissenschaftliche Fortschritt erübrigt nie die Religionen. Er belebt einerseits die religiöse Reflexion und andrerseits den religiösen „Fundamentalismus“.

Der Fortschritt der Wissenschaften wird wahrscheinlich ungebrochen weitergehen. Wissenschaft ist in keinem Bereich zu bremsen.28 Alles, was erforscht werden kann, wird weiterhin auch erforscht werden, und alles, was technisch machbar erscheint, wird auch gemacht werden. Ausgehend von dieser an keiner Grenze endenden Neugier des Menschen stellt sich die Frage, ob Wissenschaft einmal Religion völlig erübrigt, weil sie ihr auch das letzte Mysterium raubt. Atheisten bejahen diese Frage im Allgemeinen. Ich kann sie nur verneinen. Das Geheimnis, das unsere Wirklichkeit von außen her umhüllt und von innen her konstituiert, wird nicht kleiner, indem man fortschreitend die Bereiche des Bekannten und Erforschten ausweitet. Das Unbedingte verliert nichts durch bessere Kenntnis des Bedingten.

Selbstverständlich führt der Fortschritt der Wissenschaften innerhalb der Religionen seit eh und je zu einer gewissen Aufspaltung einerseits in wissenschaftsnahe Formen kritisch reflektierter, mythenferner Religion und andererseits in Formen bewusst nostalgischer fundamentalistisch-seelennaher Religion. Weil Religion immer den Menschen die Möglichkeit schenkt, sich sowohl kritisch reflektierend als auch emotional erspürend dem Absoluten zuzuwenden, werden sich einerseits immer Menschen finden, die bereit sind, alle tradierten religiösen Vorstellungen zu überdenken und sich neuen, zeitgemäßeren zuzuwenden, und andrerseits ebenso viele Menschen, die in ihrer archaisch-fundamentalismusnahen Religion eine Heimat finden. Fundamentalismus ist die Weigerung der Seele, in der Welt wirklich anzukommen, in die man hineingestoßen wurde. Das menschliche Gemüt bleibt zum eigenen Schutz oft um Jahrhunderte hinter dem Verstand zurück. Darin liegt auch in Zukunft in allen Kulturkreisen das bleibende Recht fundamentalistischer Religiosität.

3.2 Die gesellschaftliche Entwicklung fördert auch die religiöse Autonomie. Religionen werden sich vermehrt nach demokratischen Spielregeln organisieren.

Die gesellschaftliche Entwicklung, besonders die sich unaufhaltsam weiter ausbreitende moderne Bildung, schenkt den Menschen ein immer größeres Maß an Selbstständigkeit und Autonomie. Vielleicht dauert es lange, bis die möglichst eigenständig reflektierende, möglichst selbst verantwortliche Persönlichkeit in allen Kulturen mehrheitsfähig wird. Erst dann wird aber auch die Basis zu echter Demokratie vorliegen. Auch wenn es lange dauert, die Entwicklungsrichtung ist vorgegeben und auf die Dauer nicht mehr umkehrbar. Für die Religionen heißt dies: Theokratien, Priestergehabe, Brahmanen-Privilegien, Bonzen-Attitüden, Guru-Verehrung und Männervorrechte werden zusehends nicht mehr als himmlische Gegebenheiten und irdische Notwendigkeiten, als ewige gottgewollte Strukturen, sondern nur noch als vorläufige Hilfskonstruktionen wahrgenommen werden. Einmal gesellschaftlich noch sinnvoll, heute zum großen Teil oft schon eher hinderlich als dienlich, werden sie neuen, besseren, autonomiekompatibleren Kirchenstrukturen Platz machen. Religionen werden sich vermehrt nach demokratischen Spielregeln organisieren. Zu diesen Spielregeln gehört auch die Gleichstellung der Geschlechter. Mit unaufhaltsam fortschreitender Mädchenbildung wird längerfristig auch in der islamischen Welt die Gleichstellung von Mann und Frau durch keine archaische religiöse Moral mehr eingeschränkt werden können. Auch in der katholischen Kirche sind meines Erachtens das Ende des reinen Männerpriestertums und der Einzug der Frauen in die katholische Hierarchie absehbar. Wann dies geschehen wird, wahrscheinlich noch nicht unter dem gegenwärtigen Papst, wage ich selbstverständlich nicht zu sagen. Aber dass dies geschehen wird, ist voraussehbar.

3.3 Auch wenn die religiöse Autonomie wächst, breitet sich bis auf Weiteres ein latenter Fundamentalismus noch weiter aus. Akute Fundamentalismuskrisen zwingen die Religionen zur Besinnung auf die eigene Essenz.

Der Prozess der fortschreitenden Durchmischung der Kulturen und Religionen wirkt einerseits relativierend, alle religiösen Positionen einander angleichend, andererseits in einer oft Generationen überdauernden Verunsicherungsphase Fundamentalismus fördernd. Die ungläubige Welt der Umgebung bedroht. Die Überlegenheit der eigenen Religion und Gruppe wird überhöht. Trotz öffentlich gezeigter Toleranz und demonstrativem Respekt gegenüber Andersgläubigen pflegt man im Kreis der eigenen Gruppe auf die Außenwelt herunterzuschauen. Im religiösen Pluralismus wird doppelte Kommunikation in vielen Gemeinschaften fast zum Normalfall: Man kommuniziert nach außen nicht dasselbe, was man nach innen vertritt.

Latenter Fundamentalismus, das heißt Glaube mit nach innen gelehrter stolzer Exklusivität und nach außen demonstrierter pragmatischer Toleranz, breitet sich wahrscheinlich auch in Zukunft noch weiter aus und wird – wenn er dies nicht schon heute ist – zum religiösen Normalfall des engagierten Glaubens weltweit. Für eine sogenannte liberale Religion, ein Kind der europäischen Aufklärung, ist in der Optik der Gläubigen anderer Weltgegenden und engagierter Christen in Europa zusehends weniger Bedarf. Die klare göttliche Weisung und Wahrheit, die eigene Berufung, die nachfolgende Entschiedenheit und das eigene religiöse Erleben zählen mehr als die kritische Reflexion.29 Der weltweite latente Fundamentalismus muss aber nicht zu akuten Fundamentalismuskrisen führen. Wenn er dies aber tut und wenn ein akuter Fundamentalismus nach der entsprechenden Haltung im religiösen Gegner ruft, dann ist die akute Krise nicht nur ein weitgehend selbstgemachtes schreckliches Schicksal, sondern auch eine Chance.

Ein besonders drastisches Beispiel einer solchen akuten Krise lieferte in der jüngeren Vergangenheit das neue Aufflackern eines aggressiven buddhistischen Fundamentalismus in Burma und Sri Lanka. Nachweislich haben die Zerstörung der großen Buddha-Statuen in Bamiyan, Afghanistan, und direkt anschließend die Attacken auf das World Trade Center buddhistische Gemüter aufgeschreckt. Manche Muslime würden schon dieses Erschrecken wie überhaupt jede kritische Frage in Richtung Islam Islamophobie nennen. Doch es blieb nicht bei diesem Erschrecken. Später wurden auch Zeugnisse buddhistischer und hinduistischer Kunst im Museum der Malediven zerstört.30 Als eigentlicher Auslöser buddhistischer Gewalt wirkte dann der Aufruf radikaler junger Bengalen, die Pagoden der buddhistischen Minderheit im Grenzgebiet zu Burma zu zerstören. Die Antwort waren die von kämpferischen buddhistischen Mönchen geleiteten wilden Aktionen gegen die muslimische Minderheit in Burma mit dem Ergebnis, dass die Rohingya, die islamische Bevölkerung in Arakan, nun zu den bedrohtesten Völkerschaften dieser Erde gehört. Staatenlos geworden, sind sie überall unerwünscht.

Das in Zukunft voraussehbare immer intensivere Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen im gleichen Raum und die erwähnte Liebe religiöser Gemeinschaften zur doppelten Kommunikation machen Fundamentalismuskrisen auch in Zukunft mehr als nur wahrscheinlich. Zudem legen sie aber auch den Ausblick auf den positiven Ausgang dieser Krisen nahe. Von allen Seiten her haben Buddhisten nach den neueren Ausbrüchen buddhistischer Gewalt zur Rückbesinnung auf den Weg des Buddha aufgerufen. Jede Fundamentalismuskrise ist für die involvierte Religion eine Chance zur Rückbesinnung auf die eigene Mitte, auf die Essenz des eigenen Glaubens. Es wird sich zweifellos auch in Zukunft zu solcher Rückbesinnung reichlich Gelegenheit finden.

3.4 Erfahrungen menschlicher Ohnmacht rufen nach eigener religiöser Erfahrung.

Erfahrungen menschlicher Ohnmacht sind auch in Zukunft nicht zu vermeiden. Sie legen den Keim zu einer immer öfter nur noch erfahrungsnahen, persönlich überzeugenden Religiosität. Not lehrt beten, sagt ein Sprichwort. Aber immer weniger Menschen nicht nur in der westlichen Welt werden fähig sein, auf angelernte Gebete zurückzugreifen. Bloß übernommene, nicht durch eigene Erfahrung angeeignete Religion zerbricht in modernen Krisen. Die Krisen der Zukunft, die persönlichen und die kollektiven, werden zu den eigentlichen Geburtsstätten persönlicher Religiosität. Dass es an solchen Krisen nicht mangeln wird, steht außer Frage. Auch in Zukunft wird – trotz aller Medizin – noch gelitten und gestorben. Trotz aller Psychohygiene wird nicht nur geliebt, sondern auch gehasst, wird nicht nur gehofft, sondern auch enttäuscht, nicht nur befördert, sondern auch relegiert. Dass diese persönliche, erfahrungsnahe religiöse Antwort auf Lebenskrisen den Außenstehenden oft kaum überzeugt, liegt auf der Hand. Ihm ist die Antwort nicht zuteil geworden, die nun den Betroffenen überzeugt. Dass diese erfahrungsnahe Religiosität oft sektenhafte Züge annimmt, steht auch außer Frage. Sektenberatungsstellen werden auch in Zukunft nicht arbeitslos, nicht nur, weil die Religion der Zukunft erfahrungsnaher, auf der einen Seite charismatischer, auf der anderen Seite mystischer wird und im Grunde nur noch persönlich zu überzeugen vermag.

3.5 Weltweite Krisen stellen die Religionen auf den Prüfstand.

Auch kollektive, vielleicht sogar weltweite Krisen sind absehbar. Die Ressourcen dieses Globus sind begrenzt. Die Forderung nach Lebensstandard im westlichen Stil möglichst für alle liegt nahe. Verteilungskämpfe verbunden mit noch zunehmendem Immigrationsdruck deuten sich an. Religionen werden in den weltweiten Krisen entweder zu einem Teil des Problems oder zu einem Teil der Lösung. Entweder stempeln sie ihre Gläubigen zu exklusiven Freunden des Himmels und ermutigen sie, sich im göttlichen Auftrag gegen die anderen durchzusetzen, oder sie finden in Ehrfurcht vor jedem Menschen in die Kunst des gerechten Teilens. Wie solche weltweiten Verteilungskämpfe aussehen könnten, lässt modellhaft der seit Jahrzehnten andauernde Konflikt um Israel/Palästina erahnen. Auch in diesem im Blick auf die Zukunft der Menschheit bedenkenswerten Modell sind Religionen gleichzeitig Teil des Problems und Teil der Lösung. Allerdings – wenn Israel/Palästina ein Modell zukünftiger Verteilungskämpfe ist, dann ist auch im zukünftigen weltweiten Maßstab nicht mit raschen und einfachen Lösungen zu rechnen.

3.6 Westliche Kirchen erahnen in ihren wachsenden Irritationen das Aufleuchten eines „späteuropäischen“ Christentums.

Die von Auszehrung befallenen ehemals großen Kirchen der westlichen Welt stehen – nicht erst heute, sondern seit einiger Zeit schon – am Scheideweg. Sie könnten sich erstens in ihr Schicksal zunehmender Bedeutungslosigkeit gehorsam fügen. Eine große Vergangenheit lässt sich theologisch gut mit einer bescheidenen Gegenwart versöhnen. Auch vergangene Größe ist immer noch Größe, vor allem wenn sie sich in wunderbaren mittelalterlichen Kirchenbauten immer noch so eindrücklich manifestiert. Die ehemals großen Kirchen können zweitens für sich aber auch neue Bedeutungen entdecken. So verbindet ein Großmünsterpfarrer seinen Hinweis auf die kleine Gottesdienstgemeinde gerne mit dem Hinweis auf seine neue Aufgabe als Fremdenführer in seiner Kirche. Andere Funktionen werden dankbar entdeckt und aufgegriffen. Das spirituelle Angebot kann – falls die Mittel es erlauben – noch zusätzlich ausgebaut werden. Die ehemals großen Kirchen können sich drittens auch von den Kirchen der Schwellenländer inspirieren lassen. Das Christentum der USA gilt in manchen Freikirchen nach wie vor als Vorbild. Aber im Grunde gleitet das Christentum der USA – nur mit etwas Verspätung – in ähnliche Krisen wie das europäische. Das Christentum Asiens, Afrikas und Lateinamerikas hingegen überzeugt an vielen Stellen noch in seiner ungebrochenen Dynamik. Allerdings – der Mitteleuropäer ist kein Afrikaner und kein Lateinamerikaner. Charismatik ist spontan nicht seine Sache. So bleibt viertens den ehemals großen Kirchen der westlichen Welt eigentlich nur noch die uralte, immer präsente Möglichkeit, dass sie sich auf die Essenz des Evangeliums besinnen. In der Überzeugung, dass das Evangelium in seiner ganzen Breite und Tiefe bisher in der Geschichte noch an keiner Stelle erschöpfend wahrgenommen und kirchlich nachempfunden wurde, könnte diese späteuropäische Besinnung auf die Essenz des Christlichen zu bisher kaum erahnten Formen neuer Kirchlichkeit führen. Das Evangelium ist mehr als alles, was wir oder andere bisher davon verstanden haben. Vielleicht entdecken gerade die westlichen Kirchen in ihrer nur scheinbaren Ausweglosigkeit dieses „Mehr“.

Wie wird das „späteuropäische“ Christentum aussehen? Es wird wahrscheinlich das Beste, was sich – neben vielen Verirrungen christlicher Religiosität – als Christentum während der vergangenen Jahrhunderte in Europa auch entfaltete, die Liebe zu seinem Meister, die Freude an der mystischen Präsenz, das soziale Engagement und der Mut zum kritischen Denken, zu einer neuen Gestalt vereinen, zu einer Jesusnachfolge sui generis, zeitgemäßer und überzeugender als vieles, was ihm zurzeit gelingt. Dieses späteuropäische Christentum dürfte aber, wenn es überzeugen will, nicht einfach eine Kombination der besten Elemente europäischer Christlichkeit sein. Das wäre wahrscheinlich zu unorganisch. Es müsste dieses Mehr dazukommen, ein bisher noch nicht realisierter wesentlicher Aspekt des Evangeliums, zu dem sich alle erwähnten positiven bisherigen Aspekte organisch fügen.

3.7 Die zunehmende Konfessionslosigkeit verbunden mit dem Wegfall jeder religiösen Bildung und Erziehung führt zumal bei jungen Leuten zu einer zunehmenden Anfälligkeit gegenüber besonders radikalen und besonders absurden religiösen Angeboten.

Wenn heute in Schulen intensiv die Sektenproblematik diskutiert wird, kann dies zwar kaum ein gesundes religiöses Empfinden wecken. Dazu bräuchte es ein offenes religiöses Umfeld. Aber sie kann junge Leute kritikfähiger machen gegenüber sektiererischen Angeboten. Selbstverständlich werden im Einzelfall trotzdem noch junge Leute jeglicher Herkunft bei entsprechenden Kontakten und in entsprechendem jugendlichem Aufbegehren sich extremen Gruppierungen anschließen. Aber gerade auch die biografische Wende von der Konfessionslosigkeit in die religiöse Radikalität lässt erahnen, dass bei zunehmender Konfessionslosigkeit die sogenannte Sektenproblematik in der Beratungstätigkeit in keiner Weise kleiner, sondern größer wird.

3.8Atheismus ist in Zukunft eine respektable weltanschauliche Option. Zur populären weltanschaulichen Alternative wird er erst dort, wo er sich pantheistisch einfärbt.

Es fällt nicht schwer, dem Atheismus eine zwar beachtliche, aber nicht gloriose Zukunft vorauszusagen: 1. Die noch in keiner Weise ausgestandenen Fundamentalismuskrisen der Religionen untergraben den Gottesglauben noch immer überzeugender als jedes rationale Argument. 2. Der ungebremste wissenschaftliche Fortschritt wird in den Augen vieler noch immer szientistisch entgleiten. 3. Noch immer ist eine letztlich sinnleere, sich konsequent nur dem Zufall verdankende Welt nicht jedermanns Sache. In den Religionen erahnen Menschen jenen Sinn, ohne den ihr Gemüt zu frieren beginnt. Atheismus wird erst zur populären weltanschaulichen Position, wenn er sich romantisch verklären oder gar pantheistisch-mystisch einfärben lässt.31 4. Atheisten sind zweifellos auch in Zukunft oft denkbar fragwürdige Vertreter ihrer Sache. Man muss sich nur lange genug ihren Argumenten aussetzen – und die Lust, an Gott zu glauben, lässt sich nicht mehr ignorieren. Analoges gilt allerdings umgekehrt auch oft für manche Gotteszeugen. Sie sind und bleiben auch in Zukunft die besten Werbeträger der Religionslosigkeit.

4 Schlussbemerkungen

Sich mit der Zukunft der Religionen zu beschäftigen, heißt genau besehen immer auch „orakeln“. Könnten wir heute noch das delphische Orakel fragen, wie es sich die Zukunft der Religionen vorstellt, würde es uns wahrscheinlich mit jenem Orakelspruch antworten, den Erasmus von Rotterdam zitiert und den C. G. Jung über die Türe seines Hauses in Küsnacht schreiben ließ: „Vocatus atque non vocatus deus aderit.“ – Gerufen und ungerufen wird Gott da sein.


Georg Schmid, Rüti/Schweiz


Anmerkungen

  1. Jubiläumstage im November 2013.
  2. Vgl. http://raheelq.wordpress.com/2013/07/27/future-of-religion-by-2041  (diese und die weiteren Internetseiten wurden abgerufen am 4.12.2014).
  3. Das zahlenmäßige Wachstum des evangelikalen Christentums wird besonders augenfällig in den gut 40 000 „wissenschaftlichen“ Internetartikeln und -hinweisen, auffindbar mit Google unter dem Stichwort „growth of evangelical Christianity“. Das analoge Stichwort für den Islam ergibt ca. 637 000 Artikel und Hinweise.
  4. Jean-Paul Burdy/Jean Marcou, Islam(s) et islamistes dans les „printemps arabes“, in: Futuribles 393 (2013).
  5. François Mabille, Regard prospectif sur les religions dans le monde, in: Futuribles 393 (2013), 63ff.
  6. Ein Stimmungsbild nach der Papstwahl schildert www.nytimes.com/2013/10/04/opinion/why-italians-love-francis.html?_r=0 .
  7. So konstatiert z. B. der Religionssoziologe Detlef Pollack im Blick auf Westdeutschland: „Seit der Wiedervereinigung hat sich der Entkirchlichungsprozess noch einmal verstärkt: Es ist jetzt auch im Westen fast normal, nicht zur Kirche zu gehören. Vor allem beim Kirchenverhältnis jüngerer Menschen stellen wir inzwischen erdrutschartige Abbrüche fest.“ Im Blick auf den Osten Deutschlands meint er: „Da hat die religionsfeindliche Politik der SED gründliche Arbeit geleistet: Viele Ostdeutsche haben überhaupt kein Verhältnis mehr zur Religion.“ Beide Zitate: http://aktuell.evangelisch.de/artikel/84119/detlef-pollack-entscheidend-ist-solide-geistliche-arbeit
  8. www.theage.com.au/federal-politics/society-and-culture/out-of-mouths-of-babes--religious-will-rise-as-secular-birth-rates-fall-20100919-15hsc.html:  „On the face of it, the trends seem unassailable: the Eurobarometer finds that across 10 west European countries between 1975 and 1998, the proportion of weekly attenders plummeted from 38 per cent to 16 per cent. In Britain, where just 7 per cent of Christians attend church each week, half of those between the age of 18 and 34 say they have no religion compared to just 20 per cent of over-55s. Even in the United States, where 85 per cent report a religious faith, Robert Putnam recently discovered the share of young white Americans claiming ‚no religion‘ has reached 35 – 40 per cent.“
  9. Andere sprechen von Apathie (www.religionnewsblog.com/26195/martin-e-marty-papal-headlines-and-apathy ).
  10. Anders präsentiert sich die Lage in Frankreich, wo evangelikale Gruppen sich insgesamt ausbreiten: www.theage.com.au/world/rise-of-french-evangelicals-puts-secularism-in-a-spin-20091107-i2te.html
  11. Vgl. Stephan Lanz, Neue Götter und Gläubige in 
der Stadt, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 40/41 (2010), 33-37. Vgl. auch www.livenet.ch/themen/gesellschaft/gesellschaft/christen_in_der_gesellschaft/198478-erloesung_in_der_globalen_stadt_gefragt.html
  12. „Es ist interessant, dass die Religiosität zurückgeht, während der Wohlstand der Einzelnen weltweit steigt“ (www.kath.net/news/41491).
  13. „Beliefs about God across Time and Countries“, eine ISSP-Studie (International Social Survey Programme, www.issp.org/index.php), von einer Forschungsgruppe um den Soziologen Tom W. Smith an der Universität Chicago erarbeitet. Vgl. www.welt.de/politik/deutschland/article106205333/Warum-so-wenige-Ostdeutsche-an-einen-Gott-glauben.html.
  14. „There are six countries where the religiously unaffiliated make up a majority of the population: the Czech Republic (76% are religiously unaffiliated), North Korea (71%), Estonia (60%), Japan (57%), Hong Kong (56%) and China (52%), www.pewforum.org/2012/12/18/global-religious-landscape-unaffiliated
  15. Jörg Stolz und Edmée Ballif prognostizieren in ihrer Studie einen Rückgang der reformierten Bevölkerung der Schweiz von derzeit 33 Prozent auf 20 Prozent oder weniger im Jahr 2050, www.livenet.ch/www/index.php/D/article/108/50927
  16. Philippe Portier, Etats et églises en Europe, in: Futuribles 393 (2013), 101f.
  17. Vgl. François Mabille, Regard prospectif sur les religions dans le monde (s. Fußnote 5), 71f.
  18. „The number of Muslims in Europe has grown from 29.6 million in 1990 to 44.1 million in 2010. Europe’s Muslim population is projected to exceed 58 million by 2030. Muslims today account for about 6% of Europe’s total population, up from 4.1% in 1990. By 2030, Muslims are expected to make up 8% of Europe’s population. Although Europe’s Muslim population is growing, Europe’s share of the global Muslim population will remain quite small. Less than 3% of the world’s Muslims are expected to be living in Europe in 2030, about the same portion as in 2010 (2.7%)“, www.pewforum.org/2011/01/27/future-of-the-global-muslim-population-regional-europe .
  19. Anders sieht es Piero Gheddo, www.dailymail.co.uk/femail/article-1328968/Pagans-march--harmless-eccentrics-dangerous-cult.html?ito=feeds-newsxml : „Muslims will become majority in Europe ... European Christians must have more children or face the prospect of the continent becoming Islamised, a senior Vatican official has said.“
  20. Vorläufig noch ungebrochen bleibt wahrscheinlich der augenfälligste Einfluss des minoritären Islam auf die Mehrheitsgesellschaft: Die Angst vor jeder Islamkritik bei gleichzeitiger deutlicher Bereitschaft zur möglichen Kritik aller anderen Religionen. Vgl. Michèle Tribalat, www.lemonde.fr/idees/article/2011/10/13/l-islam-reste-une-menace_1587160_3232.html
  21. „Man muss hier unterscheiden zwischen dem Interesse an nichtchristlichen und alternativen Religionsformen und der Bereitschaft, sich wirklich auf sie einzulassen. Wenn man die Leute in repräsentativen Studien fragt, ob sie sich für Spiritualität, Buddhismus und New Age interessieren, sagt fast die Hälfte „ja“. Genauso viele interessieren sich auch für das Leben Jesu oder Fragen der Schöpfung. Fragt man sie aber, ob sie schon einmal an Kursen über Energietraining oder Bachblütentherapie teilgenommen haben, sind es nur noch ganz wenige, die das bejahen. In der Regel überschreitet der Anteil dann nicht die Fünf-Prozent-Marke“ (Detlef Pollack, www.taz.de/Soziologe-Detlef-Pollack-ueber-Glaubenstrends/!122418).
  22. „In 1900, Africa had just 10 million Christians, about 9 per cent of the continent’s total population. Today (2002) there are 360 million African Christians, 42 per cent of Africa’s total population. They have exported their faith back to its colonial source. Half of all London churchgoers are now black. The annual baptism total for the Philippines is higher than the totals for Italy, France, Spain and Poland combined“ (www.religionnewsblog.com/1351/christian-reactionaries-leading-a-new-crusade ).
  23. Vgl. http://canalz.levif.be/news/l-actu/la-montee-des-evangeliques-en-amerique-latine-25-07-13/video-4000358860856.htm
  24. Vgl. z. B. www.livenet.ch/themen/gesellschaft/international/asien/209922-wachsende_kirchen_verunsichern_die_herrscher.html
  25. Vgl. www.idea.de/detail/thema-des-tages/artikel/glaubenspraxis-journalist-raeumt-mit-frommen-luegen-auf-865.html .
  26. Damit verschieben sich auch, wie Philip Jenkins betont, die theologischen Schwerpunkte innerhalb des weltweiten Christentums: „On the global canvas, Philip Jenkins concludes: „As the media have striven in recent years to present Islam in a more sympathetic light, they have tended to suggest that Islam, not Christianity, is the rising faith of the world’s huddled masses. But Christianity is not only surviving in the global South, it is enjoying a radical revival, a return to scriptural roots. We are living in revolutionary times. But we aren’t participating in them. By any reasonable assessment of numbers, the most significant transformation of Christianity in the world today is not the liberal Reformation that is so much desired in the North. It is the Counter-Reformation coming in the global South. And it’s very likely that in a decade or two neither component of global Christianity will recognize its counterpart as fully or authentically Christian“ (www.religionnewsblog.com/1351/christian-reactionaries-leading-a-new-crusade)
  27. www.gururatings.org/?page_id=206;  Ramana Maharshi steht z. Zt. auf Platz 1, Eckhart Tolle auf Platz 2.
  28. Nicht einmal Kriege können ihr längerfristig Einhalt gebieten. Im Gegenteil – sogar Kriege inspirieren die Forschung. Vieles, was heute technisches Allgemeingut ist, diente zuerst militärischen Zwecken. Nur ein weltweiter militärischer Konflikt, der sich zum Atomkrieg ausweitet, oder eine ähnlich einschneidende Umweltkatastrophe, etwa ein Einschlag eines Asteroiden, könnte die wissenschaftliche Entwicklung für lange Zeit oder für immer zum Erliegen bringen. Weil solche apokalyptischen Perspektiven aber auch alles weitere Fragen nach der Zukunft der Religion erübrigen, klammern wir sie hier aus unseren Erwägungen aus.
  29. Vgl. Martin E. Marty, Like the Present, Only Longer: The Future of Religion. Traditional forces, by adapting, will survive. They speak to the souls of people everywhere. They offer constantly changing forms of community in a world of extreme individualism, www.patheos.com/Resources/Additional-Resources/Like-the-Present-Only-Longer?offset=1&max=1 .
  30. Vgl. www.buddhistchannel.tv/index.php?id=71,10719,0,0,1,0.
  31. Dies geschieht in Ansätzen z. B. in der Philosophie von André Comte-Sponville.