Jakob Egeris Thorsen

Charismatic Practice and Catholic Parish Life. The Incipient Pentecostalization of the Church in Guatemala and Latin America

Jakob Egeris Thorsen, Charismatic Practice and Catholic Parish Life. The Incipient Pentecostalization of the Church in Guatemala and Latin America, Brill, Leiden 2015, 242 Seiten, 55,00 Euro.

Der dänische katholische Theologe Jakob Egeris Thorsen befasst sich in der vorliegenden Dissertation mit einem Thema, das in der ethnologischen und theologischen Forschung und in der Wahrnehmung kirchlicher Medien in Deutschland bisher nur wenig Beachtung fand. Seine innerhalb der Reihe „Global Charismatic and Pentecostal Studies“ veröffentlichte Studie untersucht die Rezeption pfingstlich-charismatischer Frömmigkeitspraxis und die charismatische Gemeindeerneuerung innerhalb der katholischen Kirche Lateinamerikas. Dieses Thema wurde, falls es denn Beachtung fand, bisher überwiegend im Blick auf die Situation in Brasilien dargestellt. Thorsens Forschung rückt dagegen die Situation in Guatemala in den Mittelpunkt und weitet von dort ausgehend den Blick auf Lateinamerika. Dabei ist zu beachten, dass in Guatemala gegenwärtig die Probleme, die mit diesem Kulturraum verbunden werden, etwa unbewältigte Folgen von Bürgerkriegen, Korruption, extrem ungleiche Besitzverhältnisse, Konflikte zwischen Indigenen und Mestizen und Drogenhandel einhergehend mit extremer Gewalt, wie in einem Brennglas gebündelt erscheinen. Dieser Umstand macht das Land zu einem der unsichersten Staaten der Welt.

Der Autor verknüpft ethnologische und theologische Zugänge und verortet sie selbst methodisch in der fachlichen Tradition der deutschen Missionswissenschaft (4). Ausgangspunkte bilden seine Masterarbeit, die auf Feldforschungen im Jahr 2005 basiert, und weiterführende Feldforschungen, die er zwischen 2009 und 2012 in einer katholischen Pfarrei in den Außenbezirken von Guatemala-Stadt durchgeführt hat (IX, 7). Er untersuchte das Gemeindeleben und besuchte u. a. unterschiedliche Gebetskreise. Ihm kam bei seinen Forschungen zugute, dass er das Land seit seinem 16. Lebensjahr kennt und mit einer Guatemaltekin verheiratet ist. Seine Begegnungen mit dem Land und der kirchlichen Situation lassen sich somit nicht auf die Zeit seiner Forschungsaufenthalte reduzieren, sondern gehen weit darüber hinaus, was sich in kenntnisreichen Darstellungen widerspiegelt.

Thorsen vertritt in seiner Arbeit zwei Thesen. Die erste besteht darin, dass die katholische Kirche in Guatemala einen rasch fortschreitenden Prozess der Pentekostalisierung durchläuft, wie dieser auch in anderen Ländern Lateinamerikas auszumachen ist. Dieser besteht darin, dass pfingstlich-charismatische Frömmigkeitsformen wie Gebetspraktiken, Predigtstil und Liedgut übernommen werden, die katholische Identität und die Rückbindung an die katholische Kirche und ihre Organisationsform jedoch nicht infrage gestellt werden. Die zweite These ist, dass sich diese Pentekostalisierung des lateinamerikanischen Katholizismus mittlerweile direkt auf die Produktion lehramtlicher Texte auswirkt, wobei dies auch diejenigen des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) betrifft, so etwa das Abschlussdokument von Aparecida. Diese Auswirkungen zeigen sich nicht nur hinsichtlich der Zurückdrängung bestimmter befreiungstheologischer Positionen, sondern auch hinsichtlich einer skeptischen Haltung gegenüber dem traditionellen Volkskatholizismus (2f). Der Prozess der Pentekostalisierung geht nach Thorsen, was zunächst verwunderlich erscheinen mag, mit einer auf Abgrenzung bedachten Konfessionalisierung katholischer Gemeindepraxis einher. Der Autor zeigt auf, wie ursprüngliche institutionskritische theologische Positionen und religiöse Praktiken aus einem freikirchlich-gemeindeorientierten Kontext innerhalb der charismatischen Gemeindeerneuerung auf eine Weise rezipiert werden, die die konservative und kirchliche Hierarchieebenen stabilisierende Lesart der katholischen Communio-Ekklesiologie im Sinne Joseph Ratzingers und anderer konservativer katholischer Theologen stützen. Diese Beobachtung und Interpretation Thorsens scheint letztlich im internationalen Vergleich nicht nur auf die Situation in Guatemala oder Lateinamerika zuzutreffen, sondern in ähnlicher Weise auch auf die Situation in katholischen charismatischen Bewegungen in anderen Weltregionen, etwa in Frankreich. Der Autor weist auch auf Probleme hin, die sich ergeben, wenn bestimmte Konzepte aus dem neopentekostalen Kontext, etwa das Konzept der „geistlichen Kriegsführung“ (spiritual warfare), das auf einer extrem dualistischen und mythisch geprägten Theologie basiert, in den Kontext katholischer Gemeindepraxis und Theologie überführt werden.

Thorsen hat ein sehr klar aufgebautes und präzises Buch verfasst, das sich nicht in unnötigen Exkursen verliert, die Komplexität des Themas jedoch basierend auf intensiven Feldforschungen sehr genau herausarbeitet. So zeigt er auf, dass die katholische charismatische Bewegung auch in Guatemala nicht als einheitlicher Block verstanden werden sollte und das Verhältnis zwischen befreiungstheologischen Positionen und denjenigen aus dem Feld charismatischer Bewegungen in heutiger Zeit letztlich nicht mehr nach dem Muster einer einfachen Opposition gedeutet werden können. Auch profitiert die Darstellung davon, dass der Autor Literatur aus allen für das Thema relevanten Sprachen rezipieren konnte.

Das Buch ist jedem zur Lektüre zu empfehlen, der sich mit der Situation der katholischen Kirche in Guatemala oder in Lateinamerika befasst, um einen Zugang zu einem Feld innerhalb der katholischen Kirche Lateinamerikas zu gewinnen, dem in Deutschland bisher wenig Beachtung zuteilwurde, das aber mittlerweile in den Ländern Süd- und Mittelamerikas gesellschaftlich breit verankert ist. Wer etwa im Rahmen eines Austauschprojektes nach Guatemala reist, sollte einen Blick in das Buch werfen, um bei seiner Ankunft nicht verwundert zu sein, wenn er im katholischen Kontext weder auf eine Basisgemeinde befreiungstheologischer Prägung noch auf eine traditionelle Maya-Gemeinde mit Ämtersystem trifft, sondern auf ein Drittes: Vertreterinnen und Vertreter einer katholischen Bewegung oder Gemeinde charismatischer Prägung, die man vielleicht zunächst für Mitglieder einer Pfingstkirche hält. Das Buch wurde merklich während des Pontifikats Joseph Ratzingers verfasst. Der Autor ergänzte es jedoch um ein Kapitel „A Pope Francis Perspective“ (216-221). Dieser Anhang mag dazu beitragen, einen anderen Blick auf vielleicht irritierende und widersprüchlich erscheinende Aussagen und Handlungsweisen des gegenwärtigen Papstes zu gewinnen, die vor dem Hintergrund der in diesem Buch dargelegten Pentekostalisierungsprozesse in einen neuen Handlungsrahmen eingeordnet werden können und dadurch in einem neuen Licht erscheinen.


Harald Grauer, Sankt Augustin