Harald Lamprecht

Die inoffizielle Wahrheit

Warum sind Verschwörungstheorien attraktiv?

Sind die weißen Streifen am blauen Himmel, die hinter Flugzeugen aufscheinen, wirklich nur harmlose Kondensstreifen, oder werden dort heimlich Chemikalien versprüht? Wurden die Anschläge am 11. September 2001 wirklich von islamistischen Terroristen begangen? Oder haben da die Geheimdienste mitgemischt? Waren die Amerikaner tatsächlich auf dem Mond, oder sind die Bilder in einem Filmstudio entstanden? Ist der Klimawandel nur eine große Propagandalüge? Gibt es am Südpol noch geheime unterirdische Militärbasen des Nazireiches, die das Kriegsende verpasst haben? Verschwörungstheorien sind populär. Sie erfreuen sich der Akzeptanz in wachsenden Bevölkerungskreisen – mit weitreichenden negativen Folgen für die Gesellschaft.

Wesen und Struktur

Der Blick hinter die Kulissen

Die Grundaussagen einer jeden Verschwörungstheorie lauten kurz gefasst: 1. Die Wirklichkeit ist anders, als sie erscheint. Misstraue der offiziellen Darstellung. 2. Es gibt eine kleine, aber einflussreiche Gruppe, die im Hintergrund die Fäden zieht, selbst aber unerkannt bleiben möchte. 3. Sie manipulieren bewusst die öffentliche Meinung, um ihre wahren Ziele zu verschleiern.

Diese Grundbausteine bestimmen alle Verschwörungstheorien, wobei der primäre Impuls zunächst in der Ablehnung der „offiziellen“ Darstellung zu Ereignissen und Zusammenhängen liegt, zu denen „alternative“ Sichtweisen angeboten werden. Insofern können Verschwörungstheoretiker mit dem Pathos der Kämpfer für Meinungsfreiheit auftreten, die einen Partisanenkampf gegen eine übermächtige Struktur zur Unterdrückung fremder Meinungen führen. Eine solche Akzentuierung kann auch dort wohlwollende Aufmerksamkeit verschaffen, wo die vertretenen Inhalte eher abstrus erscheinen.

Die Frage nach den Verschwörern und ihrem Wesen bleibt demgegenüber eher im Hintergrund. Sie ist auch das schwächere Glied in der Argumentationslogik, denn man müsste ja erklären können, wie eine solch kleine Gruppe zu solcher Macht gelangen konnte. Weil das nicht leicht ist, wird dieser Teil der Theorie oft weit weniger detailliert ausgefaltet und mehr in Andeutungen belassen, welche die Fantasie weiter ausschmücken darf. Stattdessen wird die Hauptenergie auf angebliche oder tatsächliche Widersprüchlichkeiten in der „offiziellen“ Wahrheit gelenkt. Die vorgeschlagenen Alternativen müssen genau betrachtet weder logischer noch widerspruchsfreier sein. Es genügt in den meisten Fällen, den Zweifel an der etablierten Darstellung zu säen. Ist das Vertrauen in die gängige Deutung erst einmal erschüttert, saugt das entstehende Erklärungsvakuum die Verschwörungstheorie wie von selbst in die Plausibilität – egal, ob sie es nun verdient oder nicht.

Hyperrational

Verschwörungstheorien sind nicht einfach irrational. Sie zeichnen sich im Gegenteil oft dadurch aus, dass sie eine bis ins Irreale gesteigerte Rationalität postulieren. Die Grundvoraussetzung, von der sie argumentativ ausgehen, besagt, dass die Wirklichkeit immer logisch ist und in strenger Determination abläuft. Alles, was geschieht, hat seinen Sinn und seinen Verursacher. Den gilt es zu erkennen. Dann erschließt sich auch die Logik hinter dem scheinbar Unlogischen. Es gibt also die Erwartung einer absolut lückenlosen logischen Geschlossenheit hinter allem Geschehen als Normalzustand. Zufall und Paradox werden aus der Weltgeschichte ebenso wie aus dem eigenen Leben per Definition ausgeschlossen. Wo sie dennoch auftreten, gilt dies als Beweis dafür, dass Verschwörer am Werk sind – denn diese machen auch Fehler. In dem Film „Matrix“ heißt es z. B., Déjà-vu-Erlebnisse seien Zeichen dafür, dass die Programmierer gerade etwas an der „Matrix“ ändern, welche eine perfekte Illusionswelt für die Menschen darstellt, die zu Lieferanten von Bioenergie versklavt wurden.

Gute und Böse

Der große Erklärungswert von Verschwörungstheorien besteht auch darin, dass sie die Welt sortieren und vereinfachen. Es gibt letztlich nur noch drei Bevölkerungsgruppen:

a) Die Verschwörer: Das ist die kleine Gruppe geheimer Drahtzieher hinter allem Weltgeschehen. Deren Benennung richtet sich nach dem jeweils vertretenen Feindbild (Juden, Freimaurer, Pharmakonzerne, Regierung, Finanzkapital, Illuminaten u. Ä.). Unterscheidungen innerhalb der Gruppe in gute und böse Regierungsmitglieder sind in dem Konzept nicht vorgesehen. Verschwörer sind immer gleich böse. Die nehmen nur die besten Leute. Ebenso ist klar: Die Verschwörer sind getrieben von der Gier nach Macht. Andere Motive gibt es nicht oder sind bestenfalls vorgeschoben.

b) Die Unwissenden: Das ist die große Masse des Volkes. Sie werden von den Verschwörern dumm gehalten, beherrscht und manipuliert – und zwar so geschickt, dass sie es nicht bemerken und sich einbilden, sie hätten Freiheit und Demokratie. Stattdessen kontrollieren die Verschwörer letztlich alles, mindestens aber die öffentliche Meinungsäußerung.

c) Die Wissenden: Das ist die kleine Gruppe derjenigen, welche die Verschwörung erkannt und durchschaut haben. Sie bilden die Elite, zu der natürlich zuerst der Verschwörungstheoretiker selbst gehört sowie – sofern er welche hat – seine engsten Freunde. Weil sie für die Verschwörer gefährlich sind, werden sie hart verfolgt, und es wird versucht, sie mit Repressionsmaßnahmen mürbe zu klopfen. Das erklärt alle Konflikte mit Polizei und Justiz, welche diese aufrechten Kämpfer für die Wahrheit zu erdulden haben. Jedes Knöllchen fürs Falschparken kann so einen höheren Sinn bekommen. Die Wissenden bezeichnen sich auch als „Truther“, welche die eigentliche Wahrheit (engl. truth) hinter den Dingen zu erkennen meinen, und vernetzen sich konspirativ auf diversen Internetplattformen.

Mit dieser Einteilung in Gute und Böse ist die Welt eindeutig sortiert. Ambivalenzen und Zweifel, die das Leben unsicher machen könnten, entfallen angesichts der zwingenden Logik der Theorie.

Selbstimmunisierung

Wesentliches Merkmal von Verschwörungstheorien ist ihr selbstimmunisierender Charakter. Es ist strukturell unmöglich, sie zu widerlegen. Die letzte große Verschwörung wird letztlich nie aufgedeckt, denn die Verschwörer haben ja alles im Griff. Wer die Verschwörung hinterfragt oder bestreitet, ist im besten Fall ein dummer Unwissender (Kategorie b), der es nicht begriffen hat und die große Täuschung nicht durchschaut. Oder aber er ist selbst einer der Verschwörer, die natürlich ihre besten Leute losschicken, um denjenigen, die etwas zu ahnen beginnen, die Sache schleunigst wieder auszureden. Jedes Argument gegen die Verschwörung wird auf diese Weise zu einem geschickten Täuschungsmanöver der Verschwörer umdeklariert, das damit noch die Echtheit und Gefährlichkeit der Verschwörung weiter unterstreicht. Wohin ein solches Denken führen kann, zeigt die „Bielefeld-Verschwörung“: ein humoristischer „Beweis“ in den logisch unangreifbaren Denkfiguren einer Verschwörungstheorie, dass die Stadt Bielefeld nicht existiere und ein geschicktes Konstrukt der Verschwörer darstelle.1

Ein Beispiel: Als Jan Udo Holeys unter dem Pseudonym „Jan van Helsing“ erschienenes antisemitisches und verschwörungstheoretisches Buch „Geheimgesellschaften und ihre Macht im 21. Jahrhundert“ wegen Volksverhetzung beschlagnahmt wurde, war das für den Autor nur der Beweis für die Richtigkeit seiner Thesen: Die Illuminaten hätten versucht, ihre Entdeckung zu verhindern. Kritische Zeitungsberichte beweisen nur, dass das Blatt in der Hand der zionistisch-illuminatischen Machthaber sei.

Wirklichkeitsreduktion

Verschwörungstheorien sind attraktiv, weil sie das Unverstehbare erklärbar machen. Menschen haben immer ein Problem mit dem zufälligen Schicksal, zumindest wenn es negativ daherkommt oder das Glück nur den Nachbarn trifft. Wissenschaftler sprechen von der „Kontingenzbewältigung“, mit der Menschen zu tun haben und für die die Religionen einen Beitrag leisten. Verschwörungstheorien erklären die Welt, indem sie den Zufall eliminieren und die elementare Daseinsfrage „Warum geht es den Bösen so gut und mir so schlecht?“ eindeutig beantworten: weil die geheimen Drahtzieher daran ein Interesse haben. Darin steckt eine gewaltige Reduktion der Komplexität unserer modernen Lebenszusammenhänge. An die Stelle eines undurchschaubaren Geflechtes komplexer Beziehungen tritt ein einfaches Schema: Dahinter stecken die Verschwörer, welche alles manipulieren.

Insofern sind Verschwörungstheorien ein Zeichen der Moderne: Je komplexer und unübersichtlicher unsere Welt wird, desto mehr haben (auch) Verschwörungstheorien Zulauf, die dieses Gefüge scheinbar entwirren. Wer sich nicht wirklich aus persönlichem Engagement oder beruflichen Gründen damit beschäftigt, wie die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik in ihren inneren Bezügen funktionieren, versteht immer weniger die eigentlichen Zusammenhänge. Das macht Verschwörungstheorien attraktiv. Sie sind ein Mittel, um die damit verbundenen Ängste zu bannen, indem die Gefahren aus dem numinosen Bereich des Unnennbaren heraustreten und auf einen klaren Feind projiziert werden. Außerdem hilft die Verschwörungstheorie, mit eigenen Niederlagen umzugehen, denn sie hebt das eigene Unglück aus der Banalität des Alltags oder des Zufalls oder des eigenen Verschuldens heraus. „Wenn ich z. B. als arbeitsloser Journalist eine Stelle nicht bekomme, weil meine Qualifikation nicht reicht, ist das peinlich. Wenn ich es darauf zurückführen kann, dass eben bei dieser Zeitung die Juden oder die Linken oder die Rechten das Sagen haben, dann trage ich die Niederlage hoch erhobenen Hauptes.“2

Sündenbock

Verschwörungstheorien sind gefährlich, weil ihre verzerrte Beschreibung der Wirklichkeit Opfer fordert. Die vermeintlichen Verschwörer werden im Blick des Verschwörungstheoretikers in solcher Weise zum Feindbild stilisiert und mit dem wesenhaft Bösen identifiziert, dass sie ihre Menschlichkeit verlieren. Die Entlastungsfunktion, welche die Verschwörungstheorien durchaus aufweisen, geht letztlich zulasten anderer. Die Theorie konstruiert einen Sündenbock für das persönliche Unglück. Alles Missgeschick und eigene Scheitern wird auf die angeblichen Verschwörer projiziert, die dafür die Verantwortung tragen sollen. Während Paranoiker nur sich selbst aus der Gesellschaft ausgrenzen, sind Verschwörungstheoretiker gefährlich, denn sie können eine Pogromstimmung erzeugen, die für andere lebensgefährlich werden kann. Das galt für die Juden im Dritten Reich (und früher), für die angeblichen Hexen im Europa der frühen Neuzeit und heute noch in Afrika und andere mehr. Die Sündenbock-Gefahr wird dadurch bestärkt, dass die allermeisten Verschwörungstheorien zur Pauschalisierung neigen. Es wird üblicherweise unterstellt, dass alle Mitglieder der Verschwörung den gleichen Anteil an der bewussten Bosheit ihrer Anführer haben.3

Verschwörungsdenken hat einen Hang zum Totalitarismus: Es erzeugt das Bewusstsein einer Bedrohung, die nur durch einschneidende Maßnahmen abgewehrt werden kann. Zur These gehört, dass wenige Böse die Geschichte in entscheidender Weise beeinflussen können. Daher müssen diesen zwangsläufig übermenschliche, quasi dämonische Kräfte zugeschrieben werden.

Echte Verschwörungen

Die kritische Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien muss bedenken, dass es in der Tat echte Verschwörungen gab und gibt, die gelegentlich aufgedeckt werden. Cäsar wurde von Verschwörern umgebracht. In Italien war in den 1970er Jahren ein konspiratives Netzwerk aus Führungspersonen von Polizei, Wirtschaft, Militär, Politik und Mafia entstanden, das auch in Terroranschläge verwickelt war. Amerikanische Geheimdienste waren verschiedentlich an dem Sturz auch von demokratisch gewählten Regierungen beteiligt.

Es gibt auch jenseits der Schwelle „echter“ Verschwörungen diverse Einschränkungen demokratischer Strukturen. Es gibt Lobbyorganisationen, die an Parlamenten vorbei auf Gesetze Einfluss zu nehmen versuchen. Es gibt Regierungen, die Angst vor ihren Bürgern haben und sämtliche Kommunikationsdaten speichern lassen. Es gibt Medien, die den Interessen ihrer Herausgeber dienen. Es gibt multinationale Konzerne, die lokale Gesetzgebung unterlaufen. Es gibt Skandale, die vertuscht werden sollen. Außerdem weiß jeder: Krieg wird heutzutage in immer stärkerem Maß mit gefilterten Informationen geführt, welche die öffentliche Meinung im Sinne einer der Kriegsparteien manipulieren. Die Wahrheit ist das erste Opfer eines jeden Krieges, fasst ein Sprichwort diese Situation zusammen.

Was unterscheidet solche realen Vorgänge von den Verschwörungstheorien? Der Hauptunterschied ist ihre Begrenztheit. Die realen Vorgänge betreffen bestimmte Länder, Situationen, Ziele. Die Verschwörungstheorie unterstellt eine andere, größere Dimension der Konspiration, die aber unrealistisch ist. Außerdem überschreitet das Ausmaß der Vertuschungsmaßnahmen, die zur wirksamen Täuschung der Öffentlichkeit nötig wären, den in offenen demokratischen Gesellschaften möglichen Rahmen bei Weitem. Begrenzte Verschwörungen mit wenigen Eingeweihten und klaren Zielen können eine Zeitlang unentdeckt bleiben – und auch sie werden oft früher oder später publik.

Beispiele

Typische Zuschreibungen

In vielen klassischen Verschwörungstheorien wird eine Mischung aus Juden, Freimaurern und Illuminaten mit den Weltverschwörern identifiziert. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind diesbezüglich ein Klassiker: eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei aus dem 19. Jahrhundert, in der ein angeblicher Plan der Juden zur Erlangung der Weltherrschaft und zur Unterdrückung der nichtjüdischen Bevölkerung beschrieben wird. (Umberto Eco hat seinen Roman „Ein Friedhof in Prag“ diesem Milieu gewidmet.) Den Freimaurern wird unterstellt, in ihren geheimen Logen eine (zionistische) Weltregierung zu bilden und das (jüdische) Finanzkapital in der Hand zu haben.

Ursachen für diese Mythen liegen zum einen in dem besonderen inneren Zusammenhalt des jüdischen Volkes. Dieser hat es schon immer für Außenstehende suspekt gemacht und dazu geführt, dass ihm diverse Bösartigkeiten unterstellt wurden. Religiöse Ausgrenzung und antijudaistische Stimmungen haben dies unterstützt.

Für die Freimaurer gilt, dass sie ihre Brüder in der Tat zur Verschwiegenheit in den Logendingen verpflichten und in ihrer Entstehungszeit durchaus konspirativ gearbeitet haben, weil sich freiheitliche Zirkel in einer absolutistischen Monarchie sonst nicht hätten bilden können. Weil sich in den Logen auch gegenwärtig wöchentlich einflussreiche Personen versammeln und die Ritualangelegenheiten geheim gehalten werden, traut man ihnen noch vieles andere zu. Die katholische antifreimaurerische Polemik des 18. und 19. Jahrhunderts hat den Ruf der Freimaurer nicht verbessert. Die Verknüpfung von antijüdischer und antifreimaurerischer Propaganda zur „freimaurerisch-zionistisch-jüdischen Weltverschwörung“ ist aber erst im Dritten Reich erfolgt.

Der 1776 gegründete Illuminatenorden ist die erste historisch belegte Form einer breit angelegten konspirativen Geheimgesellschaft mit politischen Zielen (nämlich die Aufklärung voranzubringen). Dass er bereits 1785 aufgelöst wurde, hat seiner Popularität nicht geschadet. Losgelöst von realer Existenz kann sein Name seitdem als Chiffre für alle vermuteten Verschwörungen herhalten – und für diverse Neugründungen diverser mehr oder weniger esoterisch angehauchter neuer Illuminatenorden.

Misstrauen gegenüber der Politik

Eine andere Kategorie gängiger Verschwörungstheorien thematisiert ein empfundenes Misstrauen gegenüber der Regierung und den als von ihr gesteuert empfundenen Medien. Klassiker dieser Rubrik ist die angezweifelte Mondlandung der Amerikaner, deren Bilder angeblich im Fernsehstudio entstanden sein sollen.4 Um die Attentate des 11. September 2001 ranken sich etliche, teilweise auch sich widersprechende Theorien, deren Grundaussage darin besteht, dass die Anschläge nicht – oder jedenfalls nicht allein – von islamistischen Terroristen begangen wurden, sondern von westlichen Geheimdiensten (CIA, Mossad etc.) unterstützt, initiiert oder sogar ausgeführt worden seien. Die Amerikaner hätten dies zur Rechtfertigung ihres Krieges gegen den Islam (genannt „Krieg gegen den Terror“) gebraucht. Diese Sicht stellt die vom Verschwörungstheoretiker geglaubte Ordnung wieder her: Die Geheimdienste (bzw. die Juden) sind die Bösen, die eigene (bzw. die amerikanische) Regierung arbeitet gegen das Volk und schreckt dabei auch vor unglaublichen Taten nicht zurück.

Auf dieser Linie liegen auch Verschwörungstheorien zu Umweltereignissen wie z. B. den Tsunamis von 2004 und 2011. Diese seien nicht durch natürliche Seebeben, sondern (absichtlich?) durch Tiefenbohrungen oder atmosphärische Forschungen (HAARP) amerikanischer Einrichtungen hervorgerufen worden. Diese Theorie versucht, das Unfassbare einer solchen Naturkatastrophe zu mildern, indem menschliche Verursacher dafür verantwortlich gemacht werden. Aber auch die umgekehrte Fassung gibt es, z. B. im Blick auf den Klimawandel: Dieser sei überhaupt keine Folge menschlichen Einwirkens auf die Natur, sondern insgesamt eine mit manipulierten Forschungsergebnissen gestützte Erfindung, um eine neue Umweltindustrie mit Aufträgen zu versorgen.

Chemtrails

Mangelndes physikalisches Wissen über die chemischen Reaktionen in der Stratosphäre macht anfällig für eine besondere Form der Unterstellung von Skrupellosigkeit und Vertuschung, die wachsende Popularität gewinnt: die These der sogenannten Chemtrails. Die Regierungen bzw. die Militärs und deren Forschungseinrichtungen würden mit Flugzeugen Chemikalien in die Atmosphäre versprühen. Sie würden dies tun – je nach Fassung der Theorie –, um das Klima zu verändern, Krieg zu führen, das Volk zu verdummen usw. Sehen könne man dies an den seltsamen Kondensstreifen, die nicht „normal“ seien und sich nur sehr langsam auflösen.5

Kondensstreifen entstehen in hinreichend kalter Atmosphäre als Folge der Wasserdampfemissionen aus Flugzeugtriebwerken. Bei niedriger Feuchte lösen sich Kondensstreifen rasch wieder auf. Ist die Atmosphäre jedoch hinreichend feucht, können Kondensstreifen länger existieren und weiter wachsen. Unter geeigneten Bedingungen entwickeln sie sich zu großflächigen Zirruswolken. Altern Kondensstreifen, bleiben sie nicht glatt, sondern bilden Formen, wie auf vielen Fotos zu sehen ist. Dieser Vorgang ist ein lange bekanntes Phänomen und eine Folge der Turbulenz, die in der Atmosphäre allgegenwärtig ist. Die Formen lassen sich auch durch Modellsimulationen reproduzieren.6 Über sogenanntes „Geoengineering“ wird durchaus nachgedacht und geforscht, aber wegen der unkalkulierbaren Risiken bei der Anwendung werden großflächige Eingriffe durchweg abgelehnt.7

Internetportale und Impfgegner

Beträchtlichen Anteil an der Popularisierung von Verschwörungstheorien haben diverse Internetportale und Medienunternehmungen. Bekannt geworden ist u. a. Infokrieg.tv, das inzwischen unter der Domain recentr.org die Weltpolitik aus verschwörungstheoretischer Perspektive präsentiert. Ähnlich beansprucht der frühere Taxifahrer Jo Conrad mit seinen Videos auf bewusst.tv, seinen Zuschauern „ungefilterte Informationen“ jenseits der „Manipulationen in der Politik, Gesundheitswesen, Religion usw.“ zu bieten.

Eine eigene Dimension erreichen die Aktivitäten des früheren pfingstkirchlichen Predigers Ivo Sasek in der Schweiz. 2007 gründete er in Walzenhausen die „Anti-Zensur-Koalition“8 und hat seitdem etliche Konferenzen mit mehreren tausend Teilnehmern dazu organisiert, bei denen sich Verschwörungstheoretiker, Holocaustleugner und Scientologen die Klinke in die Hand gaben. Begleitet wird dies von den Kopier-Zeitschriften „Anti-Zensur-Zeitung“ sowie „Stimme und Gegenstimme“, die als „Hand-Express“ in einem System persönlicher Zuträger auch ohne Beteiligung des Internets verbreitet werden sollen.9 Hinzu treten mehrere Internetportale wie Klagemauer.tv und Jugend.tv, auf denen Saseks eigentümliche Weltdeutungen von vielen freiwilligen Sprechern verlesen werden.10

Jenseits der Grenze zur Verschwörungstheorie laufen auch manche Argumente von Impfgegnern. Da wird eine weitreichende Konspiration von Pharmakonzernen und Gesundheitsbehörden zum Schaden der Bevölkerung unterstellt, damit Erstere ihre Profite maximieren können. Nun ist es zwar wahr, dass manche Pharmaunternehmen mit ihren Impfstoffen viel Geld verdienen wollen und nicht jede mögliche Impfung auch immer medizinisch sinnvoll ist. Ebenso wahr ist aber auch, dass Impfungen hoch wirksame Mittel zur Anregung des körpereigenen Immunsystems darstellen. Bei den von der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut (STIKO) empfohlenen Impfungen ist erwiesen, dass der Nutzen die Risiken bei Weitem überwiegt.11

Skurrilitäten

Sowohl im Umfeld von einzelnen christlich-fundamentalistischen Gruppen als auch bei rechtsnationalen Esoterikern und in der Reichsbürgerbewegung kann man die These vertreten finden, die deutsche Regierung sei von Satanisten unterwandert oder stehe sogar selbst direkt mit dem Teufel im Bunde. Dies könne man daran sehen, dass auf der Rückseite des Personalausweises (wenn man ihn auf den Kopf stellt) der Baphomet-Teufel abgebildet sei.12 Nüchternere Zeitgenossen sehen dort (nur) ein Ornament. Mit viel Fantasie könnte man darin einen stilisierten Ziegenkopf erblicken. Einen Teufel sieht nur, wer ihn vorher schon im Kopf hat und dort sehen will.

Auch wildere Formen des Realitätsverlustes sind gelegentlich zu beobachten. In diversen Internetforen wird ernsthaft über die Thesen von David Icke diskutiert,13 dass Illuminaten, Freimaurer, Juden und alle Verschwörer in Wahrheit reptiloide Außerirdische seien, die in Menschengestalt heimlich unter uns wohnen. Das erklärt den Tod von Prinzessin Diana, das Wirken von Vampiren und Satanisten sowie der katholischen Kirche, die Funktion von RFID-Chips und die Anschläge des 11. September. In diesen Milieus ist der Schritt dann nur noch klein, um auch über geheime Flugscheiben der Wehrmacht zu spekulieren, die im Neuschwabenland am Südpol auf ihren Einsatz warten.14 Übrigens: Dass dies so absurd und lächerlich klingt, sei von den Verschwörern so gewollt, um die Menschen von der Erkenntnis der Wahrheit abzuhalten.

Gefahren

Demokratiefeindlich

Verschwörungstheorien blühen dort, wo es keine gelebte Demokratie gibt. Erst in einem solchen Milieu sind sie glaubwürdig. Dabei genügt es allerdings, wenn die Protagonisten der Theorie kein Vertrauen in das Funktionieren einer demokratischen Opposition haben. Historisch gesehen sind Verschwörungstheorien immer dort aufgeblüht, wo es keine legitime Opposition gegen die Regierung gegeben hat. Jegliche Abweichung von der offiziellen Linie und dem behaupteten gesellschaftlichen Konsens musste sich dann konspirativ organisieren und wurde folglich als Verschwörung betrachtet und entsprechend verfolgt. In dem Maß, in dem Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung etc. sowohl einen legitimen Meinungspluralismus innerhalb der Bevölkerung erlauben als auch Kontrollmechanismen das Regierungshandeln begrenzen und Willkür eindämmen, nimmt die Bereitschaft zur Akzeptanz von Verschwörungstheorien in der Bevölkerung rapide ab.

Vor diesem Hintergrund ist das gegenwärtige Anwachsen verschwörungstheoretischen Denkens besonders unter Jugendlichen ein Alarmsignal, denn es bedeutet, dass diese Jugendlichen nicht von der Funktion der Demokratie überzeugt sind und deren Organe und Strukturen kein Vertrauen entgegenbringen.

Lügenpresse?

Ausgangspunkt aller Verschwörungstheorien ist die Kritik an der „offiziellen“ Darstellung. Nun ist es in einer Demokratie elementare Aufgabe der Medien, genau diese kritische Begleitfunktion auszuüben. Die Medienfreiheit ist daher für das Funktionieren einer Demokratie von grundlegender Bedeutung, weil gerade der investigative Journalismus Verschwörungen, Filz, Korruption und Vetternwirtschaft aufdecken kann und soll. Dazu gehört auch eine gewisse Vielfalt der Medienlandschaft, und es gibt in Deutschland Gesetze, die verbieten, dass zu viel Medienmacht in einer Hand konzentriert wird. Dass die „taz“ ein anderes Profil aufweist und andere Kommentare schreibt als die „Junge Freiheit“, gehört vor diesem Hintergrund zu der lebendigen Vielfalt unterschiedlicher, auch medial präsenter Sichtweisen, die eine demokratische Gesellschaft kennzeichnen.

Verschwörungstheorien unterstellen das kollektive Versagen aller Medien, sofern sie nicht die eigene Theorie teilen. Darin liegt eine Parallele zu den „Lügenpresse“-Rufen bei Pegida-Demonstrationen. Die Vielfalt journalistischer Medien wird durch internetbasierte Spartenkanäle mit verengter Weltsicht ersetzt, in denen sich Anhänger abseitiger Theoriebildungen gegenseitig bestärken und den Rest der Welt als Lüge und Manipulation abtun. Wer sich nur bei Politically Incorrect (pi-news.de) über den Islam informiert, glaubt irgendwann selbst das dort vermittelte Zerrbild.

Medienkompetenz

Angesichts der Tatsache, dass insbesondere junge Menschen immer mehr die für ihre Meinungsbildung bestimmenden Nachrichten selbständig aus Internetquellen zusammenstellen, kommt der Entwicklung der Medienkompetenz eine zentrale Aufgabe zu. Noch haben die Fernsehsender und Tageszeitungen einen gewissen Einfluss auf die Meinungsbildung einer Bevölkerungsmehrheit, und redaktionell verantwortlich gestaltete Sendungen können einen Bildungsauftrag erfüllen. Für die Generation der heute 20-Jährigen und alle Jüngeren gilt das aber nur noch sehr eingeschränkt. Wer sich dann vorwiegend oder sogar ausschließlich in dem wachsenden Bereich verschwörungstheoretischer Internetseiten bedient, kann einen Realitätsverlust erleiden, der auf lange Sicht gefährliche Folgen haben kann. Wie das ZEIT-Magazin berichtete,15 standen Verschwörungstheorien am Anfang des Radikalisierungsweges der beiden jungen Männer aus der Umgebung von Dippoldiswalde bei Dresden, die sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen hatten. Zweifel an der offiziellen Darstellung der Attentate vom 11. September führten zu einem grundsätzlichen Vertrauensverlust in die Medien und die Demokratie, von deren Trümmern dann die verklärte Vision einer besseren und gerechteren Gesellschaft im Zeichen des Islam aufscheinen konnte. Der Vertrauensverlust der Massenmedien ist so gesehen kritisch.

Fazit

Das Anwachsen von Verschwörungstheorien und die zunehmende Bereitschaft, ihnen Glauben zu schenken, ist nicht einfach eine harmlose Skurrilität innerhalb des modernen Meinungspluralismus. Diese Entwicklungen sind Indikatoren für gefährliche Verwerfungsprozesse innerhalb der Gesellschaft.

Anmerkungen

  1. www.bielefeldverschwoerung.de (die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden zuletzt abgerufen am 23.1.2016).
  2. Lutz Lemhöfer, Reiz und Risiko von Verschwörungstheorien, EZW-Texte 177, Berlin 2004, 29.
  3. Vgl. Robert Anton Wilson, Das Lexikon der Verschwörungstheorien, München 2004, 11.
  4. Vgl. dazu die ausführliche Zusammenstellung auf de.wikipedia.org/wiki/Verschwörungstheorien_zur_Mondlandung.
  5. In Deutschland ist zur Verbreitung dieser These die „Bürgerinitiative“ „ Sauberer Himmel“ aktiv (www.sauberer-himmel.de).
  6. Ausführlich dazu die Stellungnahme des Umweltbundesamtes: „Chemtrails – Gefährliche Experimente mit der Atmosphäre oder bloße Fiktion?“, www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/3574.pdf.
  7. Vgl. dazu die Ausführungen des Planungsamts der Bundeswehr (www.bit.ly/1ZEvd7P).
  8. www.anti-zensur.info.
  9. s-und-g.info.
  10. Mehr dazu: Harald Lamprecht, Der Aufklärungsprophet? Ivo Sasek als Gottesbote und Verschwörungstheoretiker, in: Verschwörungstheorien. Weltanschauungen – Texte zur religiösen Vielfalt Nr. 106, Wien 2015, 47-58.
  11. Zu Verschwörungstheorien im Milieu der Impfgegner vgl. Stefan Lorger-Rauwolf, Verschwörungstheorien im Alltag. Impfungen und Impfgegner, in: Verschwörungstheorien. Weltanschauungen – Texte zur religiösen Vielfalt Nr. 106, Wien 2015.
  12. Ein Beispiel dafür findet sich auf reichsamt.info/ablage/Ausweisbeschreibung.pdf.
  13. David Icke, The Biggest Secret. The Book That Will Change the World, Scottsdale, AZ, 1999; deutsch: Das größte Geheimnis. Dieses Buch verändert die Welt, Potsdam 2004.
  14. In dem sehenswerten Dokumentarfilm „Die Mondverschwörung“ (2011) werden zahlreiche Vertreter solcher Verschwörungstheorien interviewt (www.mondverschwoerung.de).
  15. www.zeit.de/zeit-magazin/2015/19/islamischer-staat-rueckkehrer-rekrutierung.