Verschwörung als Ersatzreligion? Erstaunliche Befunde einer Schweizer Studie

Hängt Verschwörungsdenken mit der Art des Glaubens zusammen? Eine Studie der Universität Zürich hat genauer erhoben, welchen Einfluss religiöse oder spirituelle Überzeugungen auf die Neigung zum Verschwörungsdenken haben.

Michael Utsch
Kapuzenmann hält sich Spielkarte vors Gesicht

Verschwörungserzählungen haben sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie rasant ausgebreitet. Nicht nur bei Beratungsstellen für Weltanschauungsfragen haben diesbezügliche Anfragen von betroffenen Angehörigen stark zugenommen. Manche Bundesländer haben aufgrund der hohen Nachfrage eigene Beratungsformate dazu eingerichtet. Allein in der Region Berlin-Brandenburg gibt es dazu drei spezialisierte Beratungsstellen.

Eine Studie des Instituts für Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich hat die Zusammenhänge zwischen Verschwörungsmythen und konfessioneller Religiosität sowie freier Spiritualität untersucht. Bürgerinnen und Bürger aus der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz wurden in einer repräsentativen Stichprobe mittels eines sorgfältig zusammengestellten Online-Fragebogens auf ihre Neigung zum Verschwörungsdenken hin befragt. Dabei wurden auch etablierte Skalen für Religiosität (Stefan Huber) und Spiritualität (Dick Houtman) verwendet. Bei der Religiosität wurde nach dem Glauben an die Existenz Gottes und nach der religiösen Praxis gefragt, bei Spiritualität nach Gefühlen der Verbundenheit zu einem größeren Ganzen. Die Ergebnisse stützten zunächst den weit verbreiteten Eindruck, dass seit der Pandemiezeit mehr Menschen als früher zu der Annahme neigen, gesellschaftliche Ereignisse würden von geheimen Eliten geplant und gesteuert.

Dem Autorenteam zufolge dienen sowohl Religion und Spiritualität als auch Verschwörungsdenken der Bewältigung von existenziellen Krisen. Während die Konfessionszugehörigkeit und die religiöse Praxis die Neigung zum Verschwörungsdenken kaum beeinflussten, zeigten die sich selbst als „spirituell“ begreifenden Menschen, die befragt wurden, eine deutlich höhere Anfälligkeit für Verschwörungsdenken. Die Autoren betonen, dass die Unterscheidung zwischen Religiosität und Spiritualität bei der sensiblen Untersuchung von Verschwörungsdenken essenziell sei, um Fehlschlüsse in der Auswertung zu vermeiden. Sie folgern aus den Studienergebnissen, dass in säkularen Gesellschaften Spiritualität ohne die Einbindung in traditionelle religiöse Gemeinschaften mit einer verstärkten Offenheit für Verschwörungsmythen als Ersatzreligion einhergehen.

Viele religionspsychologische Untersuchungen haben ergeben, dass die seelischen Kräfte des Glaubens und Hoffens anfällig sind für Wunschdenken und Illusionen. Durch die getrennte Erfassung von Religiosität und Spiritualität kommt die vorliegende Studie zu dem erstaunlichen Befund, dass eine konfessionelle Rahmung des Glaubens vor Verschwörungsdenken schützen kann. Hier sind weitere Analysen nötig, um hilfreiche Formen des Glaubens von schädlichen Ausprägungen besser unterscheiden zu können.


Quelle:

Lisa Schwaiger u.a.: Verschwörung als Ersatzreligion? Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2022, https://doi.org/10.1007/s41682-022-00136-x

Ansprechpartner

Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin