Interreligiöser Dialog

Visionär des ökumenischen und interreligiösen Dialogs. Zum Tod von Hans Küng

93-jährig ist der weltbekannte Papstkritiker, ehemalige Leiter des Tübinger Instituts für ökumenische Forschung und Initiator der Erklärung zum Weltethos, Prof. Dr. Hans Küng, in Tübingen verstorben. Er hat den ökumenischen und interreligiösen Dialog der letzten Jahrzehnte geprägt wie kein Zweiter.

Die zahllosen Nachrufe aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Kirche lassen keinen Zweifel aufkommen: Mit dem 1928 im schweizerischen Sursee geborenen und am 6. April 2021 in Tübingen verstorbenen Ausnahmetheologen Hans Küng geht eine der großen religiösen Orientierungsfiguren der Gegenwart und eine Leitfigur reformorientierter Katholiken von der Bühne. Wie kaum eine zweite Einzelgestalt hat Hans Küng, der seine Gelehrtenkarriere als ordentlicher Professor für Fundamentaltheologie in Tübingen begann und bis zu seiner Emeritierung 1996 das fakultätsunabhängige Institut für ökumenische Forschung leitete, den innerchristlichen, interkonfessionellen und interreligiösen Dialog der letzten Jahrzehnte geprägt.

Dass ihm aufgrund seiner Kirchenkritik 1979 die Lehrerlaubnis entzogen wurde, hat den „frommen Rebellen“, wie ihn manche Nachrufe beschreiben, nicht ausbremsen können, sondern es ihm ermöglicht, sich als Pionier interkonfessioneller und -religiöser Theologie zu profilieren: Beunruhigt insbesondere durch politische, ethnische und nationale Instrumentalisierungen von Religion und auf der Suche nach Antwort auf die ihn bedrängende Frage nach dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in einer von Vernunft, Naturwissenschaft und religiöser sowie weltanschaulicher Pluralisierung geprägten Gegenwart entwirft der visionäre Vordenker 1989 die ihm weltweit Bekanntheit verschaffende „Erklärung zum Weltethos“. Mit dieser 1993 vom 2. Weltparlament der Religionen in Chicago als Konsenspapier über die grundlegendsten ethischen Regeln des Zusammenlebens verabschiedeten Erklärung (Towards a Global Ethic) konkretisiert Küng eine Vision, die bereits hundert Jahre zuvor auf dem 1. Weltparlament der Religionen in Chicago von 1893 in Reaktion auf die zunehmende gesellschaftliche Säkularisierung formuliert wurde: „to unite all religion against all irreligion“, bedürfe es der Verständigung auf gemeinsame spirituelle und ethische Überzeugungen („common grounds“; Seager 1995, XVII).

Mit der das Weltethos begründenden Formel „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ stellt Küng das Humanum als „ökumenisches Grundkriterium“ bzw. als Mindestvoraussetzung „wahrer“ Religion heraus – „Wahre Religion ist die Vollendung wahrer Menschlichkeit“ (2006, 105) – und transzendiert damit den religionstheologischen Aufbruch des II. Vatikanischen Konzils (1962 – 1965), an dem er selbst als offizieller Berater teilgenommen hatte. Zwar markieren die auf Louis Massignons (1883 – 1962) Gedanken einer abrahamischen Stammverwandtschaft rekurrierenden Anstrengungen des Konzils, die innerkirchliche Ökumene auf eine Juden und Muslime mit einschließende „abrahamische Ökumene“ auszuweiten, bereits einen beachtlichen religionstheologischen Paradigmenwechsel. Doch die einschlägigen Konzilstexte Lumen gentium und Nostra aetate sprechen nur von Muslimen, nie aber vom Islam als religiösem System, geschweige denn von Muhammad als dem Propheten des Islam. Küng hingegen geht weiter: Er beschreibt Judentum, Christentum und Islam nicht nur als nahe beieinanderstehende „Glaubensreligionen“, die mit ihrem „gemeinsamen Grundethos“ einen „welthistorischen Beitrag zu einem sich entwickelnden Weltethos“ (2006, 130) leisten können. Er durchbricht zugleich das Schweigen des II. Vatikanums über den Islam, den islamischen Propheten und den Koran und erkennt Muhammad nicht nur als „nachchristlichen Propheten“, sondern als „prophetisches Korrektiv für die Christen“, den Koran nicht nur als Muhammads, sondern als „Gottes Wort“ an (2006, 112).

In welchem Maße diese beachtlichen religionstheologischen Vorstöße Küngs und die aus dem Weltethos erwachsenden ethischen Verpflichtungen auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung den christlich-muslimischen Dialog konkret befördert haben, lässt sich nur schwer ermessen. Der bei der Stiftung Weltethos in Berlin tätige Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza stellt in einem mit „Der Dialog der Verantwortung“ überschriebenen Beitrag der Islamischen Zeitung (1/2021, 14) emphatisch die von Küng gleichsam exemplarisch vorgelebte „planetare[] Verantwortung“ gläubiger Menschen heraus, „durch ihr Handeln in Nächstenliebe diese Welt [zu] transformieren“ und „kühne Visionen und ehrgeizige Projekte [zu] entwerfen, die die Religionsgemeinschaften mittels ihrer Ressourcen und Kapazitäten angehen“. Das Ziel des Dialogs sei erst erreicht, „wenn das Prinzip insaniyya“, das heißt die „Philosophie der Menschlichkeit“, „Sozialprinzip“ geworden sei (ebd.).

Kritische Stimmen wiederum meinen, Küngs ehemaliger Tübinger Studien- und Universitätskollege Joseph Ratzinger habe mit seiner als Papst Benedikt XVI. am 10.9.2006 vorgetragenen Regensburger Rede den christlich-muslimischen Dialog, wenngleich auch unbeabsichtigt, mehr befördert als Küngs Verpflichtungen auf das abstrakte Humanum des Weltethos. Und tatsächlich wurde der bereits nach 9/11 auf den Weg gebrachte innermuslimische Verständigungsprozess zur Abgrenzung gegen den religiösen Extremismus (vgl. die bereits den „abrahamischen Religionen“ gewidmete Amman Interfaith Message von 2005) mit dem „Offenen Brief“ an Benedikt XVI. (Open Letter to His Holiness Pope Benedict XVI) vom 13.10.2006 und dem nur ein Jahr später an ihn und andere christliche Führungsgestalten gesendeten „Gemeinsamen Wort“ (Common Word) nun auch verstärkt auf die interreligiöse Ebene ausgeweitet. Die seither von muslimischer Seite forcierten Dialoginitiativen – vom Common Word und der Gründung der globalen NGO des „König-Abdullah-Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog“ (KAICIID, 2011) über die Erklärungen von Marrakesch (2016) und der Al-Azhar (2017) bis hin zur gemeinsamen Erklärung zur Geschwisterlichkeit von 2019 – zeigen sich dabei allesamt von einem starken Bedürfnis getragen, den Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe als eine den jüdisch-christlich-muslimischen Dialog begründende und tragende Gemeinsamkeit herauszustellen.

Durch die in dieser Form historisch einmalige Annäherung der muslimischen Religionsgelehrsamkeit an die beiden anderen monotheistischen Religionen und die damit verbundenen religionstheologischen und sozialethischen Erwartungshaltungen sehen sich ebenso wie die römisch-katholische Kirche auch die reformatorischen Kirchen und in Deutschland vor allem die Gliedkirchen der EKD nochmals verstärkt dazu herausgefordert, ihre Verhältnisbestimmung zum Islam zu klären. Die immense, zwischen Konsens-, Konvergenz- und Differenzhermeneutiken changierende Bandbreite der Positionierungen, welche die seit 1974 herausgegebenen, auf der Internetseite der EKD aufgelisteten Handreichungen, Gesprächspapiere und Arbeitshilfen der EKD und ihrer Gliedkirchen aufweisen, ist nicht nur ein Abbild evangelischer Pluralität, sondern auch ein deutlicher Hinweis auf die Komplexität der mit dieser Verhältnisbestimmung verbundenen religionstheologischen Herausforderung. Exemplarisch steht dafür der Grundlagentext der EKD-Kammer für Theologie Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive aus dem Jahr 2015, der einerseits in Bezugnahme auf den gemeinsamen Glauben an den einen Gott eine „Zusammengehörigkeit dieser drei Religionsfamilien mit ihren unterschiedlichen Strömungen“ (62) erkennt, andererseits aber das die monotheistischen Religionen verbindende „gemeinsame Prädikat der ‚Einheit und Einzigkeit Gottes‘“ als eine „von allem …, worauf es … konkret ankommt“ absehende „Abstraktion“ bezeichnet (64f).

Näher bei Küngs Vorstoß einer nicht mehr nur inklusivistischen Anerkennung des Islam als Heilsreligion liegt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das Gesprächspapier Christen und Muslime der Evangelischen Landeskirche in Baden (2018), das dem islamischen Anspruch, „grundsätzlich in der Linie der biblischen Prophetie“ zu stehen, „mit Offenheit und Respekt“ (4) begegnet und die „jüdisch-christlich-islamische Dreierbeziehung“ bzw. „Glaubensverwandtschaft“ (7f) als Ermöglichung dafür sieht, die Israel- auf die Islamtheologie zu übertragen bzw. über die „aus dem christlich-jüdischen Gespräch“ gewonnenen Einsichten „zu einer theologischen Wertschätzung auch des Islams“ (8) zu gelangen.

Doch ringen die evangelischen Handreichungen zum Dialog mit den Muslimen nicht nur mit der Frage, in welchem Maße die religionswissenschaftlich unbezweifelbare historische Genese des Islam aus Juden- und Christentum und dessen Bezug auf Abraham sowie auf den einen Gott dazu berechtigt, wie Küng von einer Verwandtschaft im Glauben oder von Muhammad als einem in der biblischen Tradition stehenden Propheten zu sprechen. Sie ringen zugleich mit der auch von den 138 islamischen Gelehrten des „Gemeinsamen Wortes“ mehr im- als explizit gestellten Frage, ob das den christlichen Glauben begründende Christusereignis – „auch die Christen selbst [waren] niemals alle einer Meinung hinsichtlich des Wesens Jesu Christi“ (Common Word, Abs. III) – einen für Gottes Heilshandeln konstitutiven oder nur repräsentativen Charakter habe.

Weil einem Theologen, wie Küng selbst einmal formuliert haben soll, „der aufrechte Gang“, d. h. das Stehen zu seinen Überzeugungen, gebührt, war für ihn die Anerkennung des Islam und seines Propheten, die als solche für Muslime untrennbar mit der Anerkennung des Glaubens an den „einen Gott“ verbunden ist, nur ein Gebot der Redlichkeit. Wenn Christen, so sein Argument, akzeptieren, dass Muslime an den einen wahren Gott glauben, müsse auch Muhammad als derjenige, „der die Muslime zur Anbetung dieses einen Gottes geführt hat“ (1984, 60; 2006, 167f), als ein Prophet anerkannt werden.

Auch wenn in kirchlichen Handreichungen begegnende Formulierungen wie z. B. zu dem „die islamische Gemeinschaft einschließen[den]“ „Gnadenbund“ (EKiR 2009, 28), zu Muhammad als „Neubegründer des Glaubens in der geistlichen Abrahamkindschaft“ (ebd., 30) oder eben zur „jüdisch-christlich-islamischen Glaubensverwandtschaft“ (EKiBa 2018, 7) durchaus Raum für progressive Interpretationen lassen, haben sich die Gliedkirchen der EKD zu diesem Schritt bislang noch nicht durchringen können. Und das ist, so sehr man Küngs „aufrechtem Gang“ Respekt zollen muss, kein Schaden. Wenn sich selbst die Wissenschaft, wie es das am 16. April 2021, am Tag von Küngs Grablegung, eröffnete „Bayerische Forschungszentrum für interreligiöse Diskurse“ an der FAU Erlangen-Nürnberg in seinem Internetauftritt (www.bafid.fau.de) bezeugt, nicht einig darin ist, in welchem Verhältnis die monotheistischen Religionen – über die ihnen inhärente relationale Diskursivität hinaus – genealogisch und theologisch zueinander stehen, dann müssen es auch die Gliedkirchen der EKD nicht sein.

Zumindest wären zuvor kritische Rückfragen an Küngs auf ethischen Konsens zielendes und ein gemeinsames moralisches Empfinden suggerierendes Dialogmodell zu klären. Neben der Problematisierung des von Küng vorausgesetzten, verschiedenen Traditionen „Gemeinsamkeiten“ unterstellenden Religionsbegriffs gehört dazu die Frage, ob Küngs anthropozentrischer Fokus auf die einer partikularen (hier westeuropäischen) Tradition entstammende und dann dekontextualisierte bzw. autonom gesetzte Denkfigur des Humanum tatsächlich der Pluriformität, Individualität und kulturellen Relativität religiöser Formationen gerecht zu werden vermag, die in eben diese Denkfigur ihr je spezifisches Verständnis von Mensch und Menschlichkeit eintragen bzw. in ihren Interpretationen und Applikationen dessen, was „das wahrhaft Menschliche“ ist, erheblich differieren. Streitbar und konflikterprobt, wie Küng war, hätte er den Gliedkirchen der EKD auch in den Fragen, die für ihn selbst bereits geklärt waren, zu einer offenen und kontroversen Debatte geraten, verbunden mit der Bitte, seine visionären Denkanstöße nicht zu ignorieren. Sie bleiben, wie immer man auch zu ihnen stehen mag, sein Vermächtnis.


Rüdiger Braun, 01.05.2021

Literatur

Eißler, Friedmann (Hg., 2009): Muslimische Einladung zum Dialog. Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten („A Common Word“), EZW-Texte 202, Berlin.

EKD (2015): Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive, www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/christlicher_glaube.pdf

EKiBa (2018): Christen und Muslime,www.ekiba.de/media/download/integration/180898/gespraechspapier_christen_und_muslime_.pdf

EKiR (2009): Abraham und der Glaube an den einen Gott, www.ekir.de/www/downloads/EKiR_Arbeitshilfe_Abraham_2009_deutsch.pdf.

Küng, Hans (1990): Projekt Weltethos, München.

Küng, Hans (2006): Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München.

Küng, Hans et al. (Hg., 1984): Christentum und Weltreligionen, München / Zürich.

Murtaza, Muhammad Sameer (2021): Der Dialog der Verantwortung, in: Islamische Zeitung Nr. 307 (1/2021), 14.

Seager, Richard Hughes (1995): The World’s Parliament of Religions: The East / West Encounter, Chicago 1893, Bloomington, IN.