Ralf Grünke

Andere Religionen beurteilen - warum sollte man?

Bei der Sammlung von Gedanken für meinen Vortrag sprach ich einige Gläubige an, darunter auch meine eigene Mutter. Ich stellte ihr die Frage, die beim Jahresempfang der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen auf dem Podium diskutiert werden sollte: Dürfen Gemeinschaften andere Religionen beurteilen? „Dürfen sie, aber warum sollten sie?“, lautete ihr spontane Antwort.

Tatsächlich unterhält die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage keine Einrichtung, die mit der EZW vergleichbar wäre. Heilige der Letzten Tage fühlen sich grundsätzlich nicht veranlasst, das Glaubensleben anderer kritisch zu begleiten oder nach wissenschaftlicher Systematik zu bewerten. Entsprechend finden sich kaum Publikationen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die einen religionskundlichen Vergleich zu anderen Gemeinschaften anstellen. Im Versand der Kirche ist das 1997 erschienene Buch „Religions of the World. A Latter-day Saint View“ erhältlich, das als Begleitmaterial für Kurse der Erwachsenenbildung und Lehrveranstaltungen an der kirchlichen Brigham Young University dient.1 Der Arbeitsleitfaden für unsere Missionare mit dem Titel „Verkündet mein Evangelium!“ enthält auf knappen zwei Seiten einen Überblick über Reformatoren und Stifter der Weltreligionen.2 Beide Veröffentlichungen zeichnen sich durch ein deskriptives Vorgehen aus. Normative Wertungen durch die Autoren bleiben weitestgehend aus.

Und dennoch – frei nach Paul Watzlawick – man kann nicht nicht beurteilen. Jede Glaubensgemeinschaft existiert nicht nur aus sich heraus, sondern in Unterscheidung zu anderen. Schon allein ein Gottesdienst wird nach einer bestimmten Liturgie oder einem didaktischen Rahmen so gefeiert, dass er sich entsprechend der jeweils eigenen Einsichten oder Vorlieben von den religiösen Zusammenkünften anderer Gemeinschaften unterscheidet. Zweifelsfrei liegt schon allein darin eine Wertung.

Nachdem Beurteilungen anderer Religionen nicht ausbleiben, gleichzeitig aber die innerste Identität und die Werte von Mitmenschen betreffen und diese daher leicht verletzen oder zu folgenreichen Fehleinschätzungen führen können, ist besondere Sorgfalt geboten. Der evangelische Theologe Krister Stendahl fasst diese Sorgfalt in drei Grundsätzen zusammen: „1.) Wenn man eine fremde Religion verstehen möchte, muss man ihre Anhänger befragen und nicht ihre Gegner; 2.) man darf die besten Seiten, die man selbst hat, nicht mit den schlechtesten der anderen vergleichen; und 3.) man muss einem ‚heiligen Neid‘ Raum lassen, wenn man an einer anderen Religion etwas Nachahmenswertes entdeckt.“3

Erfreut stellen wir fest, dass die EZW im Laufe der Jahrzehnte einen Wandel vollzogen hat, weg von einer abgrenzenden und hin zu einer dialogischen Apologetik. Diese Einladung und eine Reihe von Veröffentlichungen sind Ausdruck dieser Haltung. Nur wenn man miteinander ins Gespräch kommt, besteht die Möglichkeit, die eigene Befangenheit zu überwinden und Menschen anderen oder keines Glaubens wertschätzend zu verstehen.

Nach wie vor ein wenig schwerer scheint nicht nur dem Personal der EZW, sondern der Mehrheitsgesellschaft insgesamt der Umgang mit solchen Minderheiten zu fallen, die sich nicht in allen Punkten an herkömmliche Deutungen einer der Hauptströmungen der Religionen halten. Dabei ist es weder Verdienst noch Vergehen, von kanonischen Lehrsätzen abzuweichen. Trotzdem wird, wer innerhalb einer Glaubenstradition deren Elemente neu deutet oder erweitert, häufig als störender empfunden als Gläubige, die anderen, sich deutlich unterscheidenden Religionen angehören. Die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse schreiben über die mitunter vom gesellschaftlichen Mainstream abweichenden Strukturen und Lebensregeln kleinerer Religionsgemeinschaften: „Fröhlich-unbeschwert konsumierenden Zeitgenossen mag all dies höchst ‚verdächtig‘ erscheinen, doch die Entscheidung, sich ‚anders‘ zu verhalten, ‚anders‘ zu leben, ‚anders‘ zu denken, ist dem Einzelnen in einer offenen Gesellschaft solange freigestellt, wie er die Rechte der Anderen nicht verletzt.“4 Die Geschichte des christlichen Mönchtums zeige, dass derlei Gemeinschaften „für die Gesellschaft Quelle der Inspiration zu sein und diese in vielfältiger Weise zu bereichern vermögen“5.

Religiöse Toleranz muss sich deshalb gerade im Umgang mit sogenannten Abweichlern bewähren. Im Einzelnen „anders“ zu deuten oder zu praktizieren, stellt das große Ganze nicht zwangsläufig infrage, sondern trägt dessen Grundanliegen in seiner denkbaren Vielfalt unter Umständen in die Gesellschaft hinein. Dies gilt auch und gerade für das Christentum

Bei der Lektüre von EZW-Publikationen ist in diesem Zusammenhang die Neigung einzelner Autoren zu beobachten, das vermeintlich oder tatsächlich Seltsame oder Obskure an kleineren Gemeinschaften zu betonen und in den Vordergrund zu stellen. Davon ist auch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage betroffen. Im EZW-Text 161 „Die ‚Heiligen der Letzten Tage‘ – Christen jenseits der Christenheit“ kommt man nicht über die zweite Zeile des Vorwortes hinaus, ohne zu erfahren, man habe es hier mit einer der „merkwürdigsten Religionsgemeinschaften überhaupt“6 zu tun. „Sonderbare Religiosität nach Form und Inhalt“7 sei an der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wahrzunehmen. Derselbe Autor formuliert ähnlich und führt einige derselben Zitate an in seinem Beitrag für einen elf Jahre später erschienenen EZW-Text.8 Im neueren Text wird außerdem die Entstehungs- und Offenbarungsgeschichte der Heiligen der Letzten Tage als „abenteuerlich“ und „zweifelhaft“ bezeichnet.9 Ein anderer Autor macht „befremdliche Glaubensinhalte“10 aus.

Keine Frage: Was an einem anderen Glauben fremd erscheint, wirkt unweigerlich befremdend. Die Frage ist nur, ob das wiederholte Herausstellen dieses subjektiven Eindrucks für den respektvollen Austausch untereinander und eine sachliche Information der Öffentlichkeit förderlich ist. Sollte der Blick nicht eher – den Grundsätzen Stendahls folgend – vorrangig auf das fallen, was man gemein hat und was „heiligen Neid“ hervorruft?

Das schließt die kritische Frage nach Unterschieden selbstverständlich nicht aus. Gerade die kritischen Anfragen unserer evangelischen Mitchristen führen den fortlaufenden Dialog das eine oder andere Mal von einem sonst vielleicht oberflächlichen Austausch von Höflichkeiten zu Gesprächen, die sowohl das Gemeinsame als auch das Trennende für beide Seiten begreifbar machen.

Wenn es um Äußerungen über andere Religionen geht, die die Öffentlichkeit informieren und aufklären sollen, gilt es schließlich sowohl Aussage als auch Wirkung zu berücksichtigen. Eine Aussage wird nicht allein dadurch gewissenhaft, dass sie Logik und Semantik der eigenen Disziplin genügt. Wer die methodische Auffassungsgabe und die Sprachgewohnheiten des Empfängers unzureichend berücksichtigt, riskiert, falsch oder gar nicht verstanden zu werden. Dies gilt angesichts des wachsenden religiösen Analphabetismus in westlichen Gesellschaften umso mehr für öffentliche Aussagen zur Religion.

Ein Beispiel: Die Autoren der EZW finden zwar immer wieder (schon fast) bewundernde Worte für die Gläubigen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.11 Andererseits sprechen sie ihnen verlässlich das Christsein ab. Als wissenschaftlich-theologische Übung im Sinne des Abgleichens „mormonischer“ Lehre und Praxis mit einem vorher definierten Kriterienkatalog zur Bestimmung des herkömmlichen Christentums mag eine solche Schlussfolgerung in sich stimmig sein. Doch wie sieht die öffentliche Wirkung einer solchen Aussage aus? Was bleibt bei Zeitungslesern und Fernsehzuschauern ohne fundierte Kenntnisse zu theologischen Unterscheidungen hängen, die aus Kreisen der EZW erfahren, die „Mormonen“ seien keine Christen? Als jemand, der von Berufs wegen tagtäglich mit Medien und Reaktionen auf die Berichterstattung zu tun hat, befürchte ich und sehe wiederholt bestätigt: Man deutet das häufig so, dass „Mormonen“ außerhalb des christlichen Wertekanons stünden und sich gegenüber der Gesellschaft unsolidarisch verhielten. Wer uns kennt, wird uns das Gegenteil bestätigen.

Religionen beurteilen? Wenn überhaupt, dann bitte mit Vorsicht. Noch besser: Religionen bewundern. Dies zu erlernen, ist gleichermaßen Aufgabe für evangelische Christen und Heilige der Letzten Tage.


Ralf Grünke, Frankfurt a. M. (Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage)


Anmerkungen

  1. Spencer J. Palmer / Dong Sull Choi / Roger R. Kel-ler / James A. Toronto, Religions of the World. A Latter-day Saint View, Provo 1997.
  2. Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Hg.), Verkündet mein Evangelium! Eine Anleitung für den Missionsdienst, Salt Lake City 2004, 52f.
  3. Themen und Hintergründe. Beziehung zu anderen Religionen, www.presse-mormonen.de/artikel/beziehung-zu-anderen-religionen  (Abruf: 23.2.2015).
  4. Uwe Backes / Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, 375.
  5. Ebd.
  6. Werner Thiede, Die „Heiligen der Letzten Tage“ – Christen jenseits der Christenheit, EZW-Texte 161, Berlin 2001, 1.
  7. Ebd., 2.
  8. Werner Thiede, Gottes Reich auf Erden. Zur mormonischen Eschatologie, in: Kai Funkschmidt (Hg.), Die Mormonen. Zwischen Familiensinn und politischem Engagement, EZW-Texte 219, Berlin 2012, 46-55.
  9. Michael Utsch, Die Mormonen – christliche Kirche oder neureligiöser Kult?, in: Kai Funkschmidt (Hg.), Die Mormonen (s. Fußnote 8), 8.
  10. Lionel Atherton, Erfahrungen mit der Familien-Religion Mitt Romneys, in: Kai Funkschmidt (Hg.), Die Mormonen (s. Fußnote 8), 32.
  11. Michael Utsch schreibt: „Die Konzentration auf die Familie als Keimzelle der Gesellschaft gilt vielen als vorbildhaft … Auch auf das Bildungsniveau wird in Mormonenkreisen Wert gelegt. Als Arbeitnehmer sind Mormonen aufgrund ihres Fleißes und ihrer Zuverlässigkeit beliebt“ (Die Mormonen – christliche Kirche oder neureligiöser Kult?, in: Kai Funkschmidt [Hg.], Die Mormonen [s. Fußnote 8], 15).