Andreas Hahn

Streitpunkt „rituelle Gewalt“

Ein Tagungsbericht

Das Thema „rituelle Gewalt“ wird kontrovers eingeschätzt. Unbestritten ist die Existenz satanischer Gruppen. Ob und in welchem Ausmaß dort aber Straftaten wie sexueller Missbrauch bis hin zu Tötungen geschehen, ist unklar. Verschwörungstheorien und das sog. False-Memory-Syndrome, d. h. die Möglichkeit von induzierten, falschen Missbrauchserinnerungen, erschweren die realistische Einschätzung. Ein Beispiel: In einer Studie zu ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2007 wurden über 1000 niedergelassene Psychotherapeuten nach ihren Erfahrungen mit ritueller Gewalt befragt. 5 % der Befragten berichteten über teils erschreckende kriminelle Tätigkeiten auf diesem Gebiet, unter anderem 23 Tötungsdelikte. Allerdings konnten die Ermittlungsbehörden in keinem dieser Falle etwas Nachweisbares finden, um Anklage zu erheben. Das ist für derart gravierende Straftaten in einem Gruppenkontext unvorstellbar. Die Studie ist scheinbar wissenschaftlich aufgebaut. Nicht wissenschaftlich ist jedoch die Tatsache, dass sämtliche Studienergebnisse ausschließlich auf Berichten der betreffenden Therapeuten beruhen. Nach welchen Kriterien diese Berichte als glaubwürdig eingestuft wurden, verrat die Studie nicht. Dass Therapeuten, die von Verschwörungstheorien und rituell-satanischem Missbrauch überzeugt sind, die Ergebnisse bei ihren Patienten suggestiv erzeugt haben konnten, wird nicht einmal diskutiert. Auch eine Analyse des erfolgreichen Buches „Lukas. Vier Jahre Holle und zurück“ (1995) zeigt, dass diese angeblich wahre Geschichte auf Fiktion beruht (vgl. www.relinfo.ch/satanismus/lukas.html). Die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestags befasste sich ebenfalls mit Berichten über rituelle Gewalt, fand aber keinerlei Belege für die geschilderten Straftaten. Leider haben die Falschverdächtigungen immer wieder auch zu Hexenjagden auf Unschuldige geführt. Die beschriebene Problematik wird seit Jahrzehnten im englischen Sprachraum von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen erforscht, die darin eher medial gepuschte Verschwörungstheorien als Fakten finden (vgl. Jeffrey S. Victor: Satanic Panic. The Creation of a Contemporary Legend, Chicago/LaSalle 1993; Jean S. La Fontaine: Speak of the Devil. Tales of Satanic Abuse in Contemporary England, Cambridge 1998).


Zum Thema „Rituelle Gewalt verstehen und handeln“ fand Ende August 2016 eine interdisziplinäre Fachtagung in der Katholischen Hochschule in Münster statt. Das Thema wurde aus psychotherapeutischer, religionswissenschaftlicher, juristischer, kriminalpolizeilicher und journalistischer Sicht sowie aus der Sicht von Betroffenen beleuchtet.

Die Tagungsbeiträge

Das Thema stehe „nicht im Fokus der Forschungen“, formulierte Brigitte Hahn von der Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Münster zu Beginn der Tagung. Rituelle Gewalt, so führte sie aus, sei die „planmäßige und systematische sexuelle, körperliche und psychische Gewaltausübung bis hin zu Tötungen im Kontext einer Weltanschauung“. Mit dieser Tagung wolle man „den Opfern eine Stimme geben“, eine neue Kultur schaffen für Betroffene wie für Forschende und den Graben zwischen Therapie und Strafverfolgung überbrücken. Brigitte Hahn berichtete aus der Sicht von Aussteigern über den ideologischen Überbau dieser besonderen Form sexualisierter Gewalt. Diese Gewalt gehe nicht von Einzeltätern aus, sondern finde in einem organisierten Rahmen von kultischen Handlungen statt, die mit dem Satanismus zusammenhingen. Die Täter verstehen sich als Elite, die nach Perfektion strebe und eine neue Weltordnung schaffen wolle. Jedes Mittel bis hin zu schwersten Straftaten sei ihnen dazu recht. Nach außen hin lebten sie unauffällig und angepasst, ihre Gewaltorgien fänden im Verborgenen statt. Ständig würden neue Mitglieder akquiriert, die durch ihre Mitwirkung an Ritualen – rituellen Vergewaltigungen, ekstatischen Gruppenerlebnissen bis hin zu Säuglingstötungen – eine Identifikation mit der Gruppe erlebten. Dies alles führe zu schwersten Traumatisierungen. Solche Rituale sollen auch in Kirchen stattgefunden haben.

Dem Eingangsvortrag schloss sich der eindrückliche Bericht einer Aussteigerin an, die von wöchentlichen „Messen“ berichtete, die sehr geordnet und hierarchisch strukturiert seien und in denen neue Mitglieder durch Gewaltexzesse initiiert würden. Nur mit Mut, Durchhaltevermögen und einem stabilen Beziehungsnetz sei ein Ausstieg überhaupt möglich.

Die Psychotherapeutin Brigitte Bosse vom „Trauma Institut Mainz“ erläuterte das Phänomen der dissoziativen Identitätsstörung: Durch frühkindliche Erfahrungen extrem sadistischer Gewalt komme es zur Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen als Bewältigungsstrategie, durch die die Last traumatischer Erfahrungen auf mehrere Persönlichkeiten verteilt werde. Durch gezielte Konditionierung und Trigger-Impulse könnten diese Anteile abgerufen werden. So könne es geschehen, dass Menschen leicht manipulierbar und vollkommen hörig seien.

Die Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt untersuchte das religiöse Gewand ritualisierter Gewalt. In „destruktiven Kulten“ sei Gewalt ein altes Muster, ideologische Rechtfertigungen für Menschenopfer fänden sich in allen Kulturen, die Erfahrung des Tötens führe zu außerordentlichen spirituellen Erfahrungen. In der heutigen Gestalt gehe es nicht mehr um das Verhindern von Notlagen, sondern um das extreme Erlebnis und somit die egoistische Befriedigung. Ohne Verletzung von Menschenrechten könnten sich Täter wie Opfer kein Ritual vorstellen, das ein vergleichbares intensives Erlebnis zur Folge hätte. Dies mache auch therapeutische Lösungen so schwierig.

In den kriminologischen und journalistischen Beiträgen wurde dargelegt, dass es trotz intensiver Recherchen keine strafrechtlich belastbaren Fakten gebe und auch kein „kriminologisches Grundrauschen“ (so die Journalistin Claudia Fischer) zu hören sei. Dies bedeute aber nicht, dass hinter den Schilderungen von Betroffenen keine Wirklichkeiten stünden.

Einschätzung

Als Teilnehmer habe ich diese Tagung sehr ambivalent erlebt. Zum einen gab es eine Fülle wichtiger Informationen und eindrücklicher Schilderungen, sowohl aus professioneller therapeutischer und polizeilicher Sicht als auch durch die mitwirkenden oder teilnehmenden Aussteigerinnen. Dass hier extreme Missbrauchserfahrungen vorlagen, die zu dissoziativen Persönlichkeitsstörungen geführt haben, kann man angesichts der Seriosität der Therapeutinnen wie auch der Klarheit in der Darstellung Betroffener kaum von der Hand weisen. Es war das Ziel der Tagung, hier Verbindungen zu schaffen und ein Hilfsnetzwerk aufzubauen.

Wie groß aber die angedeuteten Netzwerke organisierten Missbrauchs tatsächlich sind und inwieweit ein Zusammenhang mit rituellen Kulten besteht, bleibt allerdings auch nach der Tagung unklar. Die Datenlage ist sehr dünn. Selbst dort, wo man den Missbrauchsschilderungen mit großem personellem und ermittlungstechnischem Aufwand nachgegangen ist – ein Workshop schilderte detailliert eine solche Vorgehensweise der Polizei im Raum Oldenburg –, kam man zu keinen belastbaren Erkenntnissen.

Auch die therapeutische Arbeit an traumatischen Erfahrungen führt ja nicht ohne Weiteres zu einem detailgetreuen Abbild der Wirklichkeit, sondern kann auch durch den Mechanismus des False-Memory-Syndroms überlagert werden, sodass Bilder und Motive aus verbreiteten Erzählungen, Medienberichten und sogar aus Horror- und Splatterfilmen in die Darstellungen einfließen. Um zu klären, ob die vorgetragenen Schilderungen tatsächliche Geschehnisse widerspiegeln, bedarf es einer kritischen Außenperspektive, die etwa solche Schilderungen mit anderen vorliegenden Daten abgleicht, die Erzählungen auf Widerspruchsfreiheit prüft und sie mit dem vergleicht, was man von konfliktträchtigen Gruppierungen weiß, die man aus der Weltanschauungsarbeit kennt. Das alles hat die Tagung nicht geleistet.

Das Konzept dieser Veranstaltung mit ihrem Einbezug von Betroffenen beschritt einen anderen Weg. Denn aus therapeutischen wie seelsorgerlichen Gründen verbietet sich eine von vornherein kritische Herangehensweise. So entsteht ein immer größer werdendes Netzwerk aus Betroffenen, Therapeuten und der Polizei. Bei den Mitwirkenden handelt es sich aber um einen überschaubaren Personenkreis, der auch schon bei der Vorgängertagung 2010 (vgl. MD 7/2010, 255-262) beteiligt war.

Ohne den Einbezug einer kritischen Außenperspektive kann sich aber das Thema „rituelle Gewalt“ auf Dauer kaum dem Vorwurf der Panikmache entziehen. Auch Verschwörungstheorien, denen ich in Gesprächen am Rande der Tagung wie auch sonst bei Betroffenen mehrfach begegnet bin, können ohne eine Zweitmeinung nicht entlarvt werden. Wenn die kritische Außenperspektive beim Thema „ritueller Missbrauch“ fehlt, droht der Realitätsbezug verloren zu gehen.


Andreas Hahn, 01.11.2016