Katja Voges

Religionsfreiheit im christlich-muslimischen Dialog. Optionen für ein christlich motiviertes und dialogorientiertes Engagement

Katja Voges: Religionsfreiheit im christlich-muslimischen Dialog. Optionen für ein christlich motiviertes und dialogorientiertes Engagement (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 21), TVZ, Zürich 2021, 386 Seiten, 44 Euro.

Der Titel des Bandes ist ambitioniert, wenn nicht sogar ein wenig irreführend. Denn der zentrale Fokus der in fünf Kapitel aufgeteilten Studie liegt nicht auf den mit dem Topos der Religionsfreiheit verbundenen Diskursdynamiken des christlich-muslimischen Dialogs, sondern auf einer christlichen (genauer: römisch-katholischen) Würdigung des koranhermeneutischen Ansatzes von Abdullah Saeed (geb. 1960). Dessen an ein internationales Publikum ausgerichtete Beiträge zur reformislamischen Debatte werden seit mittlerweile zwei Jahrzehnten in der nichtmuslimischen Welt rege und dankbar rezipiert.

Die Würdigung und zugleich der eigenständige Beitrag der Studie erfolgt, nachdem die beiden ersten Kapitel in die „Religionsfreiheit im Kontext universaler Menschenrechte“ und in die „Religionsfreiheit als gemeinsame Herausforderung für Christen und Muslime“ eingeführt haben. Das ebenfalls ambitioniert betitelte und zentrale Kapitel 3 („Islam und Religionsfreiheit“) stellt dann den Ansatz des in Montreal lehrenden Islamgelehrten Saeed vor und fragt, wie in dem von ihm repräsentierten Reformislam das in Kapitel 2 am Beispiel der römisch-katholischen Kirche und des Islam festgestellte Spannungsverhältnis von Religion und Menschenrechten bearbeitet und aufgelöst wird.

Saeeds kontextueller Ansatz, der „die Entwicklung der äußeren Umstände“ (163) und „die Notwendigkeit einer Anpassung der Exegese und der Rechtsprechung“ (169) als essenziell ansieht, erlaube es, das traditionelle islamische Offenbarungsverständnis zu überwinden und „neue Interpretationen und eine Anpassung der ethisch-legalen Dimension des Koran“ vorzunehmen, ohne „den unveränderlichen Grundlagen und koranischen Prinzipien“ (173) untreu zu werden. In Anknüpfung an den pakistanischen Gelehrten Fazlur Rahman formuliert Saeed eine Hierarchie der Werte, die mit Rahman zwischen „dem Allgemeinen“ (the general) – socioeconomic justice and essential human egalitarianism – und dem kontingenten soziohistorischen Kontext unterscheidet und es ermöglicht, durch ein induktives Verfahren eine Anzahl von „mit den Quellen der Scharia kohärenten Prinzipien und Werten“ herausarbeiten. Die verfügbaren „Textbeweise“ bieten dabei, so ein Zitat aus einer Studie Saeeds, ein „hohes Maß an Sicherheit dafür …, dass das islamische Recht moderne Vorstellungen vom Recht des Einzelnen auf Glaubens- und Religionsfreiheit weitgehend schützt“ (179). Über die Wertehierarchie hinaus plädiert Saeed für ein erweitertes Offenbarungs- und Interpretationsverständnis, das der Interaktion der muslimischen Interpretationsgemeinschaft mit dem Korantext an element of revelatory authority zuschreibt, diese Autorität allerdings auf diejenigen beschränkt, die an die „Religionsfundamente“ (fundamentals of religion) glauben und sie umsetzen (206).

Anstelle einer vertiefenden und kritischen Reflexion dieser hermeneutischen Setzungen folgt eine Auseinandersetzung mit Saeeds reformorientiertem Zugang zur Beziehung zu den Nichtmuslimen: Saeeds „religionsverbindende Interpretationen“ ermöglichten es, so die Verfasserin, den Begriff islam nicht nur als „Hinwendung zum monotheistischen Gott“, sondern „in einem allgemeinen Sinn [als] die Haltung der Angehörigen der abrahamitischen Religionen“ (216) zu verstehen. Dass Saeeds Akzeptanz religiöser Vielfalt nicht jene religiösen Formationen (z. B. die Ostasiens) umfasst, die der Islam „als von nichtgöttlichen Quellen abgeleitet“ (derived from non-divine sources) betrachtet (224), wird von der Verfasserin zwar erwähnt, nicht aber in seiner erheblichen Spannung zu den Dialogofferten Saeeds problematisiert.

Im anschließenden, mit „Dialog durch Wahrheitssuche“ überschriebenen Kapitel 4 wirft die Verfasserin „eine christliche Sicht auf Abdullah Saeed“ und sucht in Anlehnung an den Jesuiten Jacques Dupuis (1923 – 2004) „auf der Grundlage einer inklusivistischen Perspektive eine dialogorientierte Haltung“ (235) zu entwickeln. Dupuis’ Begriff der christian evaluation zielt auf eine christliche Wertschätzung der göttlichen Offenbarung in anderen Religionen, die er als „authentische Manifestationen Gottes“ in das „Mysterium der vielfältigen geschichtlichen Mitteilungen Gottes an die Menschheit“ eingebettet sieht und denen er zugesteht, „einigen Aspekten des göttlichen Mysteriums“ noch „stärker“ und „lebendiger“ (237) Ausdruck zu geben, als dies in der christlichen Offenbarung geschieht. In Anknüpfung an Vertreter der komparativen Theologie plädiert die Autorin, nun mit Reinhold Bernhardt gesprochen, für „eine Selbstrelativierung der christlichen (Religions-)Theologie“, die zwischen den Glaubensinhalten der christlichen Tradition und einem verbindenden Glaubens- bzw. „universale[n] Seinsgrund“ unterscheidet und so „eine Offenheit für und eine Anerkennung von Gotteserfahrungen außerhalb des Christentums“ ermöglicht (246). Dabei wird die offenbarungstheologische und christologische Begründung des Dialogs von ihr nochmals pneumatologisch gestützt:

„Wer den Glauben des Anderen als authentisch betrachtet und überzeugt davon ist, dass der Heilige Geist auch im Anderen wirkt, ist gedrängt, in den Dialog mit ihm zu treten“ (256).

Programmatischer noch heißt es wenig später:

„Der Gedanke der Positionalität und der Kontingenz der eigenen Position und die Komplementarität der Religionen wird ergänzt durch die Unbegreifbarkeit des Mysteriums Gottes als gemeinsame Herausforderung und als Grundlage der gemeinsamen Wahrheitssuche im Dialog“ (259).

Kontingenz und Komplementarität, Unbegreifbarkeit und Gemeinsamkeit konvergieren hier mit- und füreinander zu einer Theorie des Dialogs, deren „regnozentrische Perspektive“ die Dialogpartner dazu einladen soll, „gemeinsam am Reich Gottes [zu bauen]“ (261). Auch das prozesshafte Offenbarungs- und Interpretationsverständnis des von Saeed repräsentierten Reformislam „konvergiert“, so die Verfasserin, „mit dem christlichen Offenbarungsverständnis und … mit der christlichen Begründung der Religionsfreiheit“ (265). Mit seinem Plädoyer „für ein gemeinsames, religionsübergreifendes Engagement“ zur Verteidigung der Menschenwürde (274) erweise sich Saeeds Ansatz zudem von einer „Suchdynamik“ geprägt, die in der Lage ist, Angehörige verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu einem gemeinsamen sozialpolitischen Handeln zu bewegen. Wenn nun die Autorin in eben diesem Zusammenhang, in dem religiöse oder weltanschauliche Begründungszusammenhänge keine prioritäre Rolle spielen, alsbald von der notwendigen Förderung eines „Dialog[s] der religiösen Erfahrung“ spricht, „der eine gegenseitige Bereicherung durch ein Teilen spiritueller Erfahrungen sucht“ und „die Überzeugung einer quasi präreflektiven Verbundenheit der Menschheitsgemeinschaft stärk[t]“ (277), wird deutlich, dass ihr ein „pragmatischer Inklusivismus“ (299), von dem sie an anderer Stelle spricht, entschieden zu wenig ist.

Im abschließenden Kapitel 5 zu den „Optionen für ein christlich motiviertes, dialogorientiertes Engagement“ plädiert die Verfasserin für eine notwendige theologische Vertiefung des Menschenrechtsansatzes, die getragen ist von der Überzeugung, dass „mit der Universalität und der Gleichheit … zwei sowohl für die christliche als auch für die muslimische Perspektive anschlussfähige Prinzipien vor[liegen], steht doch der Mensch mit seiner unverlierbaren Würde und seiner Freiheit im Mittelpunkt“ (297). Auch Saeeds Auffassung, dass „Rechte und Freiheiten auf dem Gerechtigkeitssinn aller Menschen basieren“ und die Interpretation der heiligen Schriften „durch die Erkenntnis übergeordneter Friedenswerte“ geleitet sei, bekräftige „die Begründung universaler Menschenrechte als moralischer Konsens“ (343) bzw. die Religionsfreiheit als „Ausdruck und zugleich Werkzeug der universalen Präsenz und des Wirkens des Geistes in anderen Religionen“ (348).

Zur Förderung säkularer Topoi wie der Menschenwürde und der Religionsfreiheit bedürfe es, so ließe sich die These der Studie auf den Punkt bringen, mehr als nur einer religiösen Begründung – ist doch „im islamischen Kontext … ein gesellschaftlich breit verankerter Einsatz für universale Menschenrechte ohne eine solche religiöse Begründung oder gar gegen die religiösen Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft nicht denkbar“ (347). „Um in pluralen Gesellschaften den Frieden zu sichern“, wäre zugleich eine interreligiöse Zusammenarbeit „notwendig“, entfalte diese doch „ein besonderes Potenzial im Einsatz für Religionsfreiheit“ (352). Eine Reflexion darüber, was dies für die Frage der Eigenständigkeit der säkularen Topoi oder besser: Errungenschaften der spezifisch modernen Rede von der unantastbaren Menschenwürde und der (als Abwehrrecht gegen den Staat und zugleich gegen jegliches Kollektiv formulierten!) individuellen (und nicht nur positiven) Religionsfreiheit bedeutet, bleibt leider aus bzw. außerhalb des Interesses der Studie. Wenngleich deren engagiertes Plädoyer für den interreligiösen Einsatz in Sachen Religionsfreiheit zweifellos zu würdigen ist, hätte diesem eine kritischere Differenzierung (z. B. der Konstruktionen von Religion und Säkularität), eine engere thematische Eingrenzung (z. B. des „Islam“) und schließlich eine wissenssoziologische Problematisierung strategischer Reformdiskurse (z. B. der Menschenwürde als the heart of Islamic law) noch mehr Gewicht verleihen können.


Rüdiger Braun, 05.01.2022