Oliver Koch / Johannes Lorenz

Der Attentäter von Hanau und seine Verschwörungstheorien

Am 30. März 2020 erschien unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel, in dem ein Bericht aus Ermittlerkreisen des BKA Zweifel an der These formuliert, dass der Anschlag in Hanau, bei dem Tobias R. am 19. Februar 2020 neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, rassistisch motiviert gewesen sei. Laut Bericht bestehen Zweifel an einer „rechtextremistischen Radikalisierung“ des Täters. Stattdessen gebe es Grund zu der Vermutung, dass ein verschwörungstheoretisches Motiv den Ausschlag für die Tat gegeben habe.

„Nach Auffassung der Ermittler sei Rassismus nicht der dominierende Aspekt in der Weltanschauung des Mörders gewesen, hieß es. Dieser habe sich vor allem in Verschwörungsmythen rund um Geheimdienste hineingesteigert und habe an Paranoia gelitten.“1

Kurz nach Erscheinen des Berichtes aus Ermittlungskreisen des BKA folgten das Dementi und die offizielle Klarstellung des BKA, man stufe die Tat weiterhin als rassistisch motiviert und eindeutig rechtsextremistisch ein. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer ordnete den Anschlag als „eindeutig rassistisch motivierten Terroranschlag“ ein.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Debattenlage fragen wir, wann Verschwörungstheorien gefährlich werden können, und versuchen, vor dem Hintergrund des vom Täter ins Netz gestellten Schreibens seine verschwörungstheoretischen Überzeugungen kurz zu analysieren. Damit erheben wir nicht den Anspruch, den Täter letztgültig einzuordnen oder eine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen genannten Position herbeiführen zu können. Dass verschwörungstheoretische Überzeugungen im Denken des Attentäters eine Rolle gespielt haben, steht aber sowohl für die eine als auch für die andere Position außer Frage.

Verschwörungstheorien und Gewalt

Michael Butter nennt drei Beispiele aus der jüngeren Geschichte, die ihm zufolge nahelegen, dass Verschwörungstheorien zu Gewalt führen können: 1995 verübte Timothy McVeigh einen Bombenanschlag auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City; der Anschlag kostete 168 Menschen das Leben. Er war beeinflusst von „The Turner Diaries“ (Die Turner-Tagebücher), einem rassistischen Roman, der von der „weißen Revolution“ gegen „das System“ handelt, das als jüdisch kontrolliert gilt. Anders Behring Breivik, der 2011 einen Massenmord verübte, war davon überzeugt, dass die EU durch radikale Islamisten infiltriert werde und dies mithilfe der europäischen Regierungen Unterstützung finde. 2016 erschoss der Reichsbürger Adrian Ursache, der die Bundesrepublik Deutschland für eine illegitime Organisation hält, in Georgensgmünd einen Polizisten.2

Laut Butter gibt es Hinweise aus Studien, die einen Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und Radikalisierung nahelegen. Er betont aber auch, dass sich eine einfache Kausalität zwischen verschwörungstheoretischer Überzeugung und Gewalt nicht herstellen lasse. Viele Anhänger von Verschwörungstheorien seien harmlos, obgleich die Folgen der Erosion von politischem Vertrauen für die Gesellschaft nicht minder schwere Folgen haben können.

„Es ist deshalb wichtig, nicht in Panik zu verfallen, wenn es um Verschwörungstheorien geht. Man muss sie ernst nehmen, da sie offensichtlich problematische Konsequenzen haben können, aber man muss auch differenzieren … Abgesehen davon, dass man spezifizieren muss, was man mit ‚gefährlich‘ meint, kommt es darauf an, um welche Verschwörungstheorien es geht, gegen wen sie sich richten, wer an sie glaubt und wer sie artikuliert, denn dabei handelt es sich … nicht unbedingt um dieselben Leute.“3

Vor diesem Hintergrund schätzt Butter besonders solche Verschwörungstheorien als gefährlich ein, die sich gegen Minderheiten und gesellschaftlich Schwächergestellte richten.

„Einwanderer oder Vertreter anderer Glaubensrichtungen werden dann nicht etwa abgelehnt oder bekämpft, weil sie anders, sondern weil sie Teil eines hinterhältigen Plans sind.“4

Gegen die „Geheimorganisation“, für eine „Grobsäuberung“

Weil sich die Tat von Hanau auch gegen Minderheiten richtete, könnte man vermuten, dass der verschwörungstheoretische Hintergrund auch eine Rolle für die Gewaltausübung gespielt haben könnte. Welche verschwörungstheoretischen Überzeugungen lassen sich finden?

Die beiden verwendeten Quellen des Attentäters sind sein schriftlich verfasstes „Pamphlet“, das keinen Titel trägt und als Datei „Skript_mit_Bilder_“ (sic) benannt ist, sowie ein kurzzeitig auf YouTube zu findendes Video von knapp zwei Minuten Länge; die Behörden haben es nach Erscheinen gelöscht.

Das 24-seitige „Skript“ beginnt mit den Worten: „Dies ist eine Botschaft an das gesamte deutsche Volk!“ Im Zentrum des Schreibens steht die Behauptung der Existenz eines Geheimdienstes. Dieser sei nicht wie „normale und bekannte“ Geheimdienste, sondern etwas Besonderes. Der Autor fühlt sich offensichtlich von diesem Geheimdienst visuell und akustisch in allen Lebensbereichen überwacht. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass sich Personen dieses Geheimdienstes per Fernsteuerung in die Gedanken anderer Menschen einklinken könnten, um diese dadurch fernzusteuern. Im Laufe seines Lebens habe er durch sie auch körperliche Verletzungen erlitten; außerdem schreibt er ihnen „satanische Züge“ zu. Als Beweis dienen ihm diverse Filme und Serien („The Cell“, „Kuck mal, wer da spricht!“, „Starship Troopers“), die dies schon gezeigt hätten. Er ist sich sicher, dass es aufgrund dessen eine „sogenannte Schattenregierung“ gebe, die eine „nicht vorstellbare Größenordnung und Intensität“ haben müsse.

Das verschwörungsideologische Element des Geheimdienstes zieht sich als Hauptmotiv durch das Pamphlet des Täters und dient immer wieder dazu, Begründungszusammenhänge zu liefern, die dann psychopathologische, wahnhafte und rassistische Elemente beinhalten: Als eindeutig rassistisch gilt seine Auffassung, das eigene Volk sei „das Beste und Schönste“; zusammen mit seiner damit verbundenen Aufforderung, dass ausgewählte andere Volksgruppen (vor allem aus dem asiatischen, afrikanischen und indischen Kontinent) durch eine „Grob-Säuberung“ komplett vernichtet werden müssten, deutet sein Rassismus auf eine hohe Gewaltaffinität hin. Dass er sich selbst als Ideengeber für eine Reihe von Hollywoodproduktionen sah, deutet auf eine wahnhafte Persönlichkeit hin. Der Geheimdienst habe aus seinen Gedanken die Grundlagen und Ideen u. a. für die Serien „Prison Break“ oder „Vikings“ entwickelt – seiner Auffassung nach arbeite dieser eng mit einer sogenannten „Hollywood-Connection“ zusammen. Sich selbst bezeichnet der Autor als „Genie“. Durch das gesamte Pamphlet ziehen sich zudem Ideen und Inhalte, die jeden logischen Zusammenhang entbehren, was auf psychopathologische Züge von Tobias R. hindeutet. Die Beschreibung und Wahrnehmung seiner Kindheit scheinen gestört gewesen zu sein, genauso wie sein Verhältnis zu Frauen (nach Selbstauskunft hat er nie eine Beziehung geführt). Das Pamphlet endet mit den Worten:

„Dieser Krieg [gemeint ist wohl sein späteres Attentat; O. K., J. L.] ist als Doppelschlag zu verstehen, gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes!“

An mehreren Stellen erwähnt das Schreiben die Rolle der USA: Anscheinend hegte Tobias R. große Sympathie für Trump, dem er zutraue, das „Ruder zu übernehmen“. Dieser Punkt führt zur zweiten Quelle, dem YouTube-Video, das der spätere Attentäter mit den Worten beginnt: „This is my personal message to all Americans.“ Auf Englisch erklärt er, das Land stehe unter Kontrolle einer unsichtbaren Geheimgesellschaft, die teuflische Methoden wie Mind Control und eine moderne Form der Sklaverei praktiziere. Er bezieht sich explizit auf die Verschwörungstheorie „D.U.M.B“ („Deep Underground Military Base“) und beschreibt, dass an geheimen unterirdischen Orten der Teufel angebetet und kleine Kinder gefoltert und ermordet würden. Diese Aussagen erinnern mit ihrem Bezug zur Misshandlung von Kindern darüber hinaus an die „Pizzagate“-Verschwörungstheorie aus dem Jahr 2016, wo im Zusammenhang des Präsidentenwahlkampfes die Fake News gestreut wurde, in einem Hinterzimmer einer Pizzeria in Washington agiere ein Kinderpornoring. Diese Fake News führte damals zu einem bewaffneten Überfall eines Mannes auf die Pizzeria, der das Ziel verfolgte, die Kinder zu befreien. Der Fall endete allerdings glimpflich. Als er nichts fand, gab er widerstandslos auf.

Außerdem finden sich Anklänge an die Verschwörungstheorie „QAnon“. Diese besagt, dass Donald Trump gegen einen „mächtigen tiefen Staat“ kämpfe, der schreckliche Verbrechen verübe. Auf Wahlkampfveranstaltungen kann man immer wieder Anhänger dieser Ideologie sehen, die ein Schild mit einem großen „Q“ in die Höhe halten. Aktuell ist die krude Theorie wieder in den Schlagzeilen, weil der wegen Rassismus und Verschwörungsglauben schwer in der Kritik stehende Sänger Xavier Naidoo sie in mehreren Videos verbreitet. Dabei spricht er auch von der sogenannten „Adrenochrom“-Hypothese, die besagt, es gebe eine Sekte, die Kinder entführe, sie missbrauche und ihr Blut als Droge und Anti-Aging-Produkt nutze.

Ganz im Sinne von Verschwörungstheoretikern fordert Tobias R. in seinem Video dazu auf, den „Mainstream-Medien“ keinen Glauben zu schenken; er beendet das Video mit einem zweistufigen Appell: Zunächst solle man sich in „alternativen Medien“ informieren und schließlich „handeln“. Man müsse die geheimen Orte herausfinden, Amerikaner sollten sich sammeln und die Machenschaften der Geheimorganisation stoppen. Das Video endet mit den Worten „Fight now!“

Fazit

Zusammen betrachtet vermitteln die beiden Quellen ein wirres Konglomerat aus Verfolgungswahn, Geltungssucht, Anerkennungsbedürfnis, gewaltbereitem Rassismus und Anklängen an diverse Verschwörungsideologien, eingerahmt durch die Großverschwörung des „geheimen Geheimdienstes“, der im Hintergrund alle Fäden in der Hand zu halten scheint.

Es bleibt schwierig, das Ganze zu systematisieren. Das Video erfährt jedoch eine verschwörungsideologische Zuspitzung. Der Attentäter von Hanau war offensichtlich über lange Zeit in verschwörungsideologischen Parallelwelten von Fake News und „alternativen Wahrheiten“ unterwegs, die genau das beinhaltet haben, wovor weltanschauliche Kenner der Szene schon lange warnen. Damit soll weder gesagt sein, dass seine verschwörungsideologische Einstellung monokausal zum Attentat führte, noch dass Verschwörungsideologien im Allgemeinen gewaltbereit machen (s. o. Michael Butter). Dennoch sollte uns das schreckliche Attentat von Hanau einmal mehr aufzeigen, dass Verschwörungstheorien eine Gefahr für Demokratie und Gesellschaft sind, zumal dann, wenn sie durch rassistische Überzeugungen und krankhafte Wahnvorstellungen zusätzlich ideologisiert werden.

Das Attentat in Hanau fordert Empathie und Solidarität mit den Opfern und deren Familien und Freunden. Die Lektüre des Pamphlets und die Analyse des Videos von Tobias R. haben uns fassungslos und betroffen gemacht.


Oliver Koch und Johannes Lorenz, Frankfurt a. M., 01.07.2020


Anmerkungen

  1. www.faz.net/aktuell/rhein-main/terror-in-hanau-rassismus-doch-nicht-als-hauptmotiv-16703724.html  (Abruf: 7.4.2020).
  2. Vgl. Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint.“ Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018, 219ff.
  3. Ebd., 223.
  4. Ebd., 224.