Anja Gundelach

Notizen zum Schamanismus

Ein spiritueller Weg der Verbindung zur Erde und zur geistigen Welt

Bewusstseinstechniken, die sich auf den Schamanismus berufen, werden heute auf dem Markt spiritueller Lebenshilfe häufig eingesetzt. Mittels Trance-Ritualen soll es möglich sein, einen veränderten Bewusstseinszustand herzustellen und sich auf eine Seelenreise in die Geisterwelt zu begeben. Von der Begegnung mit jenseitigen Wesen wird Rat und Hilfe zur Problembewältigung erwartet. Im Rahmen einer EZW-Fortbildungstagung für die Beratungsarbeit bei Weltanschauungsfragen im Februar 2012 stellte die Leiterin eines schamanischen Zentrums die Heilkraft schamanischer Rituale dar. Wir dokumentieren hier ihren Impulsvortrag. Informationen über die Hintergründe dieses Weltbilds sind im Stichwort „Schamanismus“ in MD 4/2012, 153-157, zu finden.


Ursprünge

Der Schamanismus ist schon mehr als 26 000 Jahre alt. Er bildet den Beginn der menschlichen Suche nach Kontakt mit dem Göttlichen, noch vor der Ausbildung der großen monotheistischen Religionen wie Judentum, Islam und Christentum. Er stammt aus der Zeit der Jäger und Sammler, als für die Menschen die Verbindung zur Erde, zu den Tieren und Pflanzen und zu den Sternen unabdingbar war, um zu überleben. Feuer und Wasser, Wind und Sonne, all diese Elemente waren für die Menschen jener Zeit lebendige Kräfte, die verehrt und mit Gaben bedacht werden mussten. Der Mensch empfand sich noch nicht als Krone der Schöpfung, sondern als ein untergeordneter Teil im großen Kräftespiel des Universums.

Der Schamane war dabei der Vermittler zwischen der menschlichen und der geistigen Welt. Er kannte sich genau mit den Kräften der Natur aus, konnte aus ihnen seine Schlüsse ziehen und sie gegebenenfalls beeinflussen. Er konnte Wolken zusammenrufen, wenn es regnen sollte, oder sie zerstreuen, wenn eine ruhige See zum Fischen gebraucht wurde. Er sorgte für das Geschick seines Stammes auf der Erde und beim Tod Einzelner für den Übergang der Seelen in die himmlische Welt. Es gab – und gibt bis heute bei Naturvölkern wie z. B. den Huichol in Mexiko – Wetterschamanen und Wasserschamanen, Seelenführer, Propheten und weitere Spezialisierungen, je nach den Erfordernissen des Ortes. Der Schamane gab sein Wissen zu Lebzeiten an seine Tochter oder seinen Sohn weiter oder an ein Clanmitglied mit besonderen Begabungen.

Schon mit der Sesshaftigkeit des Menschen und der Entwicklung der Landwirtschaft ließ die enge Verbindung des Menschen mit der ihn umgebenden beseelten Natur nach. Im Zuge der sich spezialisierenden und diversifizierenden Gesellschaften verschmolz der Schamanismus nach und nach mit neuen Religionen, koexistierte mit ihnen oder wurde von ihnen verdrängt. In Europa kann man, glaube ich, sagen, dass in den 400 Jahren der Inquisition traditionelles, mündlich überliefertes Geheim- und Heilwissen nahezu ausgerottet wurde. In vielen traditionellen Kulturen in Amerika, Afrika und Asien sind Elemente des Schamanismus nach wie vor lebendig und werden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Je nach den örtlichen und kulturellen Gegebenheiten weisen sie sehr unterschiedliche Prägungen auf.

Neoschamanismus

Seitdem der Ethnologe Carlos Castañeda in den 1960er Jahren bei dem mexikanischen Schamanen Don Juan in die Lehre ging und mit seinen Büchern darüber weltberühmt wurde, haben sich viele Menschen aus den industrialisierten Ländern aufgemacht, um bei traditionellen Schamanen von Naturvölkern in aller Welt zu lernen, mit dem Ziel, schamanisches Wissen, vor allem Heilwissen, wiederzugewinnen und für unseren Kulturkreis zugänglich zu machen. Bei dieser Transposition von schamanischen Elementen von einer Kultur in eine andere wurde allerdings der Schamanismus, der auf einem völlig anderen Weltbild basiert, auf einige wenige Fragmente reduziert, die mit dem westlichen Lebensstil vereinbar sind. Damit meine ich z. B. Techniken, die sich therapeutisch für das Individuum nutzen lassen.

In diesem Sinne wirkt seit den 1970er Jahren weltweit die amerikanische „Foundation for Shamanic Studies“ (www.shamanism.org), gegründet von Michael Harner. Dieses Institut gibt vor, von Schamanen aus aller Welt die Essenz herausgefiltert zu haben, und bietet dieses sogenannte „universelle“, d. h. von kulturellen Eigenarten gereinigte Basiswissen in Form von Workshops und Weiterbildungen an. Wer eine solche Ausbildung absolviert hat, nennt sich gemeinhin „schamanisch Praktizierender“ und bietet schamanische Heiltechniken im Verein mit allen möglichen anderen Verfahren wie Energiearbeit, Reiki oder sogar Coaching an.

Etwas anders verhält es sich bei dem ebenfalls sehr bekannten Kubaner Alberto Villoldo mit seiner „Four Winds Light Body School“ (www.thefourwinds.com), der bereits recht bekannte Praktiken aus der Energiemedizin mit schamanischen Elementen mischt, die er allesamt von südamerikanischen Schamanen erhalten haben will. Zum Abschluss der Ausbildung nimmt er die Europäer mit auf eine „Expedition“ in die Anden, wo sie von den Ureinwohnern eine Initiation erhalten.

Der Verdienst dieser Institute ist, bestimmte schamanische Techniken wie Trommeln, Trancereisen oder Schwitzhütten einer breiten Masse von Menschen zugänglich gemacht zu haben. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass viele Menschen Schamanismus nun mit einer Ausbildung verwechseln, die man nach kürzester Zeit gewinnbringend vermarkten kann. Ein solcher Neoschamanismus reicht jedoch kaum tiefer als bis zur Wellnessebene. Er verliert nicht nur die ihm wesentliche unzivilisatorische Kantigkeit, sondern verschwindet auch als spiritueller Weg mit enormem transformatorischem Potenzial. Während sich einige Völker in Nord- und Südamerika der Wissbegierde westlicher Menschen geöffnet haben und ihnen Einblicke in ihre Kosmologie gewähren, weil sie erkannt haben, wie heilsbedürftig alle Menschen sind, kämpfen andere indigene Gruppen gegen die kulturelle Ausbeutung ihrer Traditionen.

Schamanismus als spiritueller Weg

Schamanisches Wissen ist größtenteils Geheimwissen und wird nur an Adepten dieses mühevollen Weges weitergegeben. Ein heiliges Buch mit den grundlegenden und autorisierten Überlieferungen wie die Bibel bei den Christen gibt es nicht. Schamanismus kennt keine Doktrin, Dogmen und Institutionen. Er ist vielmehr ein lebendiges Gebilde aus Zeremonien, Liedern, Mythen und Geschichten, dessen Inhalt sich im Verlauf der Zeit und durch die Menschen, die ihn praktizieren, immer wieder erneuert. Dazu kommt ein Kompendium aus den verschiedensten Lehren, das allen Menschen zur Verfügung gestellt wird. Ziel ist, den Menschen wieder in Kontakt mit seinem Geist zu bringen und ihn zu befähigen, das Leben auf dieser Erde ganz zu bejahen.

Die Wandelbarkeit des Schamanismus besteht darin, dass er anerkennt, dass jeder Mensch seine eigene Art hat, sich spirituell zu entfalten. Schamanische Praktiken möchten jeden Menschen darin unterstützen, seinen eigenen, ganz persönlichen Weg zum Göttlichen zu suchen, zu entdecken und zu leben. Schamanismus schreibt niemandem vor, was er glauben soll, sondern eröffnet jedem Menschen die eigene Wahrnehmung des Göttlichen in Form von direkten Erfahrungen. Insofern ist er keine Religion, die jemanden mit bestimmten Glaubensbekenntnissen konfrontiert, sondern eine Lebenshaltung. Deshalb reden wir auch lieber von einem schamanischen „Weg“ als von schamanischen Konzepten, denn der Weg beinhaltet auch das Gehen auf ihm, also die allmähliche Entwicklung.

Der schamanische Weg als spirituelle Praxis ist zugleich ein Prozess der Selbstentfaltung. Es geht darum, die innersten Überzeugungen zu erkennen und dann auch in die Tat umzusetzen. Andererseits ist es auch ein Weg, der das Ego, das sich selbst ins Zentrum stellt, immer wieder zerbricht, denn zur spirituellen Entwicklung gehört auch zu begreifen, dass wir wieder mehr in und als Gemeinschaft leben müssen. Der partikuläre Wille und das Wohl aller müssen nicht im Gegensatz zueinander stehen. Der schamanische Weg nimmt jeden Einzelnen in die Selbstverantwortung, denn trotz der Bemühungen, mehr in Übereinstimmung mit dem großen Ganzen zu leben, ist der Mensch aufgerufen, mit Intention, d. h. zielgerichtet zu leben. Welches diese Intentionen sind, bestimmt nur er selbst. Verwirklichen sie sich leicht, stehen sie in Übereinstimmung mit dem Kosmos; bauen sich mehr Hindernisse auf, als ein Mensch überwinden kann, sollte er vielleicht seine Intentionen ändern. Er hört damit auf, sich als Opfer der Verhältnisse zu empfinden, und nimmt sein Leben in die Hand. Durch Zeremonien und die tägliche spirituelle Praxis lernt er, dass sein eigener Beitrag zum Leben unverzichtbar ist, andererseits aber auch schon sein bloßes Dasein genügt, um vom Leben getragen zu werden. Aus schamanischer Perspektive ist es ein Menschenrecht, zu Lebzeiten in irgendeiner Art von Schamanismus unterwiesen zu werden, d. h. zu erfahren, wer wir sind, woher wir kommen und was unsere Aufgabe in diesem Leben ist.

Körper, Seele und Geist des Menschen

Das schamanische Weltbild ist komplex und schwer durchschaubar, denn es zählt kein theoretisches, sondern nur das gelebte Wissen, die eigene Erfahrung. Als schamanisch Praktizierende kann ich daher auch nur das wiedergeben, was ich im Laufe der Jahre so weit, und unter Vorbehalt, begriffen habe.

Der Schamanismus begreift alles Lebendige als temporäre materielle Ausformung von Energien und Kräften aus dem Universum hier auf dieser Erde. Demnach sind wir geistige, multidimensionale Wesen, die eine Erfahrung mit der Erde, d. h. mit der Materie machen. Dem Schamanismus zufolge besitzen wir nicht nur eine Seele, sondern diese Seele trägt die Information des Geistes, d. h. einer bestimmten Frequenz, die womöglich von einem anderen Stern oder aus einer anderen Dimension stammt. Dieser Geist versetzt die Seele in eine bestimmte Schwingung, mit der sie sich wiederum im Laufe vieler Leben verkörpert, um Erfahrungen mit der Erde zu machen. Die Seele speichert die Erfahrungen jedes Lebens und prägt damit auch die Ausformung des folgenden Körpers und des zugehörigen denkenden Bewusstseins. Mit jedem Körper, den unsere Seele erhält, wird der Lernprozess fortgesetzt, den Geist und die damit verbundenen Gaben wieder zu erinnern und Traumata aus vergangenen Leben aufzulösen. Mit der Entwicklung der Seele kann der Geist mit seinem spezifischen Wissen, Talent oder Beitrag für die Erde immer weiter zutage treten, bis er sich komplett entfaltet hat. Danach verabschiedet er sich von der Erde und kehrt als reine Energie wieder zu seinem Ursprungsort zurück.

Als Menschen sind wir – ist unser Geist – mit der Begrenzung durch die Materie konfrontiert, mit der Dualität des Denkens, das in Gegensätze unterteilt, also in gut und böse, schön und hässlich, gesund und krank etc. Auf der Ebene unseres Geistes hingegen sind wir stets eins mit uns selbst und allem anderen. Insofern ist unser Geist immer heil und rein, lediglich die Seele hat im Laufe ihrer Verkörperungen Verletzungen erfahren. Psychische oder körperliche Krankheit sind im Schamanismus Anzeichen für die Abwendung eines Menschen von seinem Geist und seiner ursprünglichen Aufgabe, mit der er auf die Erde gekommen ist. Den eigenen Geist zu bejahen, das eigene Leben, gleich unter welchen Umständen, voll anzunehmen und den eigenen Beitrag auf dieser Erde zu leisten, bedeutet hingegen Heilung und bewirkt Freude. In der Seele des Menschen die Erinnerung an die Möglichkeit des Einsseins mit sich und allem anderen zu wecken, ist die Aufgabe des Schamanen.

Der Schamane

Ein Schamane ist jemand, der durch jahrzehntelange Übung und lebenslanges Engagement bereit ist, als Vermittler zwischen der irdischen und der geistigen Welt tätig zu werden. Er kennt sich aus in dieser irdischen, materiellen, dualen Welt, aber auch in der anderen, ewigen, unendlichen Welt des Kosmos. Er hat gelernt, was Kraft ist, woher sie stammt, wie man sie sammelt, ausrichtet und damit Veränderungen bewirkt. Er gewinnt diese Kenntnisse, indem er sich in tiefe Trancezustände begibt, dabei sein kulturelles Gepäck, ja seine Identität ablegt und in einem Zustand totaler Neutralität von einem anderen Ort als dem des denkenden Bewusstseins auf etwas schaut. Die meisterliche Beherrschung seiner Trance zeigt sich darin, dass er die erhaltenen Eindrücke, Bilder, Symbole, Bewegungen und Laute mit zurück ins Alltagsbewusstsein bringen und in unsere Sprache übersetzen kann. Auch Träume geben ihm Auskunft über Zusammenhänge des Lebens, und er lässt sich von ihnen leiten. Darüber hinaus begibt er sich willentlich oder gezwungenermaßen immer wieder bis an die Schwelle des Todes, um die jenseitige Welt zu erfahren. Während er diese – manchmal extremen – Grenzerfahrungen macht, begegnet er geistigen Kräften oder Wesenheiten, mit denen er im Laufe der Jahre eine besondere persönliche Verbindung aufbaut. Das sind die Erde selbst, Naturkräfte, aber auch die eigenen Vorfahren und andere geistige Helfer. Mit ihnen steht er durch Gaben und Gebete in ständigem Austausch. Von ihnen wird er nach und nach in das Wissen über Leben und Tod eingeweiht, empfängt Zeremonien und Heilungen, aber auch Aufgaben, die er zum Wohle der Erde und der Menschen ausführen muss. Je stärker und vollständiger seine Verbindung zur unsichtbaren Welt ist, desto größer ist die Macht des Schamanen. Seine Geister stehen ihm zur Seite, wenn er anderen Menschen helfen will. Je weiter er auf seinem Weg fortgeschritten ist, desto mehr wird er sehen können, was „ist“, und andere Menschen von ihren Täuschungen über sich selbst und die Natur des Lebens befreien können.

Die Zeremonie

Die Zeremonie bildet die Grundlage der schamanischen Arbeit. Auch eine Zeremonie ist ein lebendiges Gebilde, das sich bei jedem Schamanen unterscheidet und mit fortschreitender Entwicklung des Ausführenden verändert. Insofern ist eine Zeremonie kein magisches Ritual, das einfach wiederholt oder gar kopiert werden könnte. Durch die äußerst genaue Anordnung von Pflanzengaben und Gegenständen, sogenannten Kraftobjekten, auf einem Tuch und das Sprechen von Gebeten erschafft der Schamane einen heiligen Raum. Dieser Raum bildet zugleich ein Zentrum des Hier und Jetzt, in dem die Verbindung zur geistigen Welt hergestellt und Einheit mit dem Göttlichen erfahren werden kann. Die Heiligkeit des Raums ist in der Regel auch für unerfahrene Menschen deutlich spürbar, meist als große innere Ruhe, dem Gefühl, „zu Hause“ anzukommen, oder auch als große Sehnsucht, in diesem Raum zu verbleiben. In dem nach allen Seiten hin offenen und doch geschützten Raum schickt der Schamane seine Intention, also sein spezifisches Gesuch für diese Zeremonie auf der Suche nach Resonanz aus. Hinter der Intention fließt Kraft, die dann zur Veränderung und Heilung genutzt werden kann.

Die Verbindung zur Erde

Schamanismus kann sich nur in seiner ganzen Kraft entfalten, wenn er in der Natur ausgeübt wird. Ein wesentlicher Bestandteil schamanischer Spiritualität ist ja, unser Leben auf diesem Planeten zu bejahen. Die für Veränderungen benötigte Kraft stellt die Erde bereit, sie ist unsere wichtigste Kraftquelle. Deswegen wird sie respektvoll „Mutter Erde“ genannt. Es gibt Gruppenzeremonien, die mit mehreren oder vielen Menschen mit einer gemeinsamen Intention durchgeführt werden, z. B. Schwitzhütten oder Sonnwendfeiern. Sie dienen in erster Linie dem Ausgleich bestimmter Aspekte der Erde und erst in zweiter Linie der Heilung der Teilnehmer (auch wenn das viele von ihnen gar nicht wissen). Längere Aufenthalte in der Natur in Form von mehrtägigen bis mehrwöchigen Camps, Initiationen und Visionssuchen dienen dazu, die mediale Überreizung des modernen Lebens abzubauen, mit Einschränkungen klarzukommen, die Wahrnehmung für subtilere Vorgänge zu öffnen und wieder zu lernen, in der Gruppe füreinander da zu sein.

Da aber gerade Städter nur selten bereit sind, die Komfortzone geheizter Räume und leicht erreichbarer Orte zu verlassen, besteht daneben die Möglichkeit, einen Schamanen für eine persönliche Heilung in einer Einzelzeremonie aufzusuchen. Hier geht der Schamane in Trance und nimmt Kontakt mit dem Geist des Klienten auf. Mithilfe seiner Verbindungen stellt er fest, was die Person eigentlich braucht bzw. was ihr fehlt, um das Leben, das sie sich wünscht, zu realisieren. Aus den erhaltenen Auskünften bildet sich dann die Choreografie der weiteren Zeremonie. Manchmal muss die Person etwas Bestimmtes tun, manchmal kann es der Schamane für sie tun. Oft geht es darum, die Person in Kontakt mit ihrem Geist zu bringen und sie wieder spüren zu lassen, wer sie ist. Sehr häufig braucht ein Klient ganz dringend selber eine Erfahrung des Einsseins in der Trance, um zu sich selber zu kommen. In jedem Fall wird eine Veränderung gleich in der Zeremonie eingeleitet und mit dem Klienten ein erster Schritt getan. Das erleichtert es ihm, diese Veränderung auch im Alltag weiterzuführen.

Kann ein moderner Mensch Schamane werden?

Zum Schluss möchte ich mich der Frage widmen, ob es einem Angehörigen moderner Industrienationen möglich ist, Schamane zu werden. Ich rede hier nicht von den oben beschriebenen Neo- oder Wohnzimmerschamanen, sondern vom traditionellen Schamanen mit seiner Fähigkeit, Kräfte zu lenken und als Vermittler der geistigen Welt zu dienen. Dazu muss an dieser Stelle sehr deutlich gesagt werden, dass zwar jeder den Ehrgeiz entwickeln und anstreben kann, diese Rolle zu übernehmen; letztlich erwählt und in die Pflicht genommen wird man aber durch die geistige Welt. Zwar helfen die Bemühungen und die Bereitschaft, eigene Überzeugungen und die eigene Lebensweise ständig zu verändern, um die Verbindung zur geistigen Welt zu stärken. Doch die dazugehörigen extremen Grenzerfahrungen und Prüfungen, die Überwindung der eigenen Ängste bis hin zu der Angst vor dem Tod, das „Getestetwerden“ durch die Geister, haben sich seit Beginn unserer menschlichen Existenz auf Erden nicht wesentlich geändert. Wer von den Geistern einmal beauftragt wird, ihr Sprachrohr zu werden, kann dann auch nicht mehr nein zu ihnen sagen. Eine solch weitreichende Übernahme von Verantwortung gilt lebenslang und womöglich darüber hinaus. Insofern ist wohl kaum ein Mensch dazu befähigt, die oftmals gesellschaftlich isolierte, archaisch anmutende, nur vom Notwendigen bestimmte (Über-)Lebensweise eines Schamanen auf sich zu nehmen. Trotzdem kenne ich einige wenige Menschen aus dem westlichen Kulturkreis (nicht aus Deutschland), die genau so leben und zu Recht als Schamanen bezeichnet werden dürfen. Von einer solchen Schamanin lerne ich selbst seit zehn Jahren traditionellen Schamanismus und werde nach und nach mit den Anforderungen dieses Weges konfrontiert.

Doch trotz der Unwägbarkeit, wie viele Schritte jemand zu gehen vermag, möchte ich jeden Menschen, unabhängig von seiner Herkunft und Religion, ermutigen, sich für schamanische Praktiken zu öffnen und Heilung an Körper und Seele zu erfahren. Denn je mehr Menschen wieder von ihrem Herzen aus schauen können, in den Zustand der Dankbarkeit kommen und Vertrauen in die Kraft und Weisheit des Lebens fassen, desto besser werden sie auch ihren eigenen Weg gehen, sich als Teil einer Gemeinschaft begreifen und dazu beitragen, dass für uns alle ein gutes Leben auf diesem Planeten möglich wird.


Anja Gundelach, Berlin