Islam

Chef der Islamischen Weltliga in Auschwitz

Der Generalsekretär der Islamischen Weltliga (Muslim World League, daher „Muslimische Weltliga“, auch: World Muslim League), Scheich Muhammad bin Abdul Karim al-Issa, hat im Januar 2020 die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht. Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers betrat die bislang hochrangigste islamische Delegation und zum ersten Mal ein Vertreter der „Rabita“ (Liga) diesen „zentralen Fixpunkt auf der moralischen Landkarte des Westens“ (Tagespost). Der saudische Gelehrte und Politiker betonte die Solidarität mit Juden angesichts von Holocaust und Antisemitismus. Die große internationale islamische Delegation, darunter auch deutsche Vertreter, setzte das Zeichen gemeinsam mit Repräsentanten des American Jewish Committee (AJC) und dessen Direktor David Harris sowie Angehörigen von Holocaust-Überlebenden. Es gab Umarmungen und Gesten der Versöhnung.

Es ist nicht übertrieben, von einer Sensation zu sprechen – die ihre Vorgeschichte und ihren Kontext hat. Zur Vorgeschichte gehört, dass al-Issa in der Vergangenheit jeder Form von Holocaustleugnung – in der arabischen Welt an der Tagesordnung – entgegengetreten ist und schon 2018 dazu aufrief, eine von jeglichen politischen Interessen unabhängige Friedensmission aller drei abrahamischen Religionen auf den Weg zu bringen, die „alle heiligen Stätten“ aufsuchen und einen gemeinsamen fruchtbaren Boden für Friedenslösungen bereiten sollte. Ebenfalls 2018 drückte der frühere saudische Justizminister in einem Schreiben an die Direktorin des US-Holocaust-Gedenkmuseums in Washington sein „großes Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust“ aus, der „die Menschheit bis ins Mark erschüttert“ habe. Im April 2019 besuchte al-Issa eine Synagoge in New York. Kurz darauf kündigte er zusammen mit AJC-Direktor Harris den Besuch in Auschwitz an.1

Wie kommt es zu dieser bemerkenswerten Entwicklung? Saudi-Arabien unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Israel, große Teile der arabischen Welt lehnen eine Anerkennung des Staates Israel ab. Hitlers „Mein Kampf“ ist in Buchhandlungen zu haben, Antisemitismus und Judenhass weit verbreitet; in den Lehrplänen vieler arabischer Länder kommt der Holocaust nicht vor. Zum Kontext gehört jedoch die Annäherung von Juden und Arabern, die hinter den Kulissen schon eine Zeitlang andauert. Israels Beziehungen vor allem zu den Golfstaaten, aber auch zum Irak, zu islamischen Ländern Afrikas, selbst zum Emirat Qatar wurden kontinuierlich verbessert. Katalysator ist der Iran, dessen Bedrohung der Region größer geworden ist. Unter Muhammad bin Salman geht Saudi-Arabien auf den Westen zu. Der Kronprinz hat Reformen in dem Land vorangebracht, al-Issa und mit ihm die „Rabita“ nehmen in der politischen Aufstellung ihren Platz ein.

Die Islamische Weltliga ist offiziell eine NGO sunnitischer Religionsgelehrter und Experten mit Sitz in Mekka, die sich als kulturelle und religiöse Vertretung der (aller!) islamischen Völker versteht, wird allerdings auch als „regierungsgesteuerte Nichtregierungsorganisation“ (GONGO) bezeichnet, da sie von Saudi-Arabien finanziert und gesteuert wird. 1962 gegründet in Mekka, unterhält sie nach eigenen Angaben 18 Kulturzentren und 27 Büros weltweit. Seit 2012 sitzt der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Muslime (ZMD), Ayyub Axel Köhler, für Deutschland im 60-köpfigen höchsten Gremium (Supreme Council) der Weltliga.

Die „Rabita“ soll Verbindungen zu islamistischen und auch terroristischen Organisationen haben. Sie ist bisher vor allem für die saudisch-wahhabitische „Mission“ in aller Welt bekannt.2 Sie will den Islam in saudischer Lesart verbreiten und hat dies auch über Jahrzehnte sehr effektiv getan, immer wieder pragmatisch vereint mit der Muslimbruderschaft, wo es sinnvoll erschien. Das umfangreiche Publikationsmaterial aus diesem Umfeld, das in unseren Moscheen aufliegt, hat viele Gemeinden hierzulande nachhaltig geprägt. Die Weltliga war auch hauptverantwortlich für die „Exkommunikation“ der Ahmadiyya im Jahr 1974. Die personellen Verflechtungen mit muslimbruderschaftsnahen Netzwerken sind immer wieder eng. Prominent tritt in dieser Hinsicht wiederholt der saudisch-mauretanische Gelehrte Abdallah bin Bayyah auf, der auch beim Zentralrat der Muslime in Deutschland gern gesehener Gast war. Der Präsident des „Forum for Promoting Peace in Muslim Societies“ der Vereinigten Arabischen Emirate und Ko-Moderator von Religions for Peace (Jg. 1935) ist eine Schlüsselfigur sowohl bei der Entstehung der Erklärung von Marrakesch (Marrakesh Declaration, vgl. MdEZW 3/2016, 103-106) vom Januar 2016 als auch bei der Entstehung der Azhar-Erklärung (Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence, vgl. MdEZW 5/2017, 187-189) von 2017, die jeweils für ein friedliches Zusammenleben eintreten, im Kern allerdings die Charta von Medina aus der Frühzeit des Islam bekräftigen. Eine weitere offizielle Erklärung, die im Mai 2019 von der Islamischen Weltliga verabschiedete „Charta von Mekka“, reiht sich nahtlos in diesen Kontext ein. Extremismus und Terrorismus wird eine entschiedene Absage erteilt, doch der Schariavorbehalt für Politik und Gesellschaft nicht infrage gestellt, sondern als Voraussetzung für das „harmonische Zusammenleben“ konstatiert. Wie sich diese Gestalt eines „legalistischen Islamismus“ in Deutschland unterstützt von einer breiten muslimischen Allianz Ausdruck verschafft, illustriert die Kölner Erklärung europäischer Muslime vom Januar 2019 (vgl. MdEZW 2/2019, 65f).

Muhammad al-Issas Reise hatte weitere wichtige Höhepunkte, etwa in Warschau und in Berlin, wo eine Dialogveranstaltung mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER), dem Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, stattfand. Es sind bedeutende Zeichen von großem Gewicht, die hier gesetzt wurden. Sicher ist es auch Symbolpolitik. Doch der französische Politologe Gilles Kepel etwa gibt zu bedenken: „Mohammed Al-Issa ist mehrfach durch Europa gereist und hat beispielsweise erklärt, die französischen Muslime sollten die Gesetze der französischen Republik respektieren und die Scharia nicht implementieren – das hatte man noch nie von seinen Vorgängern und auch nicht von den Muslimbrüdern gehört. Ich glaube, es handelt sich dabei nicht nur um Kosmetik, um den Europäern zu gefallen. Sondern es ist eine Strategie, die davon ausgeht: Wenn man zulässt, dass sich der Wahhabismus weiter ausbreitet, könnte Saudi-Arabien das erste Opfer sein.“3

Es ist damit zu rechnen, dass nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie interreligiöse Verständigung und Versöhnung im Vordergrund des Kalküls stehen. Die Koordinaten der Geopolitik verschieben sich nachhaltig. Eine wie auch immer geartete Annäherung an Israel kann nur mit Bedacht und auf verschiedenen Flanken und Ebenen angesteuert werden. Ein Element auf dem Weg könnten solche Schritte sein, wie wir sie hier sehen. Um angesichts der langjährigen Praxis der „Rabita“ nachhaltig glaubwürdig zu sein, müssten freilich weitere Schritte folgen, vor allem Konsequenzen in Sachen Propaganda eines antiwestlichen, schariaorientierten Islam.


Friedmann Eißler
 

Anmerkungen

  1. Vgl. auch www.memri.org/reports/social-media-criticism-muslim-world-league-secretary-generals-condemnation-holocaust-%E2%80%93-saudi .
  2. „Die ‚Islamische Weltliga‘ ist der wahhabitischen Interpretation des Islam verpflichtet. Die weltweite Verbreitung dieser Islaminterpretation gehört zum Selbstverständnis der Organisation“ (Auskunft der Bundesregierung vom 3.2.2016).
  3. www.deutschlandfunk.de/religion-und-reformen-in-saudi-arabien-zaghafte-zweifel-am.886.de.html?dram:article_id=465494 .