Mormonen

180 Jahre Mormonismus

 (Letzter Bericht: 5/2009, 185f) Vor genau 180 Jahren, am 6. April 1830, wurde nach der Überzeugung des 24-jährigen Joseph Smith in Fayette (USA) die ursprüngliche Kirche Jesu Christi wiederhergestellt. Vier Wochen zuvor war das von ihm verfasste Buch „Mormon“ in einer Auflage von 3000 Exemplaren erstmals erschienen. In einem abenteuerlichen, sich über zehn Jahre erstreckenden Offenbarungs- und Übersetzungsprozess will Smith neue Offenbarungen von Gottes Heilsplan mit den Menschen erhalten haben, die er im Buch Mormon niederschrieb. Darin wird das Wirken Jesu Christi bei den Menschen auf dem amerikanischen Kontinent geschildert, wo er kurz nach seiner Auferstehung tätig gewesen sein soll.

Die junge Glaubensgemeinschaft versteht sich als Neugründung der christlichen Urgemeinde. Die Kirchen haben ihrer Überzeugung nach das Evangelium verfälscht, insbesondere durch die Vernachlässigung des Priestertums. Jesus Christus habe die Kirche gegründet, indem er Apostel berief und sie ordinierte. Zur Errichtung seiner Kirche habe er ihnen die Priestertumsvollmacht übertragen, nämlich in seinem Namen zu lehren und zu taufen. Nach dem Tod der Apostel sei die Priestertumsvollmacht, zu der nach mormonischer Überzeugung die Schlüsselkompetenz gehört, die Kirche zu führen und aktuelle Offenbarungen für sie zu empfangen, von der Erde genommen worden. Mangels Priestertumsvollmacht hätten sich Irrtümer in die christliche Lehre eingeschlichen. Einige inspirierte Menschen wie Martin Luther oder Johannes Calvin hätten zwar richtig erkannt, dass gewisse Bräuche und Lehren verändert worden oder verloren gegangen seien. Ohne die Priestertumsvollmacht habe es jedoch auch ihnen nicht gelingen können, das Evangelium Jesu Christi umzusetzen und zu verwirklichen. Dazu seien eine Wiederherstellung der Urgemeinde und die Reaktivierung des Priestertums nötig gewesen. Am 15. Mai 1829 hatte Joseph Smith eine Erscheinung, in der Johannes der Täufer ihn ordiniert haben soll, indem er ihm das Priestertum übertrug. Durch diese und spätere heilige Handlungen sei Joseph Smith als Prophet und Ältester eingesetzt und die Kirche Jesu Christi wiederhergestellt worden.

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“ stattete sich mit denselben Ämtern wie die Urkirche aus und wurde streng hierarchisch strukturiert. Sie wird von einem Propheten und Offenbarer geführt, der „auf Weisung des Herrn“ handelt. Der Prophet ist zugleich der Präsident der Kirche. Seit 2008 amtiert als 16. Präsident Thomas S. Monson (Jahrgang 1927). Er wird von zwei Ratgebern und zwölf Aposteln unterstützt. 2008 wurde erstmals ein Deutscher, der in Sachsen aufgewachsene Dieter F. Uchtdorf (Jahrgang 1940), als Ratgeber berufen und gehört damit der „Ersten Präsidentschaft“, dem höchsten Führungsgremium der Kirche, mit Sitz in Salt Lake City an (vgl. MD 3/2008, 112).

Trotz der strengen Hierarchie gab es häufig Konflikte um die neuen Offenbarungen der jeweiligen Präsidenten. Das hat dazu geführt, dass sich im Laufe der Zeit immer wieder Gruppen von der ursprünglichen Bewegung abgespaltet haben. Heute zählen etwa 70 Gemeinschaften zur Familie des Mormonismus. Die zweitgrößte Konfession innerhalb dieser Familie ist die „Gemeinschaft Christi“ (früher: „Reorganisierte Kirche Jesu Christi“), die – anders als die Utah-Mormonen – keine geheimen Tempelrituale durchführt, ein klassisch-trinitarisches Gottesbild vertritt, auch Frauen ordiniert und in der Ökumene mitarbeitet.

In einem internationalen Gottesdienst in Berlin bot sich die Gelegenheit, die Botschaft von führenden Repräsentanten der Utah-Mormonen an die deutschsprachigen Mitglieder mitzuverfolgen. Die zweistündige Veranstaltung am 21. Februar 2010 wurde in neun Sprachen übersetzt und per Satellit in 91 mormonische Gemeindehäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz übertragen. Als Redner traten Erich Kopischke, der Präsident der Kirche in Europa, sowie sein aus Portugal stammender Ratgeber auf. Hauptredner war Apostel Dieter F. Uchtdorf, einer der beiden Ratgeber des Präsidenten der Kirche. Seine Frau überbrachte zuvor ein freundliches und persönlich gehaltenes Grußwort. Alle Redner bezeugten eindringlich, dass Präsident Thomas S. Monson wirklich der Prophet Gottes für die heutige Zeit sei. Übereinstimmend betonten sie die Notwendigkeit der Mission. Die Kirchenmitglieder sollten Menschen in ihrem Umfeld auf ihren Glauben hin ansprechen. Besonders wichtig sei die persönliche Ausstrahlung. Mit leuchtenden Augen solle man seinen Glauben leben und Zeugnis davon ablegen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es intensive Auswanderungsbewegungen deutscher Kirchenmitglieder nach Utah gegeben, was die mitgliederstarken Gemeinden in Deutschland sehr geschwächt hätte. Nach Einschätzung der Kirchenleitung stehe Deutschland aber heute an der „Dämmerung eines neuen Tages“, was sich in einem zahlenmäßigen Wachstum niederschlagen werde. Es wurde versucht, die Konferenzbesucher für die Vision einer wachsenden Kirche zu gewinnen. Apostel Uchtdorf habe mit einer kleinen Gruppe im Morgengrauen Deutschland mit einem feierlichen Gebet erneut für die Verkündigung der Botschaft Jesu geweiht. Dennoch teilte Uchtdorf mit, dass die Zahl der Missionare aus Amerika zurückgehen werde. Stattdessen solle jedes Gemeindemitglied aktiv missionieren, die wenigen Missionare sollen künftig mehr Lehraufgaben übernehmen.

Uchtdorf forderte seine Zuhörer zum Schluss konkret zu drei Dingen auf: täglich in den heiligen Schriften zu lesen, täglich zu beten und stets einen gültigen Tempelschein zu besitzen. Der Tempelschein muss von jedem erwachsenen Kirchenmitglied bei seinem „Pfahlpräsidenten“ alle zwei Jahre erneuert werden. Man erhält ihn, wenn in dem Tempelinterview die folgenden sieben Fragen positiv beantwortet wurden:
„1. Haben Sie festen Glauben an Gott? Haben Sie ein Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium?
2. Erkennen Sie den Präsidenten der Kirche Jesu Christi als Propheten, Seher und Offenbarer an? Erkennen Sie ihn als den einzigen Menschen auf der Erde an, der alle Schlüssel des Priestertums innehat und ermächtigt ist, sie auszuüben?
3. Leben Sie das Gesetz der Keuschheit?
4. Zahlen Sie den vollen Zehnten?
5. Befolgen Sie das Wort der Weisheit?
6. Sind Sie im Umgang mit Ihren Mitmenschen ehrlich?
7. Sind sie bestrebt, die Bündnisse, die Sie eingegangen sind, zu halten, an ihrer Abendmahlsversammlung und ihrer Priestertumsversammlung teilzunehmen und im Einklang mit den Gesetzen und Geboten des Evangeliums zu leben?“
(Grundbegriffe des Evangeliums, Salt Lake City 2009, 251)

Die Veranstaltung war deutlich der internen Mission gewidmet. Während modernste Übertragungstechnik zum Einsatz kam, war das Programm konservativ und nüchtern gestaltet. Zeitgenössische Elemente fehlten gänzlich. Bis auf drei Chorlieder, drei gemeinsam gesungene Lieder und zwei frei formulierte Gebete war die Veranstaltung von Vorträgen bestimmt. Deutlich standen ethisch-moralische Prinzipien im Vordergrund: keine Streitigkeiten, keine Trägheit, mehr Begeisterung und mehr Keuschheit (Warnung vor Pornografie). Die Veranstaltung diente der Selbstvergewisserung und Ermutigung. Welche Wirkungen der Aufruf zur Mission im deutschsprachigen Raum nach sich zieht, wo die Mitgliederzahlen seit längerem stagnieren, wird sich zeigen.


Michael Utsch