Tim Crane

Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten

Tim Crane: Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 188 Seiten, 22,00 Euro.

Der britische Philosoph Tim Crane unternimmt in dem vorliegenden Buch den Versuch, die Bedeutung von Religion zu erklären. Er richtet sich dabei insbesondere an Personen, die selbst keinen Bezug zu Religion haben, und erörtert „so offen wie möglich die Frage …, welche intellektuellen, ethischen und praktischen Einstellungen Atheisten gegenüber dem Phänomen der Religion sowie gegenüber religiösen Menschen einnehmen sollten“ (7). Dieser normative Anspruch von Cranes Ausführungen unterscheidet sein Buch vor allem vom „Neuen“ Atheismus, dessen Anhänger sich häufig darauf fokussieren, ihre eigeneWahrheit zu positionieren und gegen die vermeintlichen Irrtümer der Religionen abzugrenzen. Crane entwickelt stattdessen einen ethisch orientierten Ansatz, der auf das Verstehen von Religionen und die Verständigung zwischen den Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen ausgerichtet ist. Er bietet auf diese Weise einen alternativen Zugang, der sich jenseits antireligiöser Polemik bewegt und beansprucht, Gespräche zwischen atheistischen und religiösen Menschen zu fördern. Die Relevanz eines solchen an Verständigung und Gespräch orientierten Ansatzes leitet Crane aus der anhaltenden Bedeutung ab, welche Religion für mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung besitzt.1

Der Titel des Buches enthält deutliche Hinweise auf die dem Buch zugrunde gelegte Definition von Religion, die so eingängig ist, dass sie fast nicht auffällt: Nach Crane korrespondiert Religion mit Glauben. Für den Gläubigen bedeute zu glauben, etwas „für wahr zu halten“ (26). Crane interessiert sich für dieses „etwas“. Er möchte dem Inhalt des religiösen Glaubens nachspüren. Hierzu setzt er eine Bezugnahme zum Transzendenten, verstanden als etwas außerhalb unserer Erfahrungen Liegendes, bei Gläubigen voraus. Religion definiert er darauf aufbauend als „systematische[n] und praktische[n] Versuch, sich selbst mit dem Transzendenten in Verbindung zu bringen, und Gott (unter diversen Namen und in vielerlei Gestalt) ist sozusagen die bevorzugte Fassung, die dem Transzendenten gegeben wurde“ (21).

Crane beschreibt den komplexen Inhalt religiöser Überzeugungen als „religiösen Impuls“ (58). Er grenzt diesen zum einen von wissenschaftlichen Hypothesen ab, da der wichtigste Aspekt religiöser Behauptungen ihr „Anspruch auf Bedeutung“ (66), ihr „Bekenntnis zur Sinnhaftigkeit der Welt“ (76) sei. Während die Wissenschaft Ereignisse durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erklären versuche, beziehe sich die religiöse Erklärung auf die Bedeutungszuschreibung von Ereignissen. Die Denkstile von Religion und Wissenschaft sind nach Crane grundverschieden (69). Religion versteht er als Ringen damit, „das Explizierbare mit dem Nichtausdrückbaren zu vereinbaren“ (79). Um seinen Ansatz verständlich zu machen, bemüht er eine Religionsbestimmung von Alfred North Whitehead. Darin wird Religion beschrieben als

„die Vision von etwas, das jenseits, hinter und inmitten des vergänglichen Flusses unmittelbarer Dinge liegt; etwas, das real ist und doch auf Realisierung harrt; etwas, das eine entfernte Möglichkeit bildet und doch die bedeutendste der gegenwärtigen Tatsachen ist; etwas, dessen Besitz das höchste Gut ist und doch jenseits allen Zugriffs liegt; etwas, das zugleich höchstes Ideal und hoffnungslose Suche ist“ (79).

Dieser so verstandene religiöse Impuls zeigt sich nach Crane auch in der religiösen Praxis. Letztere werde von vielen Atheisten, angefangen bei Richard Dawkins bis hin zu Ronald Dworkin, jedoch vernachlässigt, weil diese Religion ausschließlich als „Kosmologie-plus-Moral-Bild“ (87) zeichnen. Die Missachtung dieses Aspekts von Religion offenbart für Crane jedoch ein großes Defizit, weil sich in der religiösen Praxis zwei essenzielle Elemente des religiösen Glaubens miteinander verbänden: der religiöse Impuls und die Identifikation (103). Diese Verbindung entstehe durch die Idee des Heiligen, wie es Durkheim bereits 1912 in „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ beschrieben hat. Wie Durkheim, so beobachtet auch Crane bei religiösen Phänomenen eine charakteristische Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem. Heilige Dinge weisen aufgrund der Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird, über ihre Materialität hinaus. Crane beobachtet, dass heilige Objekte für Gläubige sowohl eine innere als auch eine äußere Funktion besitzen. Sie sind essenziell für religiöse Riten (z. B. die Torarollen, das Kreuz) und werden zudem genutzt, um im restlichen Leben Kontakt mit dem Heiligen zu halten (107). Zusätzlich haben heilige Dinge aber auch die Funktion, Gläubige zu einer Gemeinschaft zu vereinigen (110). Damit sind sie ein wesentlicher Faktor für ihre Identität.

An diese Analyse von Religion schließt Crane eine kritische Auseinandersetzung mit einigen der prominentesten Kritikpunkte der „Neuen Atheisten“ an Religion an. So widerspricht er auf Grundlage seines an Transzendenz orientierten Religionsbegriffs etwa der Auffassung, dass Religion für die größten Menschheitsverbrechen hauptursächlich sei. Da dem Narzissmus keine Transzendenz innewohne, müsse dieser beispielsweise von Religion unterschieden werden. Crane widerspricht deshalb der Annahme, dass Religion für alle großen Verbrechen an der Menschlichkeit verantwortlich sei (120). Zusätzlich macht er deutlich, dass die Motivlage bei gewaltvollen Konflikten sehr komplex ist, weshalb selbst in primär religiös konnotierten Konflikten nicht nur die Religion verantwortlich gemacht werden könne (132).

Mit der Anwendung seiner Religionsbetrachtung auf atheistische Diskurse über Religion führt Crane den konkreten Mehrwert seiner Betrachtungen unmittelbar vor Augen. Sein Buch kann als Appell an das Verstehen betrachtet werden. Das Verstehen von Phänomenen und Überzeugungen, die der eigenen, im vorliegenden Fall der atheistischen Weltanschauung nicht entsprechen. Ein Appell für einen respektvollen Umgang zwischen religiösen und atheistischen Personen sowie eine Reflexion über das Gewähren und die Grenzen von Toleranz. Es bleibt zu hoffen, dass sein verdienstvolles Angebot in Zeiten wachsender religiöser und weltanschaulicher Pluralisierung eine große Leserschaft und zahlreiche Nachahmer findet.


Hanna Fülling, 11.11.2020
 

Anmerkungen

  1. Vgl. Pew Research: The Global Religious Landscape 2012, www.pewforum.org/2012/12/18/global-religious-landscape-exec (Abruf: 11.11.2020).