Andreas Hahn

Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen - ein populärer Mythos?

Der Beitrag ist als pdf-Datei abrufbar: Materialdienst der EZW 7/2019, 243 - 250


Die These von der Existenz satanistischer Netzwerke, die im großen Stil Menschen rituell foltern und Kinder töten und die unsere Gesellschaft einschließlich polizeilicher und juristischer Behörden unterwandert haben – im Folgenden „Rituelle-Gewalt-These“ genannt –, klingt abwegig. Sie wird zwar gerne von Medien aufgegriffen, in Fachkreisen aber äußerst kontrovers diskutiert. Vertreten wird sie von einigen Traumatherapeutinnen und -therapeuten, psychosozialen Beratungsstellen und in Selbsthilfegruppen. Eine besondere Rolle fällt dabei der Beratungsstelle beim Bistum Münster zu, wo entsprechende Tagungen organisiert werden und ein Netzwerk von Vertretern der These aus unterschiedlichen Professionen entstanden ist.1

Kritik der Rituellen-Gewalt-These findet sich vor allem bei kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten, bei der AGPF (Bundesverband Sekten- und Psychomarktberatung), der GWUP (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, mit der Kriminalpsychologin Lydia Benecke) oder der Sekten-Info NRW in Essen. Sie berufen sich auf die Möglichkeit von therapieinduzierten Erinnerungen („false memory“) und besonders auf das Fehlen sämtlicher Indizien in allen untersuchten Fällen. Sektenmäßig organisierte rituelle Gewalt oder getäuschte Erinnerungen – was stimmt also? Hier ist nicht der Ort, um die der Rituellen-Gewalt-These zugrunde liegenden traumatherapeutischen Diagnosen und Therapien psychologisch einzuschätzen oder gar zu bewerten. Stattdessen werden im Folgenden die grundlegenden Argumentationsstrukturen der These und ihre weltanschaulichen Implikationen kritisch geprüft.

Vertreterinnen und Vertreter der Rituellen-Gewalt-These

Wer in Deutschland zum Thema rituelle Gewalt forscht, wird beim Bistum Münster fündig. Dort wird seit 2010 auf verschiedenen Tagungen die These von satanistisch organisiertem sexuellem Missbrauch in rituellem Gewand vorgestellt. Die in den Programmen genannten Vortragenden tauchen dort wie auch in den entsprechenden Veröffentlichungen2 immer wieder auf. Es handelt sich bei den Vertreterinnen und Vertretern der Rituellen-Gewalt-These offenbar um einen festen Kreis. Sie kennen sich und zitieren sich in den einschlägigen Publikationen immer wieder gegenseitig. Wurde anfangs noch die Frage nach der Existenz großer, die Gesellschaft unterwandernder Netzwerke ritueller Gewalttäter diskutiert,3 fehlten solche kritischen Stimmen bei den Nachfolgetagungen ganz.4 Die Existenz solcher Netzwerke wird aufgrund von Selbstaussagen von Therapeutinnen und Therapeuten und selbstdefinierten Betroffenen als gegeben vorausgesetzt. Einige empirische Studien dienen zum Nachweis für die Existenz und mögliche Größe dieser satanistischen Netzwerke. 2005 erhoben Brigitte Bosse und Annelie Wagner Daten „zur Situation ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz“. Dabei wurden 63 als glaubwürdig eingestufte Fälle von rituellen Gewalterlebnissen gemeldet. In 23 Fällen wurden „Menschenopfer“ gemeldet, die Initiatoren vermuten sogar, dass „die Anzahl der geopferten Menschen ein Vielfaches betragen kann“.5 Die Studie von Susanne Nick et al. über „Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland“ wertete 2018 165 Fälle von rituellen Gewalterfahrungen aus, die in Selbstauskünften erfragt wurden.6

Traumatherapeutische Begründungen

Den psychotherapeutischen Hintergrund dieser Ansätze bildeten Traumatherapien, die Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) auf spezifische Formen der Bewusstseinsspaltung und -manipulation zurückführen. Frühkindliche Erfahrungen mit extremer Gewalt, die weit über „normalen“ sexuellen Missbrauch hinausgehen, würden die sich entwickelnde Persönlichkeit dissoziativ in verschiedene innere Anteile aufspalten. Nur extreme Gewalterfahrungen – Gruppenmissbrauch in organisierter und lang anhaltender Form, der ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit verursache – könnten eine solche Traumatisierung auslösen.

In Therapiesitzungen würden diese dissoziierten Erinnerungen zutage gefördert. In den Beschreibungen der Patientinnen und Patienten seien Praktiken von rituellem Missbrauch zu erkennen. Die Schilderungen seien nach Aussagen der Therapeuten und Therapeutinnen sehr glaubwürdig, sodass von einem tatsächlichen Hintergrund ausgegangen werde müsse. Die so entstandenen Persönlichkeitsanteile könnten von den Täterinnen und Tätern gezielt für ihre Zwecke trainiert und genutzt werden.7

Daher wird – bezugnehmend vor allem auf die Arbeiten der psychologischen Psychotherapeutin Michaela Huber – eine unmittelbare Verbindung zwischen DIS und ritueller Gewalt gesehen. „Multiple Persönlichkeiten“ seien „Überlebende extremer Gewalt“.8 Den Tätern gelinge es, bei ihren Opfern eine Amnesie hervorzurufen, eigentlich sogar eine Amnesie der Amnesie, die auch verhindere, dass die Opfer sich an das Fehlen von Erinnerungen erinnern. Aufkommende Zweifel der Traumatisierten an diesen Erlebnissen werden von den Therapeuten als Beweis für die Richtigkeit der Diagnose gedeutet, denn die Zweifel zeigten, dass die Täter eine Bewusstseinskontrolle ausüben und über Mind-Control-Programme sogar relativ komplexes Verhalten steuern könnten.

Die Möglichkeit, dass in der Traumatherapie diese Erlebnisse fälschlich induziert sein könnten (false memory syndrome), wird als „Täterpropaganda“ der „False-Memory-Bewegung“ zurückgewiesen. Aufgrund eines bestimmten, mit Gewaltfantasien bestückten Bildes vom Satanismus werden die Täternetzwerke in satanistischen Kreisen vermutet. In jüngerer Zeit werden sie aber allgemeiner destruktiven Kulten zugerechnet.

Diskrepanz zwischen Selbstaussagen und gesicherter Datenlage

„Wir beziehen uns in unserer Arbeit mit den Opfern ritueller Gewalt auf reale Fälle. Alle unsere Veröffentlichungen und Beiträge basieren auf Augenzeugenberichten“, sagte Brigitte Hahn in einem Interview.9 Damit wird das Grundproblem auf den Punkt gebracht: Alle Hinweise beruhen auf nicht geprüften Selbstaussagen. Wo doch kriminalpolizeilich und staatsanwaltlich ermittelt wurde – teilweise mit enormem Personalaufwand und außerordentlich akribisch –, blieben die Untersuchungen ohne Ergebnis oder widersprachen sogar explizit den Berichten.10... ... ... Lesen Sie weiter im Materialdienst. (Der vollständige Text ist als pdf-Datei verfügbar, s. Download oben auf dieser Seite.)

Anmerkungen

1 Eine Liste findet sich hier: www.infoportal-rg.de/home.
2 Beispielhaft seien genannt: Claudia Fliß / Claudia Igney (Hg.): Handbuch Rituelle Gewalt: Erkennen – Hilfe für Betroffene – Interdisziplinäre Kooperation, Lengerich u. a. 2010; Ulla Fröhling: Vater unser in der Hölle. Inzest und Missbrauch eines Mädchens in den Abgründen einer satanistischen Sekte, München 2015; Arbeitskreis Rituelle Gewalt der Bistümer Osnabrück, Münster und Essen (Hg.): Rituelle Gewalt. Das (Un)heimliche unter uns, Münster 2014.
3 So bei der ersten Münsteraner Tagung 2010, vgl. Matthias Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“. Ein Tagungsbericht, in: MD 7/2010, 255-262.
4 Vgl. Andreas Hahn: Streitpunkt „rituelle Gewalt“. Ein Tagungsbericht, in: MD 12/2016, 458-460.
5 Datenerhebung zur Situation ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz. Erweiterte Replikation der Studie des Arbeitskreises „Rituelle Gewalt in NRW“ 2005.
6 Susanne Nick / Johanna Schröder / Peer Briken /Hertha Richter-Appelt: Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland. Kontexte der Gewalterfahrungen, psychische Folgen und Versorgungssituation, in: Trauma & Gewalt 3/2018, 244-261.
7 „Betroffene schildern, dass Täter im Kontext organisierter und ritueller Gewalt das Wissen um Dissoziation verwenden, um die Persönlichkeit ab dem frühen Kindesalter über Einsatz von Gewalt absichtsvoll aufzuspalten und die gezielt entstandenen Persönlichkeitsanteile für spezifische Aufgaben zu nutzen“ (ebd., 248).
8 So ein Buchtitel Hubers, die eine zentrale Rolle für diejenigen spielt, die von der Existenz solcher Gewalttäter-Netzwerke überzeugt sind. Bereits bei der ersten Tagung in Münster 2010 stellte Neff mehrmals fest, dass bereits die bloße Infragestellung solche Netzwerke auf der Tagung für große Unruhe sorgte. Die anwesenden Therapeutinnen und Therapeuten gingen offenbar davon aus, „dass das Vorliegen einer dissoziativen Störung als Beweis für die Richtigkeit der Aussagen der Betroffenen angesehen werden kann“ (Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“ [s. Fußnote 3], 256).
9 www.kirche-und-leben.de/artikel/soll-man-ueber-satanismus-und-rituelle-gewalt-berichten (Abruf der angegebenen Internetseiten: 21.5.2019). Hier bezieht sie sich zu Unrecht auf den Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Dort heißt es nämlich: „Andererseits besteht aufgrund der ungesicherten Datenlage auch kein Grund zur Dramatisierung einer ‚satanistischen Gefahr‘. Es gilt zu betonen, daß es keine gesicherten Ergebnisse darüber gibt, daß es weit verbreitet und vor allem in ‚satanistischen‘ Zusammenhängen zu rituellem Mißbrauch kommt.“
10 Wenn etwa eine Betroffene die Polizei telefonisch verständigte, sie würde gerade aus ihrer Wohnung entführt, während gleichzeitig eine Observation lief, vgl. Wolfgang Bausch, www.religio.de/dialog/299/17_09-12.htm.