Das Erdbeben in Haiti und die Esoterik-Szene

Das Erdbeben in Haiti und die Esoterik-Szene. Die Erdbebenkatastrophe in Haiti hat in der Esoterik-Szene unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Neben Bestürzung und Trauer über das ungezählte Leid wird zu materieller Hilfe und zu Lichtmeditationen aufgerufen. Vereinzelt finden sich höchst zynische Deutungsversuche für das Erdbeben, bei dem vermutlich 200 000 Menschen ums Leben kamen.

Im Internetforum der Kryonschule, einer in Rosenheim ansässigen Esoterik-Gruppe um das Medium Sabine Sangitar, das mit der Wesenheit Kryon in Kontakt stehen soll, wird empfohlen, auf meditativem Wege „eine Lichtsäule für die Seelen, die ihren Körper verlassen haben“, zu errichten (www.portal.kryonschule.de). Wie eine Anhängerin in einem Beitrag berichtet, habe sie dabei eine tröstliche Erfahrung gemacht: „Ich habe eine riesige Pyramide über Haiti gesehen. Mutter Maria, Jesus Christus und die Heilungsengel waren über dieser Pyramide und haben ihre heilenden Strahlen gesandt.“ Andere wiederum spekulieren über die esoterischen Hintergründe der Katastrophe. So heißt es in der Botschaft einer Wesenheit Kuthumi, die einem US-amerikanischen Medium übermittelt habe: „Jeder hat einen Platz im Herzen des Schöpfers. Jene, die wählten, ihre physische Form durch dieses Erdbeben zu verlassen, wissen, dass sie durch ihre Teilnahme ihren Abdruck, eine Mitteilung von Bedeutung über den Wert des Lebens, hinterlassen haben.“ Eine „Lichtarbeiterin“ der Kryonschule schreibt zu den Ereignissen: „In diesen Regionen gab es schon immer Erschütterungen durch Erdgewalten. Es hat mit der Verschiebung der Erdplatten zu tun. Aber das wißt ihr ja. Die Seele sucht sich aus, in welchem Land sie inkarniert. Wo wir leben – ist in perfekter Abstimmung mit unserem Seelen-Plan abgestimmt.“

Auch im Internetforum www.esoterium.de wird nach „tieferen spirituellen Ursachen“ gesucht. Zitiert wird dort in deutscher Übersetzung „eine planetarische Botschaft der Hathoren durch Tom Kenyon“. Der Amerikaner Kenyon ist seines Zeichens „Klangheiler“ und seit den 1980er Jahren ein „Kanal“ (Channel) für die Botschaften der intergalaktischen Föderation der Hathoren, die im alten Ägypten mit der weiblichen Gottheit Hathor verbunden waren: „Es kann sein, dass eine größere Anzahl von Personen wählt, die Erdenebene zu verlassen. Dieses Verlassen kann durch unerwartete Unfälle, unvorhergesehene Krankheiten und natürlich Erd-Veränderungen und Wetter-Anomalien auftreten.“

Die kleine Auswahl aktueller Reaktionen in der Esoterik-Szene verdeutlicht zweierlei: Zum einen rufen die medialen Kundgaben zu erhöhter spiritueller Aktivität angesichts des für 2012 erwarteten Transformationsprozesses der Erde und der damit verbundenen „Umwälzungsprozesse“ auf. Zum anderen werden die schockierenden Ereignisse und das vielfache menschliche Leid in Haiti durch selbstgestrickte esoterische Karmavorstellungen und Aussagen wie „Der Mensch erschafft sich seine Realität“ bagatellisiert, ignoriert und letztlich für sinnvoll erachtet. Das tiefere Problem solcher zynischen Deutungen liegt in einem auf übersinnlichem Wege vermittelten „Überwissen“. Es vermutet hinter jedem persönlichen Leid jeweils selbstverschuldete Ursachen oder von den Betroffenen frei gewählte Szenarien. Dieses „höhere“ Denken, das aus Opfern Täter werden lässt, ist in der Esoterik-Szene leider kein Einzelfall.


Matthias Pöhlmann