Sarah Pohl

Spiritueller Schiffbruch? Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen

Sarah Pohl: Spiritueller Schiffbruch? Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022, 148 Seiten, 20,00 Euro.

Mit diesem Buch ist in kürzester Zeit – nach „Alles Spinner oder was?“ (2021, verfasst mit Isabella Dichtel) – ein zweiter Ratgeber von Sarah Pohl erschienen. Es geht um den Umgang mit spirituellen Krisen, in denen Menschen, seien sie selbst betroffen oder im persönlichen Umfeld, ihren „Kompass“ verlieren und „Schiffbruch“ erleiden können. Das Buch ist, ganz im Sinne der Ratgeberliteratur, primär nicht an Fachleuchte adressiert, sondern an ein breites, nicht weltanschaulich kundiges Publikum und im Speziellen an „Konsumentinnen und Konsumenten des religiösen bzw. weltanschaulichen Marktes“. Durch das Buch sollen sie gestärkt werden, um mit einer kritischen Haltung von ihrem Recht auf selbstbestimmtes Handeln und Wirken Gebrauch zu machen (146).

Durch eine Schiffsmetaphorik wird der Ratgeber anschaulich strukturiert: Im Abschnitt „Seemannsdeutsch“ werden verschiedene Begrifflichkeiten eingeführt und differenziert. Spiritualität z. B. werde oft weiter verstanden als Religion und habe mehr den Fokus auf Individualisierung: „Jeder kann seine eigene Spiritualität haben, Religionen jedoch sind etwas Übergreifendes“ (16). Gegenüber Esoterik werde eine Abgrenzung allerdings schon schwieriger, insofern dort „häufig auf bestimmte Handlungen und Aktivitäten [Bezug genommen wird], die durchaus spirituell oder religiös geprägt sein können“ (17). Der Begriff Esoterik werde allerdings mehr als Kampfbegriff gebraucht. Eindeutig hingegen ist der Rat für den Gebrauch des Begriffs Aberglaube: Am besten sei es, diesen zu vermeiden, denn wenn wir den Glauben eines anderen als Aberglauben bezeichnen, begegnen wir ihm nicht mehr auf Augenhöhe. Einen ähnlichen Ton schlägt Pohl an, wenn sie abschließend über Religionsfreiheit spricht, die uns „zu einer nicht verurteilenden Haltung gegenüber Angeboten [auffordert], die uns fremd sind, bizarr erscheinen oder die wir schlichtweg lächerlich finden“.

Der Abschnitt „Seekarte“ soll Orientierung geben über die aktuelle Landschaft spiritueller Angebote und Entwicklungen. Die Autorin nimmt dazu eine soziologische Perspektive ein, um Zahlen und Fakten, aber auch Veränderungsprozesse und diverse Aspekte spiritueller Vielfalt zu beschreiben. In der Vielfalt zeigen sich unterschiedliche spannungsreiche Verhältnisse: zwischen Pluralisierung und Politisierung, zwischen Verbindlichkeit und Unbekümmertheit, zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung, zwischen teuren Angeboten und Taschengeldbudget, zwischen Personenkult und Selbstüberhöhung u.v.a.m. Durch diverse Fallbeschreibungen werden die Spannungen anschaulich und nachvollziehbar. Dennoch sollen diese „Widersprüchlichkeiten“ keinesfalls von einer Seefahrt abhalten, es gehe vielmehr darum, „mündige und vorausschauende Entscheidungen in Bezug auf die spirituellen Angebote zu treffen“ (52). Zur besseren Navigation gibt es zum Abschluss des Abschnitts eine Checkliste, anhand derer unseriöse Äußerungen von Anbietern überprüft werden können.

Dennoch könne es jederzeit auch „stürmische Zeiten“ auf der Reise geben. Wenn z. B. Sinnkrisen aufgrund eines Ausstiegs aus einer Gemeinschaft entstehen oder wenn in Gruppen bzw. durch das spirituelle Angebot Werte infrage gestellt werden. Hilfreich sei es zwar, die eigenen Überzeugungen und Werte zu klären, aber gerade in spirituellen Kontexten spiele auch oft die „Crew“, die Gruppe, eine große Rolle, indem sie diese Aspekte beeinflusst, z. B. durch Gruppendruck oder durch ein passendes Angebot für Sinn- und Wertefragen.

Auf der Reise sei man manchmal auf dem „falschen Dampfer“ unterwegs. Pohl lässt hier zahlreiche Menschen zu Wort kommen, die genau das erlebt haben. An den Ausschnitten aus ihren Geschichten lassen sich verschiedene Strategien und Dynamiken verdeutlichen, wie diese auf den „Dampfer“ gelockt wurden: von Angsterzeugung bis hin zu Taktieren mit Schuldgefühlen. Diese Strategien seien aber keine „Gehirnwäsche“, auch sei der Anbieter nicht allein für alles verantwortlich, sondern sie gehören als ein Teil des Ganzen zu einer komplizierten Situation, in der auch der Reisende mit seinen Bedürfnissen zu berücksichtigen ist. Der Ratgeber schließt mit vier ausführlicheren Geschichten von „Schiffbrüchigen“ und einigen Empfehlungen zum Umgang damit.

Sarah Pohl hat mit „Spiritueller Schiffbruch?“ einen leicht zu lesenden Ratgeber veröffentlicht, der die (Vor-)Kenntnisse des Zielpublikums gut reflektiert und der praktisch hilft, seinen Kompass auszurichten. Besonders die vielen „Do-it-yourselfs“ (systemisch orientierte Methoden), die zur Selbst- und Situationsreflexion auffordern, sind hierfür sehr dienlich. Die Fallbeschreibungen belegen, wie situationsspezifisch Erfahrungen spiritueller Krisen sind und dass es deswegen keine prinzipielle Art und Weise weltanschaulicher Beratung geben kann.

Die Autorin deutet an, dass Beratungs- und Weltanschauungsarbeit nicht substantialistisch, sondern relational zu verstehen sei: In der Beziehung von Anbieter und Konsument geschehen spirituelle Krisen. Diese werden nicht einseitig hervorgerufen – und deswegen können sie auch nicht einseitig bearbeitet werden –, sondern sie entstehen, weil diese Beziehung in eine Schieflage gerät. Während auf der Seite des Anbieters z. B. Entscheidungsfreiheiten durch verabsolutierende Weltdeutungen eingeschränkt werden, wird auf der Seite des Konsumenten dieser Anspruch anerkannt. Pohl betont daher zu Recht, dass auf Konsumentenseite kritisches Denken, Reflexion der eigenen Überzeugungen und Werte u.v.a.m. wichtig seien, eben weil spirituelle Krisen immer auch schon etwas mit einem selbst zu tun haben. Zugleich liege es aber nicht nur an einem selbst, sondern immer auch an der Art und Weise, wie Angebote präsentiert werden. Deswegen zeigt der Ratgeber nicht nur auf, wie Anbieter Abhängigkeiten erzeugen, sondern gibt auch „die Möglichkeit für den Betroffenen, sich selbst, seine Motivationen, Bedürfnisse und Beweggründe, sich einem solchen Anbieter anzuschließen, besser kennenzulernen“ (122).

Gerade bei Betroffenen kann eine solche Sicht jedoch Widerstand auslösen, insofern hier eine „Entschuldigung“ des Anbieters oder ein „victim blaming“ assoziiert wird. Dieser Einwand geht jedoch fundamental an dem vorbei, was der Ratgeber als Ziel ausgibt, nämlich eine Stärkung der eigenen Navigationsfähigkeiten innerhalb von stürmischen Zeiten oder dann, wenn es sogar schon zum Schiffbruch gekommen ist.

Es fällt auf, dass spirituelle Krisen aufgrund religiösen Schiffbruchs, was bis zu geistlichem bzw. spirituellem Missbrauch gehen kann, kaum thematisiert werden. Zwar kann der Leser für den Umgang mit diesen aufgrund struktureller Affinität Analogien ziehen, aber letztlich geht es hauptsächlich um den Umgang mit spirituellen Krisen, die durch Esoterik- und Lebenshilfeangebote hervorgerufen wurden. Möglicherweise könnte diese Lücke durch kirchliche Weltanschauungsarbeit gefüllt werden.

Philipp Kohler, Stuttgart, 13.07.2022