Dieter Vaitl (Hg.)

An den Grenzen unseres Wissens. Von der Faszination des Paranormalen

Herder, Freiburg i. Br. u. a. 2020, 544 Seiten, 50,00 Euro.

Anlässlich des siebzigjährigen Jubiläums des„Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene“ (IGPP) in Freiburg i. Br. ist ein Sammelband bei Herder erschienen, der mit seinen 544 Seiten ein Schwergewicht darstellt. Doch diese Seitenfülle ist durchaus nötig, denn das IGPP hat eine komplexe Geschichte, erfüllt vielfältige Funktionen und hat eine große Bandbreite an Forschungsprojekten vorzuweisen.

Der Band ist in fünf Teile gegliedert: Im ersten und zweiten Teil erfolgt ein historischer Abriss mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte des Hauses seit den 1990er Jahren mitsamt der Neuausrichtung nach dem Tode des Gründers Hans Bender und der unerwarteten finanziellen Zuwendungen, die aus einer Stiftung hinzukamen. Im dritten Teil werden die Forschungsschwerpunkte und -ergebnisse ausführlich vorgestellt und im vierten über die psychologische Beratungsarbeit des Hauses berichtet, deren Fokus auf Ratsuchende mit außergewöhnlichen Erfahrungen (AgE) liegt. Dann wird die Arbeit der Spezialbibliothek, des Archivs und der fotografischen Sammlung vorgestellt. Den fünften Teil bildet ein Ausblick.

Was versteht das IGPP unter AgE? Damit sind all jene Erfahrungen, Praktiken und Phänomene gemeint, die durch ihre Art und Weise und ihren Verlauf an der Grenze der üblichen Wirklichkeitsvorstellungen der Betroffenen und deren sozialer Umwelt liegen und damit auch außerhalb üblicher wissenschaftlicher Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität zu stehen scheinen.Dazu zählen sogenannte PSI-Phänomene, veränderte Bewusstseinszustände, geophysikalische Anomalien und anderes. Vaitl beschreibt ausführlich die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Besonderheiten, d. h. die Spannung zwischen subjektiven Evidenzen, wissenschaftlichen Daten und gesellschaftlichen Diskursen (17). Die außergewöhnlichen Erfahrungen werden am IGPP dezidiert multidisziplinär erforscht: experimentell-naturwissenschaftlich, kultur- und sozialwissenschaftlich sowie wissen(schaft)sgeschichtlich. Und auch die Daten aus der intensiven Beratungsarbeit fließen in die beratungspsychologische Begleitforschung ein. In diesem Bereich kann das IGPP auf eine praxisgesättigte Entwicklung und Erprobung von speziellen Diagnostik- und Behandlungskonzepten für Menschen mit AgE zurückgreifen – und stellt diese bereit.

Im Folgenden sei besonders die Berichterstattung über die sozialwissenschaftlichen Projekte sowie über die beratungspsychologische Begleitforschung besprochen. Dabei geht es u. a. um die individuellen und kollektiven Deutungen „okkulter“, „magischer“ sowie „spiritueller“ Praktiken und Denkformen, die quantitative Verbreitung von AgE und heterodoxen Wirklichkeitskonstruktionen sowie die Organisationsweisen esoterischer, okkulter und alternativreligiöser Gruppierungen. Und auch die Reaktionen der sozialen Umwelt auf außergewöhnliche Erfahrungen und abweichende Weltbilder wurden erforscht, insbesondere die massenmediale Darstellung dieser Grenzgebietsthemen. Gerade die religionssoziologischen und religionspsychologischen Fragestellungen bieten fruchtbare Anknüpfungspunkte für die Leser. In letzter Zeit haben sich Mitarbeiter des IGPP besonders intensiv aus der Perspektive der Wissenssoziologie mit den Funktionen von Verschwörungstheorien auseinandergesetzt.

Bei seiner Forschungsarbeit kooperiert das IGPP seit jeher eng mit der Universität Freiburg wie auch mit anderen Universitäten und führt(e) also sowohl externe als auch interne Forschungsprojekte durch. Für die Öffentlichkeitsarbeit sehr bedeutsam ist die Zusammenarbeit des Instituts mit namhaften Museen weltweit, die in den letzten 25 Jahren auf die Schätze der fotografischen Sammlung und des Archivs zurückgriffen, um die Wechselwirkung zwischen Okkultismus und moderner Kunst im 20. Jahrhundert zu visualisieren. Die religionswissenschaftliche Rezensentin wiederum profitierte während ihrer Promotionsphase davon, dass dank der Mittel für die Spezialbibliothek seltene esoterische und okkultistische Zeitschriften seit längerem als Digitalisate für die wissenschaftliche Forschung verfügbar sind.

Nichtsdestotrotz stoßen die Mitarbeiter des IGPP sowohl seitens der massenmedialen Berichterstattung als auch bei wissenschaftlichen Fachkollegen auf eine ganze Bandbreite von Reaktionen: von Skepsis bis hin zu Lächerlichmachung, weil sie sich mit gesellschaftlich hoch umstrittenen Gegenständen beschäftigen, deren Untersuchungswürdigkeit nicht selten zur Debatte steht. Diese Situation wird am Ende des Bandes von Gerhard Mayer aufgegriffen, reflektiert und anhand einer diachronen Massenmedienanalyse verdeutlicht. Während der gesamte Band nüchtern, sachlich und profund Institutionsgeschichte erzählt, wird es an dieser Stelle persönlich und nachdenklich, was der Gesamterzählung jedoch guttut. Hier wird aus einer individuellen Perspektive die Problematik der ganzen Einrichtung aufgegriffen und auf den Punkt gebracht: vom Unwohlsein bei der Frage nach dem Beruf und von den Strategien, Antworten zu geben, die nicht sofort zu Irritationen beim Gegenüber führen, von der permanenten Abwehr populärer Stereotypisierungen z. B. als „ghostbuster“ bis hin zu Stigmatisierungs- und Prekarisierungserfahrungen einzelner Wissenschaftler. Rückblickend konstatiert Mayer, dass es heute keine Einheit zwischen Person und Institution in der Außenwahrnehmung mehr gibt, wie noch zur Wirkungsphase von Hans Bender, sondern eine themengebundene Wahrnehmung der Forschenden überwiege.

Zwei Fragen blieben für die Rezensentin offen: In einem Nebensatz wird auf die – ebenfalls in Freiburg ansässige – „Parapsychologische Beratungsstelle der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie“ unter der Leitung des Psychologen und Physikers Walter von Lucadou verwiesen, jedoch nicht miterzählt, in welchem Verhältnis die beiden Beratungsstellen zueinander stehen. Die zweite Frage ist erinnerungspolitischer Art: Gerade weil der Fokus des Bandes auf der Geschichte des Hauses seit Beginn der 1990er Jahre liegt, hätte die Leserin gern mehr darüber erfahren, wie der prominente Gründer Hans Bender mitsamt seiner Berufsbiografie vor 1945 und danach im Rahmen der Institutsgeschichte erinnert wird und werden soll. Aber vielleicht ist diese Frage – 30 Jahre nach seinem Tod – noch zu früh gestellt und noch Aushandlungssache. Historisch-kritische Forschungen liegen jedenfalls vor.1 Der Band ist uneingeschränkt zur Lektüre zu empfehlen.


Bernadett Bigalke, Leipzig

Anmerkungen

  1. Frank-Rutger Hausmann: Hans Bender (1907 – 1991) und das „Institut für Psychologie und Klinische Psychologie“ an der Reichsuniversität Straßburg: 1941 – 1944, Würzburg 2006; Anna Lux: Wissenschaft als Grenzwissenschaft: Hans Bender (1907 – 1991) und die deutsche Parapsychologie, Berlin 2021.