Hermann Brandt

Die öffentliche Taufe - ein Auslaufmodell?

Die EZW beschreibt ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag folgendermaßen: „Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) ist die zentrale wissenschaftliche Studien-, Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart. Sie hat den Auftrag, diese Zeitströmungen zu beobachten und zu beurteilen. Die EZW will zur christlichen Orientierung im religiösen und weltanschaulichen Pluralismus beitragen, einen sachgemäßen Dialog mit Anders- und Nichtglaubenden fördern, über Entwicklungen und Tendenzen der religiösen Landschaft in Deutschland informieren.“1 Wie intensiv die EZW diesen Zielsetzungen nachkommt, belegt jede Nummer ihres Materialdienstes. Die verschiedensten religiösen Bewegungen, ihre Positionen und Entwicklungen werden dargestellt und aus christlicher Perspektive beurteilt. Was die Entwicklungen betrifft, so informieren aktuelle Fortsetzungsartikel unter Bezug auf frühere Darstellungen über inzwischen eingetretene Änderungen (z.B. bei den Zeugen Jehovas oder in der Neuapostolischen Kirche).

Hierbei stellt sich allerdings folgendes Problem: Die Beobachtung und Beurteilung der religiösen und weltanschaulichen Szene geschieht von außen; ausgehend vom eigenen, christlichen (bzw. „evangelischen“) Standpunkt werden all die „anderen“ religiösen und weltanschaulichen Positionen wahrgenommen, beschrieben und beurteilt. Dadurch kann der Eindruck entstehen, die eigene evangelische Position stelle die Konstante dar, die beschriebenen und beurteilten Phänomene hingegen die Variablen. Das Eigene steht fest, und von da aus werden die sich verändernden Tendenzen und Entwicklungen in den Blick genommen. Das heißt, die religiöse Landschaft wird als eine sich wandelnde Fremde betrachtet. Über diese wird informiert.

Aber nun gehören ja die christlichen Kirchen ebenfalls zur „religiösen Landschaft“, einschließlich der Trägerkirchen der EZW! Müssten also nicht auch innerchristliche „Entwicklungen und Tendenzen“ dargestellt und kritisch analysiert werden? Nicht nur die Anderen, sondern auch wir selbst? Denn dass sich nicht nur außerhalb der Kirchen Entwicklungen und Wandlungen vollziehen, sondern auch in unserem eigenen Haus, und zwar teilweise sehr problematische2, steht ja außer Frage.

Theoretisch zwei Sakramente, aber praktisch nur eins

Eine solche Entwicklung innerhalb der evangelischen Kirchen betrifft die Sakramente. Bekanntlich gehört es zum evangelischen Katechismuswissen, dass es nur zwei Sakramente gibt, im Unterschied zur Siebenzahl der Sakramente in der römisch-katholischen Kirche. Das Argument, nur die Taufe und das Abendmahl seien von Christus selbst eingesetzt, gehört gewissermaßen zum protestantischen Selbstbewusstsein. Soweit die Theorie.

Die Praxis sah in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch so aus, dass in den Sonntagsgottesdiensten zwar regelmäßig getauft, das Abendmahl aber kaum gefeiert wurde, vielerorts nur am Karfreitag und am Buß- und Bettag bzw. „im Anschluss an den Gottesdienst“. Das hat sich seither geändert. Denn es ist zu einem wechselseitigen ökumenischen Lernprozess gekommen: Die Katholiken haben von den Evangelischen die regelmäßige Predigt übernommen, die Evangelischen von den Katholiken die regelmäßige Feier des Herrenmahls – selbstverständlich „im“ Gottesdienst. Soweit, so gut.

Nicht gut hingegen ist die inzwischen vielerorts eingerissene Praxis, die Taufen außerhalb der sonntäglichen Gemeindegottesdienste zu vollziehen. Die Taufe ist unstreitig das „erste“ Sakrament; aus ihm erwächst die Gemeinde. Die Taufe ist zudem „das ökumenische Sakrament schlechthin“3. Und doch ist sie zur Winkeltaufe geworden. Für die sich zum Gottesdienst versammelnde Gemeinde ist die Taufe unsichtbar. Denn nun findet die Taufe entweder, wie einst das Abendmahl, im Anschluss an den Gottesdienst statt oder aber am Sonnabend. Und oft auch nicht mehr in der Kirche, in der nicht selten ein Taufstein steht, der älter ist als die Kirche selbst, sondern in der Sakristei. Für die gewöhnliche gottesdienstliche Gemeinde, einschließlich gelegentlicher Besucher, gibt es eine Taufe nicht mehr zu sehen. Es hat eine Entwicklung begonnen, an deren Ende die Praxis steht, im Gottesdienst nur noch ein einziges Sakrament zu feiern, das Abendmahl.

Öffentliche Feier oder Arkandisziplin

Es mögen auch praktische Gesichtspunkte sein, die dazu geführt haben, der Taufe ihren öffentlichen Charakter zu nehmen und sie in eine mehr oder weniger geschlossene Familienfeier umzufunktionieren. Noch in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte vor einem Überhandnehmen (!) der Taufgottesdienste gewarnt werden.4 Diese Situation hat sich grundlegend geändert. Heute müssen selbst regelmäßige Gottesdienstbesucher jahrelang warten, ehe sie eine Taufe in einem normalen Sonntagsgottesdienst zu Gesicht bekommen (bei mir war es eine Taufe in acht Jahren). Natürlich gibt es heute weniger Taufen als früher, aber selbst diese wenigen sind aus dem Sonntagsgottesdienst ausgewandert. Die Taufe ist zu einer privaten Familienfeier ohne Bezug zum öffentlichen Gottesdienst der christlichen Kirche geworden.5

Taufe und Abendmahl gehören nach Luther zu den sichtbaren Kennzeichen der Kirche. Sie sind sichtbar, weil sie öffentlich sind. Und weil sie öffentlich sind, kann an ihnen die wahre Kirche in der Welt erkannt werden. Taufe und Abendmahl sind öffentliche Erkennungszeichen.6 Die öffentlich vollzogene Taufe dient so den schon vor langer Zeit Getauften zur Vergewisserung der eigenen Taufe, gerade auch denen, die nicht zur „Taufgesellschaft“ (ein verräterisches Wort!) gehören. Die Reformatoren setzten die Öffentlichkeit von Taufe und Abendmahl voraus. Sie konnten daher sogar davon sprechen, dass an diesen beiden Sakramenten die echte christliche Kirche von außen zu erkennen ist und dass diese öffentlichen Sakramente den Glauben erwecken und stärken können.7

Dieser Öffentlichkeitscharakter ist der Taufe abhanden gekommen. Während das Abendmahl den Weg in die breite Öffentlichkeit angetreten hat – denken wir nur an die Abschlussgottesdienste der Kirchentage –, steht die Taufe in der Gefahr, zum Ritus eines esoterischen Geheimzirkels zu werden8, so als müsste sie die Öffentlichkeit scheuen und als wäre sie der sonntäglich versammelten Gemeinde nicht mehr zuzumuten. Die evangelische Kirche droht zu einer Ein-Sakramenten-Kirche zu werden.

Die Vermeidung des Auffälligen

Welche Zeitströmungen haben zu dieser Entwicklung geführt? Welche Mentalität begünstigt die angedeuteten Veränderungen in der Taufpraxis? Um von einem Beispiel auszugehen: Es gehört zur heutigen Situation, dass auch nicht getaufte Jugendliche am Konfirmandenunterricht teilnehmen. Häufig wird dann erwartet, sowohl von den Angehörigen wie von den Pfarrern, dass solche Konfirmanden am Sonnabend vor der Konfirmation (in der Sakristei) getauft werden, um sich dann als Getaufte mit den anderen am folgenden Tag konfirmieren zu lassen. Wer dagegen vorschlägt, die Taufe im Konfirmationsgottesdienst zu vollziehen, kann auf Schwierigkeiten stoßen. Da würde man doch auffallen, wird entgegnet, und das sei peinlich.9

Wo Taufen immer seltener und unsichtbar werden, wirken sie als Ausnahmeerscheinung, an der man sich nicht gern beteiligt. Was auffällt, wird vermieden. Diese Abwehrhaltung wird noch verstärkt durch den Eindruck, die öffentliche Taufe sei etwas Sektenmäßiges. Da die Taufen aus dem Gemeindegottesdienst ausgewandert sind, erinnert man sich vielleicht an Bilder von Taufen bestimmter Sekten, z.B. im Jordan, also an etwas Fremdes, mit dem man nichts zu tun haben will.

Der Taufritus widerspricht einer Mentalität, für die das „Spirituelle“ hoch im Kurs steht. Seit der Frühen Kirche gibt es immer wieder Bewegungen, die alles Körperliche und Institutionelle abwerten und unter sich lassen wollen, um „geistige“ Erfahrungen zu machen. Und dazu scheint die konkrete und leiblich vollzogene Taufe nicht zu passen.

Schließlich geht auch unser kollektives Gedächtnis auf Distanz zur Taufe. Die christliche Taufe wird mit den Zwangstaufen früherer Jahrhunderte assoziiert. Die Taufe wird in die Nähe der Kreuzzüge, der Inquisition und der Unterdrückung der Ureinwohner der früheren Kolonien in Afrika und Lateinamerika gerückt. Die Folge ist, dass die Taufe als Ausdruck christlicher Überheblichkeit erscheint. Und wenn diese Hypothek der Geschichte sich mit den Ansprüchen eines weltanschaulichen Pluralismus und den Idealen interreligiöser Dialoge verbindet, steht jede Bekräftigung der Taufe vor einer doppelten Front.

Gegenrede

Etwas fehlt in diesen Abwehrhaltungen gegen die öffentliche, leibhafte Taufe völlig. Es fehlt jeder Gedanke daran, dass die Taufe Trost und Freude schenkt. Man muss schon weit zurück in die Vergangenheit gehen – oder weit weg in Kirchen anderer Länder –, um daran erinnert zu werden.

Bekanntlich hat sich Luther, gerade in Zeiten schwerer Selbstzweifel und Konflikte, immer wieder mit seinem Getauft-Sein getröstet. Die Taufe war ihm so wichtig, dass er sogar vorgeschlagen hat, am 1. Januar keine Neujahrspredigt zu halten und „das Narrenwerk, mit dem man das Neue Jahr zu begehen pflegt“, auszulassen: „Wir haben ein Neues Jahr bekommen in der Taufe. Da laßt uns zusehen, daß wir es behalten, wir bedürfen keines anderen mehr.“10 Welch kühner Gedanke, gegen den bürgerlichen Kalender die Passage zum Neuen aus der einmaligen Taufe zu begründen!

Hier klingt etwas von geschenktem Selbstbewusstsein an, das einen Kontrast darstellt zu der merkwürdigen Freudlosigkeit, die sich beim Thema Taufe einstellt. Dass die Taufe ein Freudenfest sein kann, ist in Deutschland selten, aber in der Ökumene häufig zu erleben. Dort ist ohne falsche Bescheidenheit die unbefangene Freude zu spüren darüber, dass mit der Taufe Menschen der Gemeinde Jesu „hinzugefügt“ werden (Apg 2,41.47).

Interessanterweise sind aber, abgesehen von theologischen Reflexionen im engeren Sinne, in gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Diskursen Themen anzutreffen, die sich mit dem Anliegen dieses Beitrags berühren. Ich hatte schon die Stichworte Leiblichkeit und kollektives Gedächtnis erwähnt. Während einerseits, wie gezeigt, die Öffentlichkeit und der körperliche Vollzug der Taufe problematisiert werden, befassen sich Literaturwissenschaftler, Philosophen und Soziologen intensiv mit Themen wie „‚Leib sein‘und ‚Körper haben‘ oder Körperdiskurse in Geschichte und Gegenwart“11. Und dass es in Bezug auf die Taufe auch andere als die oben erwähnten tauf-kritischen Gedächtnisse gibt, belegt die Kirchspielchronik des isländischen Schriftstellers Halldór Laxness.12 Er schildert die Reaktion der bäuerlichen Gemeinde der Mosfellkirche (bei Reykjavik) auf den im 19. Jahrhundert von den dänischen Kirchenbehörden verfügten Abriss ihrer Kirche. „Das Kirchengebäude bleibt noch lange nach seinem Abriss existent in den Lebensgeschichten und den in den Bauernhäusern versteckt gehaltenen heiligen Geräten wie dem Abendmahlskelch, der Glocke, der Taufschale und der Taufkanne des zerstörten Kirchleins.“13 Durch eine unverhoffte Erbschaft kann die Kirche später wieder aufgebaut werden. Aber ohne das kollektive Gedächtnis der Gemeinde und ihren Widerstand gegen eine zweckrationale Finanzpolitik der Kirchenleitung wäre es dazu nicht gekommen.

Schließlich: Dass die Taufe einen Gottesdienst zu einem Freudenfest machen kann, habe ich in Schweden erlebt: Eine kleine Gemeinde auf dem Lande, eine (spontane) Dialogpredigt – der Pfarrer kennt alle mit Namen, eine Taufe im Gottesdienst am Sonntagmorgen. Nicht Eltern oder Paten halten das Kind über den Taufstein, sondern sie übergeben es dem Pfarrer. Fast klemmt er es unter seinen linken Arm, während er es mit der rechten Hand tauft. Und danach die Überraschung: Er fasst das getaufte Kind mit beiden Händen, hebt es in die Höhe, hoch über seinen Kopf, zeigt es der Gemeinde und ruft: „Ein neuer Christenmensch!“ Und die Gemeinde, sie klatscht, laut und anhaltend.

Im Alten Testament heißt es: „Alle Bäume sollen in die Hände klatschen“ (Jes 55,12), weil Gott sein Volk aus der babylonischen Gefangenschaft nach Hause führt. Da darf sich auch die christliche Gemeinde in aller Öffentlichkeit unbekümmert und dankbar freuen über die Taufe und ihre Gabe der ewigen Seligkeit.


Hermann Brandt


Anmerkungen

1 http://www.ekd.de/ezw/wirueberuns.php
2 Vgl. meine Beiträge: Zur Magie des Jesusnamens, in: MD 1/2007, 22-26, und Was feiern Christen am 1. Januar? Zur Wiedergewinnung eines Christuszeugnisses älterer Gesangbücher und Zinzendorfs, in: Lutherische Kirche in der Welt (= Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Folge 54), Erlangen 2007, 79-106.
3 Wolfgang Trillhaas, Dogmatik, 3. Aufl., Berlin 1972, 354.
4 Wilhelm Jannasch im Art. Taufe, Praktisch-theologisch, in: RGG, 3. Aufl., Tübingen 1962, 654-656: „Eine weithin schon vollzogene Reform der Taufliturgie ist es, dass Taufen im Gemeindegottesdienst stattfinden, womit der Taufe wieder ein klarer gemeindlicher Bezug zurückgegeben wird. Nur sollten bestimmte Taufsonntage vorgesehen werden, da erfahrungsgemäß die innere Teilnahme der Gemeinde unter zu oft wiederkehrenden Gottesdienst-Taufen leidet.“, ebd., 655.
5 Daher sind alte Forderungen von W. Trillhaas und Edmund Schlink wieder aktuell geworden: „Die Taufe muß aus der privaten Sphäre der Familie wieder herausgelöst und in die Öffentlichkeit der Kirche gestellt werden“, so W. Trillhaas in: Der Dienst der Kirche am Menschen, 2. Aufl., Berlin o. J. (1958), 134; „...daß die Taufe in stärkerem Umfang, als dies weithin üblich ist, inmitten der versammelten Gemeinde vollzogen wird“, so E. Schlink in: Die Lehre von der Taufe, Kassel 1969, 148.
6 Martin Luther, Von den Konzilien und Kirchen, in: M. Luther, Ausgewählte Schriften, Inselausgabe, Bd. 5, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1983, 181-221, bes. 191f; vgl. hierzu: Gerhard Müller, Das Kirchenverständnis der lutherischen Reformation, in: Lutherische Kirche in der Welt (= Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Folge 54), Erlangen 2007, 197-216; H. Brandt, Lutherische Identität: Ethik, Mission, Dialog der Religionen, in: Lutherische Kirche in der Welt (= Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Folge 53), Erlangen 2006, 44-67.
7 Siehe CA XIII: „Die Sakramente sind eingesetzt, nicht allein darum, daß sie Zeichen sind, daran man äußerlich die Christen erkennen kann, sondern daß sie Zeichen und Zeugnisse sind des göttlichen Willens uns gegenüber, unseren Glauben dadurch zu erwecken und zu stärken“, in: BSLK, 65f.
8 Nach einer Formulierung von Gerhard Müller, in: Das Kirchenverständnis (wie oben in Anm. 6), 208.
9 Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass es durchaus möglich ist, Verständnis für eine solche Taufe anstelle der Konfirmation zu finden. Aber dazu bedarf es schon einer Überzeugungsarbeit.
10 Näheres hierzu in: H. Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar?, in: Lutherische Kirche in der Welt (= Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Folge 54), Erlangen 2007, (79-106), 83f (Anm. 11).
11 Titel der Münchner Abschiedsvorlesung von Wolfgang Frühwald vom 8. Juli 2003.
12 Halldór Laxness, Kirchspielchronik (1976), ins Deutsche übertragen von Fritz Nothardt, Göttingen 2005.
13 So die Paraphrase von Klaus Raschzok in: Ders., Ein zukunftsoffener Raum (Wilhelm Löhe). Die Bedeutung des Kirchengebäudes für den Gottesdienst der Kirche, in: Lutherische Kirche in der Welt (wie oben in Anm. 10), (217-234), 233f.