„Wir Gläubige können nicht schweigen, wenn der Terrorismus die Religion missbraucht“

Als erstes römisch-katholisches Kirchenoberhaupt überhaupt reiste Papst Franziskus vom 5. bis 8. März 2021 in den Irak, um dort die christliche Minderheit und einige bedeutsame religiöse Stätten des Christentums zu besuchen. Höhepunkte der Reise bildeten zudem ein Treffen mit dem schiitischen Großayatollah Ali al-Sistani, eine interreligiöse Zusammenkunft in Ur, Gebete in Bagdad und Mossul sowie eine Messe in der kurdischen Hauptstadt Erbil. Mit seinem Irakbesuch löste der Papst auch ein Versprechen seines Vorvorgängers Johannes Paul II. ein, der seine für das Jahr 2000 geplante Reise ins Zweistromland aus Sicherheitsgründen doch nicht hatte antreten können.

Papst Franziskus traf am Freitag, 5. März, in Bagdad ein. Nach einem Empfang beim Präsidenten hielt er eine Messe in einer syrisch-katholischen Kathedrale, die 2010 Ziel eines blutigen Terroranschlags gewesen war. Am Folgetag flog er nach Nadschaf, eine der heiligen Städte des schiitischen Islam, um den höchstrangigen schiitischen Geistlichen im Land zu treffen. Der 90-jährige Großayatollah Sayyid Ali al-Husayni al-Sistani leitet dort das dezidiert staatsunabhängige und in der ganzen islamischen Welt angesehene schiitisch-theologische Seminar. Er verfügt im Irak zwar über kein offizielles politisches Amt, aber doch über erheblichen Einfluss – insbesondere in Krisenzeiten. 2014 war es eine Fatwa Sistanis, die junge IrakerInnen dazu bewegte, sich im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) schiitischen Milizen anzuschließen und so den Vormarsch des (sunnitischen) IS im Land aufzuhalten. Ende 2019 unterstützte der Großayatollah nach monatelangen, teils blutig niedergeschlagenen Protesten Forderungen nach einem Rücktritt des damaligen Premierministers Adil Abdul-Mahdi. In seinem Gespräch mit dem Papst betonte Sistani das Recht der christlichen IrakerInnen auf ein Leben in Frieden und Sicherheit und ihre Teilhabe an sämtlichen in der irakischen Verfassung verankerten Rechten. Dass Franziskus sich bei dieser Reise mit dem Großayatollah traf, kann auch als Hinweis an den Iran interpretiert werden. Denn damit machte der Papst deutlich, dass er der von Sistani vertretenen, weniger politischen Spielart des Schiismus größere Wertschätzung entgegenbringt als der von den iranischen Geistlichen propagierten schiitischen Theokratie.

Nach der Zusammenkunft mit dem Großayatollah nahm Franziskus vor der Kulisse eines antiken Tempels in Ur, dem Geburtsort Abrahams, an einem interreligiösen Treffen mit schiitischen, sunnitischen, christlichen sowie mandäischen und jesidischen (ezidischen) ReligionsvertreterInnen teil. Der Papst, der während seiner Reise immer wieder seine Rolle als „Pilger für den Frieden“ betonte, hob dabei insbesondere das Leiden der jesidischen Glaubensgemeinschaft unter der Herrschaft des IS hervor. Am Sonntag, 7. März, betete er in der einst stark christlich geprägten nordirakischen Stadt Mossul, in der Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 das „Kalifat“ ausgerufen hatte, zwischen den Ruinen am „Platz der Kirchen“ für die Opfer des IS. Anschließend ließ er eine weiße Friedenstaube fliegen. Von Mossul aus fuhr er weiter in die nach wie vor mehrheitlich christlich bewohnte Stadt Karakosch in der Niniveh-Ebene, die bis 2016 ebenfalls durch den IS besetzt und großteils zerstört wurde. Bei einer Ansprache an die seither nach Karakosch zurückgekehrten ChristInnen verurteilte er jeglichen Terrorismus und insbesondere die Instrumentalisierung von Religion durch TerroristInnen.

Die letzte Station des Papstes war am Nachmittag desselben Tages die Hauptstadt der autonomen Provinz Kurdistan, Erbil. Vor 10 000 Menschen hielt Franziskus im dortigen Fußballstadion eine Messe. Später traf er Abdullah Kurdi, den Vater des im September 2015 auf der Flucht ertrunkenen Alan Kurdi. Das Bild von dem an die türkische Küste geschwemmten Leichnam des dreijährigen Jungen hatte damals weltweit Bestürzung hervorgerufen. Franziskus sprach Abdullah Kurdi seine Anteilnahme aus und bezeichnete den Tod Alan Kurdis später als „Symbol einer Kultur des Todes“. Er beklagte angesichts der hohen Flüchtlingszahlen aus dem Nahen Osten die mangelnde Anerkennung des Rechts auf Einwanderung in Europa, gerade auch für Menschen, die durch die wirtschaftliche Lage in ihren Heimatländern zur Emigration gezwungen würden.

Von der prekären Sicherheitslage im Irak, der zuletzt wieder vermehrt von Raketen- und Terroranschlägen heimgesucht wurde, hatte Papst Franziskus sich vor Reiseantritt nicht beirren lassen. Er wolle das irakische Volk nicht noch ein weiteres Mal vertrösten, erklärte er auf Nachfrage. Der im Vorfeld von einigen Milizen vereinbarte Burgfrieden hielt denn auch, sodass es während des Aufenthalts zu keinen Zwischenfällen kam. Auch die jüngst wieder angestiegenen Corona-Infektionen im Irak konnten den Papst, der wie seine Entourage zuvor gegen das Corona-Virus geimpft worden war, nicht von seinen Reiseplänen abbringen. Dennoch löste der von begeisterten Menschenmengen begleitete Besuch auch Sorgen wegen möglicher Ansteckungen aus. Die meisten IrakerInnen freuten sich aber über den historischen Besuch und über positive Bilder aus ihrem Land, das sonst eher mit negativen Schlagzeilen assoziiert wird. Tatsächlich inspirierte der Papstbesuch neben den pro-christlichen Äußerungen Sistanis auch weitere interreligiöse sowie sunnitisch-schiitische Initiativen. Noch während des Aufenthalts rief eine im Irak ansässige UN-Organisation eine „Interfaith Dialogue Series“ (Interreligiöse Dialogreihe) ins Leben, die im Mai 2021 starten und in mehreren irakischen Großstädten örtliche ReligionsvertreterInnen zusammenbringen soll, um die unter anderem durch den IS verstärkte gesellschaftliche Spaltung des Landes aufzuarbeiten und zu überwinden.

Der Besuch des Papstes hat das Leid in Erinnerung gerufen, das religiösen Minderheiten im Irak im Laufe des letzten Jahrhunderts widerfahren ist und das zum Verlust vormaliger ethnischer und religiöser Diversität des Landes führte. War bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein Viertel der Bevölkerung im Gebiet des heutigen Irak christlichen Glaubens, so ist dieser Anteil seitdem stetig gefallen. Nachdem im Zuge der osmanischen Pogrome während des Ersten Weltkriegs nicht nur armenische, sondern auch viele assyrische ChristInnen getötet oder in die Flucht getrieben wurden, erfolgte ein zweiter christlicher Exodus nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003. Seither sank die Zahl der ChristInnen im Irak von knapp 1,5 Millionen auf nunmehr weniger als 400 000. Die meisten von ihnen gehören der chaldäisch-katholischen Kirche an, die trotz ihrer Eigenständigkeit den römischen Papst als ihr Oberhaupt anerkennt.

Franziskus‘ Irakreise erfolgte gut zwei Jahre nach seinem Besuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er vor 130 000 Gläubigen im Stadion von Abu Dhabi die größte jemals auf der Arabischen Halbinsel gefeierte christliche Messe hielt. Dort hatte er auch Ahmed al-Tayyeb getroffen, Großscheich der im sunnitischen Islam hoch angesehenen Al-Azhar-Universität in Kairo. Nach eigener Aussage war es u. a. sein Freund al-Tayyeb, der den Papst im letzten Jahr zu seiner der Brüderlichkeit und Solidarität gewidmeten Enzyklika „Fratelli Tutti“ über die „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ inspirierte. Dass ihn seine erste Auslandsreise seit Ausbruch der Corona-Pandemie in ein mehrheitlich muslimisches Land führte, kann als neuerliches Zeichen für die besondere Bedeutung gewertet werden, die der Pontifex (lat. „Brückenbauer“) dem christlich-islamischen Dialog beimisst.

Mehr zum Thema auch im EZW-Text 263 „Der andere Islam: die Schiiten. Geschichte und Gegenwart“, hg. von Friedmann Eißler und Ralf Lange-Sonntag, Berlin 2019.


Alexander Benatar, 01.05.2021