Alexander Benatar

„Reckless love of God“

Besuche der „Sunday Experience“ der Hillsong Church

Vor etwas über einem Jahr, in der Adventszeit 2019, lud eine Freundin mich ein, gemeinsam einen Gottesdienst der „Hillsong Church“ zu besuchen. „International und modern“ gehe es dort zu, schrieb sie mir. Es sei zwar eher wie ein Konzert und sehr „hip“, aber man könne dort mal so richtig nach Herzenslust singen. Ich hatte von Hillsong bereits gehört und war neugierig. Es sollte mein erster Besuch in einer der vornehmlich aus dem angelsächsischen Raum bekannten „Megakirchen“ sein, und gerade mit dem Namen „Hillsong“ verband sich – spätestens seit dem Eintritt des Popstars Justin Bieber in diese charismatisch-pfingstchristliche Gemeinschaft – ein gewisser Glamour-Faktor.

Gegründet 1983 in Australien, ist die Hillsong Church mittlerweile weltweit verbreitet. Sie ist vor allem für ihre charakteristische Lobpreis-Popmusik bekannt, die dank „Spotify“ und anderer Streaming-Dienste inzwischen auch eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen darstellt. In Berlin traf sich die Hillsong-Gemeinde bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie jeden Sonntag zu mehreren Gottesdiensten, sogenannten „Sunday Experiences“, in einem Kinosaal der „KulturBrauerei“ im Bezirk Prenzlauer Berg.

Eindrücke aus einem Gottesdienst in der Berliner „KulturBrauerei“ 2019

Aus eben den derzeit besonders unter jungen Leuten angesagten Berliner Bezirken wie Prenzlauer Berg, Mitte oder Kreuzberg schienen denn auch die meisten GottesdienstbesucherInnen zu kommen. Die Gemeindemitglieder, die mich an diesem Sonntag im Dezember mit einem breiten Lächeln und selbstverständlich auf Englisch begrüßten, waren allesamt um die 30 Jahre alt, oftmals aus dem Ausland zugezogen und standen frisch im Berufsleben – sie entstammten genau jener Klientel, deren Austritt aus unserer urbanen landeskirchlichen Gemeinde wir im Kirchenvorstand allmonatlich „mit Bedauern zur Kenntnis nehmen“ mussten. Hier waren sie also, oder zumindest Menschen wie sie, und strömten zu Hunderten, vorbei an Stehtischen mit ausliegenden Hillsong-Flyern mit Beitrittsanträgen und Spendenaufrufen, in den großen Kinosaal. Und das jeden Sonntag in mehreren Gottesdiensten!

An meinem Platz angelangt, fühlte ich mich tatsächlich wie in einem Popkonzert. Vor der Kinoleinwand spielte eine Band auf, das sogenannte „Worship Team“, um für die richtige Stimmung zu sorgen. Bei den BesucherInnen, von denen einige wenige Stunden zuvor vielleicht noch in einem Berliner Club gefeiert hatten, kam das sehr gut an. Fast alle standen, viele hoben die Hände zum Lobpreis und sangen die eingängigen Hillsong-Lieder mit, deren Texte hinter der Band an die Leinwand projiziert wurden. Es herrschte eine ansteckende Konzertatmosphäre. Ich fühlte mich wie bei einer Art christlichem Rave.

Unterbrochen wurden die Lieder von Gebeten, die von einem jungen Mann in Jeans und T-Shirt in ein Mikro gesprochen und vom Publikum mit einem gemeinsamen „Amen!“ quittiert wurden. Irgendwann erfolgte die Predigt („Word of God“) des leitenden Berliner Hillsong-Pastors Mark Wilkinson – selbstverständlich in seiner englischen Muttersprache. Gott liebe uns, Jesus liebe uns, was für ein Wunder und Zeichen der Hoffnung das sei, rief er uns zu und unterlegte seine Botschaft immer wieder mit passend ausgewählten Bibelversen. Seine Predigt dauerte etwa 20 Minuten, musikalisch untermalt durch den Gitarristen des Worship-Teams. Gegen Ende wurde seine Ansprache eindringlicher, gebetsartiger, die Musik lauter. Beim Blick über die Schulter zeigte mir ein „Sermon Count Down“ an der Rückwand, dass die scheinbar so natürlichen liturgischen Übergänge offenkundig einer strengen Choreografie folgten.

Parallel zu Eingangsmusik, Gebeten und Predigt verteilten die allesamt jungen GottesdiensthelferInnen zu bestimmten Zeitpunkten zunächst Mitgliedsanträge in Postkartengröße, die einen Beitritt zu Hillsong ähnlich einfach erscheinen ließen wie den Erwerb einer H&M-Kundenkarte – mit dem Unterschied, dass Mitglieder bei Hillsong keinen Rabatt bekommen, sondern der Kirche idealerweise ein Zehntel ihres Gehalts spenden sollten. Später sammelten sie in kleinen Plastikeimern Spenden, zur Finanzierung des „Kindness Project“, bei dem Hillsong-Mitglieder Weihnachtsgeschenke an Bedürftige verteilen.

Gegen Ende dieser „Sunday Experience“ wurden die Neu-Mitglieder der letzten Woche zu ihrer „Decision for Christ“ beglückwünscht, und zwei Elternpaare ebneten ihren Säuglingen bei einer „Baby Dedication“ den Weg in die Hillsong-Gemeinschaft. Wie zuvor in der Predigt mit Blick auf die Geburt Jesu pries der Pastor Babys dabei als ein Geschenk und klagte darüber, dass die bevorstehende Geburt eines Kindes von vielen Menschen heutzutage doch eher als Last denn als Grund zu Freude und Hoffnung empfunden werde. Offenbar ein Votum gegen Abtreibung und für die traditionelle Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern. Zeigte sich hier nun der traditionalistische, wahre Kern hinter der modernen Fassade von Hillsong? Und wenn ja – wer waren die Adressaten dieses Appells? Sollten die anwesenden Berliner Hipster gegen Abtreibung als mögliche „Lösung“ unerwartet verlaufener Partynächte eingenommen werden? Oder ging es eher um die (Selbst-)Bestätigung der Werte eines ohnehin familien- und kinderaffinen „Prenzlberg“-Milieus? Oder aber übertrug ich an dieser Stelle lediglich gängige Vorurteile auf Hillsong, wonach es sich bei „Evangelikalen“ ausnahmslos um homophobe Abtreibungsgegner handelt? Ich war mir nicht sicher.

Auch nicht sicher war ich mir hinsichtlich der Frage, warum sich bei mir nach dem Besuch subjektiv kein wirkliches „Gottesdienstgefühl“ einstellen wollte. Irgendwie wirkte das Ganze auf mich eher wie eine gut choreografierte, hedonistische Show, eher wie ein Cold-Play-Konzert als wie eine Gelegenheit zur Besinnung und ethischen Selbstvergewisserung. Vielleicht waren es auch das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, das Abendmahl oder auch der Segen, die mir fehlten? Aber natürlich sind die individuellen Ansprüche an einen Gottesdienst bei den Menschen sehr verschieden. Und offensichtlich macht Hillsong irgendetwas richtig, was den Landeskirchen, in denen auch ich mich engagiere, nicht so gut gelingt. Die jungen Menschen um mich herum schienen erfüllt – und auch wenn ich mich in dieser „Sunday Experience“ kaum beheimatet fühlte, sollten einige der Hillsong-Lieder mir noch sehr lange in den Ohren klingen: eingängige Melodien und Texte, in deren Refrains man schon beim ersten Besuch problemlos einstimmen konnte, um sich dem Chor der anderen anzuschließen, die mit geschlossenen Augen sangen: „… and oh, the overwhelming, never-ending, reckless love of God!“

Eindrücke aus einem pandemiebedingten Online-Gottesdienst 2020

Ein Jahr später, im Advent 2020, besuchte ich erneut einen Hillsong-Gottesdienst. Inzwischen hatte die zweite Welle der Corona-Pandemie das Land fest im Griff. Bereits seit Monaten fand Hillsongs „Sunday Experience“ nicht mehr in der „KulturBrauerei“ statt, sondern wurde auf der Videoplattform YouTube als „Online-Stream“ bereitgestellt. Aufgrund einer außerehelichen Affäre war vor wenigen Wochen der New Yorker Hillsong-Pastor Carl Lentz, ausgerechnet jener, der im Jahr 2014 Justin Bieber in die Gemeinschaft eingeführt hatte, vom Dienst suspendiert worden.

Die Online-Begrüßung erfolgte durch eine begeisterte junge Frau mit Wollmütze: „This week is going to be sooo good!!!“ – angesichts täglich steigender Infektionszahlen wirkte der Enthusiasmus diesmal doch etwas gewollt. Wie im Vorjahr bildeten musikalische Einlagen des „Worship Teams“ den Auftakt, das u. a. eine Popversion des bekannten englischen Weihnachtslieds „Joy to the world“ spielte. Wieder wurde das „Kindness Project“ beworben, für das man über die „Hillsong Giving-App“ oder per PayPal spenden konnte. Wieder gab es eine Predigt von Mark Wilkinson, der die Weihnachtsbotschaft diesmal mit dem Stichwort „Love is action“ zusammenfasste. Wieder bemühten sich alle Beteiligten darum, möglichst nah an den Bedürfnissen ihres jungen Berliner Publikums zu bleiben. Für gesunde Großelternbesuche zu Weihnachten wurde ebenso gebetet wie für eine erfolgreiche Wohnungssuche auf dem angespannten Berliner Immobilienmarkt. Und dennoch: Es fehlte die ansteckende Konzertatmosphäre der Live-Performance, ein wirkliches Gemeinschaftsgefühl wollte sich bei mir, allein vor dem heimischen Bildschirm, nicht so recht entwickeln.

Vielleicht schlug sich dieser Mangel an Live-Atmosphäre auch in den – verglichen mit dem großen Besucherandrang im Kinosaal – relativ geringen Klickzahlen des YouTube-Streams nieder? Es würde mich schon interessieren, ob Hillsong in der Corona-Krise ebensolche Zuwächse verzeichnen kann wie vor der Pandemie. Und ob viele Menschen dem Aufruf der jungen Frau folgen: „If you have decided to follow Jesus today, click the link below!“


Alexander Benatar, 05.01.2021