Julia Bernstein

Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde - Analysen - Handlungsoptionen

Beltz Juventa, Weinheim / Basel 2020, 616 Seiten, 49,95 Euro.

Antisemitismus und Judenfeindschaft bewegen sich in Deutschland über die Jahre bedauerlicherweise auf einem relativ konstanten Niveau, wobei – zieht man die Polizeiliche Kriminalstatistik mit allen erforderlichen Vorbehalten heran – nach einem zwischenzeitlichen Nachlassen Mitte bis Ende der zweitausender Jahre nun seit etwa fünf Jahren wieder steigende Fallzahlen zu beobachten sind. Es ist also ein bleibendes und möglicherweise wieder zunehmendes Problem.

Die Analysen von Julia Bernstein zeichnen auf diesem Hintergrund ein erschreckendes Bild. An deutschen Schulen, im Unterricht wie auf den Schulhöfen, sind antisemitische Beschimpfungen, Drohungen und tätliche Übergriffe virulent. Womit das Buch allerdings nicht dient, sind genauere Zahlen, die helfen könnten, das Phänomen quantitativ zu erschließen. Stattdessen handelt es sich um eine qualitative Studie, die aus einer Reihe von Interviews herauspräpariert, welche Vorurteile, (Wahn-)Bilder, Symbolwelten, Redeweisen und unverhohlenen Drohungen das Leben von jüdischen Schülern und ihren Familien wie auch jüdischen Lehrkräften belasten und überschatten. Gleichzeitig wird die Ahnungslosigkeit wie auch die Überforderung des pädagogischen Personals und der Schulleitungen deutlich, die streckenweise ihren eigenen Anteil daran haben, dass jüdische Schüler sich an deutschen Schulen zunehmend unwohl fühlen. Dass das dabei in letzter Zeit bis zu schamlosem Mobbing, körperlichen Übergriffen und Schulwechseln (in der Regel des Opfers – ein Armutszeugnis sondergleichen!) führt, ist bekannt und weist bereits über den Fokus des Buches hinaus.

Lesefreude bietet das Buch also nicht; es deckt vielmehr den erschreckenden Spannungsbogen von Ahnungslosigkeit, Naivität, Unsensibilität, Unsicherheit und Feigheit bis hin zu offenem Judenhass und unverblümt geäußerten Vernichtungswünschen in deutschen Klassenzimmern und darüber hinaus auf. Dabei macht Bernstein klar, dass all diese Formen von Anfeindung und Hass keineswegs nur aus der „rechten“ Ecke kommen (wiewohl auch deren Ressentiments weiterhin fröhliche Urständ zu feiern scheinen), sondern ebenso unter dem Deckmantel „linker“ sogenannter „Israelkritik“ wie zunehmend auch in muslimischer Judenfeindschaft zu finden sind. Es fehlen, wie gesagt, in dieser Studie konkrete Zahlen, doch stellt man relativ schnell fest, dass die ausführlicher genannten Beispiele überwiegend auf das letztgenannte Phänomen zurückgehen, und es wirkt ein wenig befremdlich, wenn Bernstein – trotz dieser auch von ihr klar benannten Problemlage – auch dies bisweilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft in die Schuhe zu schieben bemüht ist bzw. ein Benennen dieses Sachverhaltes als Kompensationsstrategie kritisiert. Gleichwohl ist es gut, dass Bernstein den Themenfeldern „islamischer Antisemitismus“ und „israelbezogener Antisemitismus“ ausführlich Raum gibt, gehen diese beiden Phänomene doch häufig gerade dort Allianzen ein, wo es – zumal im Unterricht – um das Thema Israel / Palästina geht. Die Not der Pädagogen, auf diese unheilvolle Melange angemessen zu reagieren, liest sich bedrückend.

Einige Kritikpunkte sind leider zu nennen. Zum einen: Wie repräsentativ ist eine Studie, die auf 251 Interviews basiert, von denen die Mehrheit mit nichtjüdischen Lehrkräften geführt wurde (61 jüdische und 4 nichtjüdische Schüler, 27 jüdische und 105 nichtjüdische Lehrkräfte [mit dem regionalen Schwerpunkt Hessen], 14 nicht näher qualifizierte „Experten“ und 5 Sozialarbeiter aus dem Umfeld jüdischer Gemeinden; dazu 40 Studierende der Sozialarbeit „an einer deutschen Hochschule“ (26); vermutlich die, an der die Autorin lehrt)? Diese Interviews wurden „sequenzanalytisch ausgewertet“ (27), also wohl im Zusammenhang gelesen und interpretiert. Tiefenschärfe ergibt sich daraus gerade nicht, vielmehr ein sehr flächiges Bild eines ubiquitären Antisemitismus, den Bernstein vorab als deutschen „Normalzustand“ (11 u. ö.) präsentiert und für den sie als Erklärung das Motiv des „kulturelle[n] Reservoir[s]“ (10; eine Formulierung von Earl Raab) heranzieht. Das ist einerseits sicher nicht von der Hand zu weisen, führt aber im Modus der Selbstbestätigung nun wieder dazu, dass jede Äußerung grundsätzlich ad malam partem gelesen und jede noch so missverständliche oder ungeschickte Formulierung skandalisiert wird (eine geschwärzte Passage auf Seite 369 lässt in diesem Zusammenhang eine einstweilige Verfügung vermuten). Auch die immer wieder eingestreuten sogenannten „ethnografischen Feldnotizen“ (29 u. ö.) wirken so eher anekdotisch als methodisch rückgebunden.

Das ausufernde Imponiervokabular inklusive Soziologenplural („Politiken“, „Logiken“, „Praxen“, aber nur ein einziges Mal „Antisemitismen“ [361]) erschwert die Lektüre erheblich, und der nachdrückliche Wille der Autorin, „geschlechtergerecht“ zu formulieren, erfordert dem Rezensenten schon einigen guten Willen ab, sich in diesem Stil durch die Aufarbeitung des zweifellos wichtigen Themas hindurchzuquälen. Dass auf der anderen Seite viele Druckfehler, misslungene Formulierungen, fragwürdige Zitatanschlüsse ins Auge springen, legt den Eindruck nahe, die Sorgfalt bei den Gendersternen (die dann bei den „Tätern“ oder den „Antisemiten“ doch schon mal fehlen) habe die Sorge um verständliche Sprache in den Hintergrund gedrängt.

Vielleicht will das Werk auch einfach ein bisschen zu viel leisten. Die „Fragenkataloge“ am Ende eines jeden Kapitels (mit „Auflösung“ am Ende des Buches) wirken arg oberlehrerhaft. Die „Handlungsempfehlungen“ in Kapitel 5 bieten manch Erhellendes (etwa in Kap. 5.5 und 5.7), bleiben an anderer Stelle aber blass. Die schwierige Frage, ob man verfestigte Vorurteile mit Fakten überwinden kann, wird punktuell wahrgenommen (409), aber nicht entscheidend weitergeführt. Ob es da hilfreich ist, im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts als historisches Argument anzuführen, dass „Abraham ... sich 1738 v. u. Z. ... mit seiner Frau Sarah auf Geheiß G’tts in Kanaan“ niederließ (528; im Rahmen der o. g. „Auflösungen“)? Zwei weitere schwer zu bewältigende Konflikte fallen auf und seien abschließend exemplarisch genannt: Einerseits betont Bernstein (selbstverständlich zu Recht!), dass Juden die primäre und größte Opfergruppe des nationalsozialistischen Deutschlands waren und dass diese Erfahrung auch intergenerationell prägt. Andererseits verwahrt sie sich aber dagegen, Juden von vornherein aus der Opferperspektive wahrzunehmen. Ich verstehe, wie das gemeint ist, aber es sendet eben doch eine schwierige Doppelbotschaft aus, an der man eigentlich nur scheitern kann. Ähnliches gilt für die von ihr kritisierte Neigung, deutsche Juden für das politische Israel in Haftung zu nehmen, betont sie doch selbst immer wieder, dass selbstverständlich keinen Juden Israel kalt lassen kann (528 heißt es erhellend, dass ein „Ole“, also ein Einwanderer, „nach Israel zurückgekehrt“ sei; Hervorhebung V. L.). Birgt das nicht dieselbe Falle in sich, der schwer zu entkommen ist? Es ist den gemachten Beobachtungen und Analysen nur zu wünschen, dass sie zu einem geschärften Bewusstsein führen und angemessene pädagogische und darüber hinaus gesellschaftliche und zwischenmenschliche Reaktionen befördern.

Kurzum: Ein Buch, das für den nach wie vor grassierenden Antisemitismus in Deutschland die Augen öffnet. Schade, dass man sie beim Lesen streckenweise nur mit Mühe offenhalten kann.


Volker Lubinetzki, Wermelskirchen, 03.05.2020