Esoterik / Psychoszene

Tolle Zeiten: Eckhart Tolle in Hannover

Nach dreijähriger Pause war Eckhart Tolle für zwei Termine wieder in Deutschland. Am 26. Oktober 2010 fand ein „Event“ mit ihm in Karlsruhe statt, am 28. Oktober kam er nach Hannover. Tolle wird von Beobachtern der Satsang-Szene zugerechnet, obwohl er sich selbst gegen diese Einordnung sträubt (zur Satsang-Bewegung vgl. MD 10/2010, 389-392). Typisch für die vom hinduistischen Advaita-Vedanta geprägte westliche Satsang-Bewegung ist die Einordnung in eine Lehrer-Schüler-Linie. Daneben gibt es aber auch die sogenannten Spontanerwachten. Zu ihnen könnte Tolle gezählt werden, der von einem Erleuchtungserlebnis zu berichten weiß, das ihm Ende der 1970er Jahre in Cambridge widerfuhr. Wenn man ihm Glauben schenken kann, wurde er ohne Absicht zum spirituellen Lehrer. Mittlerweile ist er zu einer Marke geworden, zu einem „Global Player“ auf dem esoterischen Markt.

So kamen die Besucher in Hannover – den Nummernschildern auf dem Parkplatz nach zu urteilen – aus allen Himmelsrichtungen: Potsdam war genauso vertreten wie Freiburg, es waren sogar Fahrzeuge aus Dänemark und Belgien dabei. Die meisten Besucher stammten allerdings aus dem nordwestdeutschen Raum.Der ungefähr 3000 Personen fassende Kuppelsaal in Hannover bietet eine besondere Atmosphäre, die auch schon von anderen Anbietern aus dem esoterischen Spektrum genutzt wurde. Trotz Kartenpreisen von 48 Euro konnten die Veranstalter den größten Teil der Plätze füllen. Im Vorfeld der Abendveranstaltung mit Tolle präsentierten sich in der Eingangshalle und in den Wandelgängen verschiedene regionale und überregionale Anbieter esoterisch-spiritueller Ausrichtung mit eigenen Ständen. Einige traten auch als Sponsoren auf. So wurde für den „Benediktushof“ und für „ZEGG“ geworben, das „Humanity’s Team“ („inspiriert von Neale Donald Walsch“) war vertreten, aber auch das „Rainbow Spirit Festival“ vom 10. bis 13. Juni 2011 in München wurde mit Flyern beworben. Ab 17 Uhr trat der Musiker Devakant auf, der als „spannender Weltmusiker“ vorgestellt wurde, „der uns wirklich mit seiner Musik ,verzaubern’ wird“.Bestand das Publikum am frühen Nachmittag eher aus Personen jenseits der 50 Jahre, nahm der Anteil der jüngeren Besucherinnen und Besucher zum Abend hin deutlich zu. Vielfach waren Paare von Frauen und Männern oder Frauen zu beobachten. Die Besucher(innen) wirkten gut situiert; es herrschte keine besondere Kleiderordnung. Die Zeit zwischen dem Auftritt Devakants und Tolles Erscheinen wurde mit einer Videopräsentation überbrückt, die für Tolles neues TV-Angebot im Internet warb – unter der Frage: „What if Eckhart Tolle were available 24/7 to support your spiritual awakening?“ (vgl. www.eckharttolletv.com).

Gezeigt wurde Tolle mit Größen wie dem Dalai Lama oder wie er aus seinen bevorzugten Büchern zitiert: den Werken von Emerson und Marc Aurel, dem „Tao te-King“ oder „Ein Kurs in Wundern“. Ursprünglich sollten die Schauspielerin Ursula Karven und der Rockmusiker Rudolf Schenker als Prominente von ihren Erfahrungen mit Tolle berichten und die Begrüßung übernehmen. Sie waren aber verhindert, sodass es dem Coach Michael Fromm als Veranstalter und Tolles deutschem Verleger Joachim Kamphausen überlassen blieb, den Abend zu eröffnen. Beide freuten sich angesichts des großen Zuspruchs über den Erfolg. Fromm wies darauf hin, dass die Events in Karlsruhe und Hannover gewissermaßen Jubiläumsveranstaltungen anlässlich des Erscheinens von Tolles Bestseller „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ vor zehn Jahren in Deutschland seien. Kamphausen bejubelte „zehn Tolle Jahre“ und bedankte sich bei seiner Lektorin, die ihn seinerzeit auf diesen Autor aufmerksam gemacht hatte.

Dann erschien mit einiger Verspätung Tolle selbst auf der Bühne. Angekündigt waren zwei Stunden mit ihm. Tatsächlich wurden es ca. 90 Minuten. Geboten wurde Monolog ohne Rückfragen, nur unterbrochen durch Lacher aus dem Publikum. Aus den Kulissen trat ein kleiner, unscheinbar wirkender Mann, der sich langsamen Schrittes und gebeugt zur Bühnenmitte bewegte. Dort nahm er auf einem Stuhl Platz. Die graublaue Farbe und der Schnitt seiner Kleidung ließen ihn bieder und langweilig erscheinen. Einen Guru stellt man sich anders vor! Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, wurde das Bild des Redners großflächig auf eine Leinwand im Bühnenhintergrund projiziert. Optisch dominierte deshalb im Fortgang des Abends Tolles Gesicht, das oft zu sehen war und immer wieder einen kindlich-neugierigen Ausdruck zeigte.Tolle hat seine ersten Lebensjahre in Deutschland verbracht und soll eigentlich den Vornamen Ulrich tragen. Erst später hätte er sich, heißt es, nach dem mittelalterlichen Theologen und Mystiker Meister Eckhart genannt. Mittlerweile lebt er in Kanada. Den Vortrag hielt er auf Deutsch. Er wirkte dabei, anders als bei früheren Auftritten, sprachlich größtenteils sicher. Selten einmal hatte er Schwierigkeiten bei der Suche nach dem richtigen Begriff. Der leichte angelsächsische Akzent ließ seine Worte möglicherweise bedeutsamer erscheinen, als sie waren. Die Botschaft selbst nämlich war altbekannt und von der gleichen Schlichtheit, die eine Zeitung einmal so wiedergab: „Der Mensch kann zu sich selbst finden, wenn er sein Ego ablegt und im Augenblick aufgeht, statt an Gestern oder Morgen zu denken“ (Serge Debrebant in der Frankfurter Rundschau vom 12.5.2009). Allerdings hat Tolle trotz aller Schlichtheit Entertainer-Qualitäten und weiß sein Publikum immer wieder mitzunehmen und zum Lachen zu reizen. Schon sein Einstieg sorgte für große Heiterkeit. Dabei kündigte er an, er wolle mal „über etwas Neues“ reden, nämlich „über das Jetzt, denn neuer geht es nicht“. Pausen im Vortrag und eine entsprechende Gestik unterstrichen seine Worte. Tolle kann mühelos von Alltagserfahrungen zu Einstein und Kant springen; auch Jesus und Buddha durften in seinem Vortrag nicht fehlen. Natürlich waren das – wie in seinen Worten anklang – große Leute, die Bedeutendes zu sagen hatten. Aber was bei ihnen schwierig erscheinen mag, das wird, wenn man Tolle folgt, ganz einfach. Die Zuhörer bekamen den Eindruck vermittelt, dass der esoterische Pfiffikus mit dem erstaunten Blick da vorne die Welt wirklich durchschaut hat!

„Wer bin ich?“, fragte er am Ende und schloss die Augen. Als er sie öffnete, breitete er gleichzeitig seine Hände aus und sagte nur ein Wort: „Das!“ Nachdem er das noch einmal wiederholt hatte, war Schluss. Gewisse Längen sind bei einer so einfachen Botschaft wohl nicht zu vermeiden. 90 Minuten schienen dem Publikum jedenfalls zu reichen. Es gab keinen Widerspruch und nur kurzen Applaus, als Tolle aufstand und hinter der Bühne verschwand – so wie er 90 Minuten zuvor aufgetaucht war. Sofort leerte sich der Raum. Jetzt war die Zeit gekommen, zum Auto oder zur Straßenbahn zu gelangen!


Jürgen Schnare, Hannover