Martin Fritz

Naturalistische Heilsversprechen

Eine Auseinandersetzung mit der Lebensauffassung des „evolutionären Humanismus“

Der unüberschaubare Markt der populären Lebenshilfe- und Lebenskunstliteratur schöpft aus verschiedenen Quellen: In den einschlägigen Buchhandlungsregalen stehen psychologische, philosophische, religiöse und esoterische Ratgeber schiedlich-friedlich nebeneinander. Oftmals mischen sich in den Werken des Genres auch unterschiedliche Orientierungsperspektiven. Aber eines ist allen gemein: Ob ausgesprochen oder unausgesprochen, ob mehr bewusst oder mehr unbewusst – immer liegt dem Rat für die Lebensführung eine (mehr oder weniger) bestimmte Weltanschauung zugrunde. Denn die Weise, wie ich mein Leben führe, hängt immer von einer Gesamtsicht von Welt und Leben ab, die dafür gleichsam den Rahmen bildet.

Im Jahre 2019 erschien bei Piper ein Buch von Michael Schmidt-Salomon mit dem verheißungsvollen Titel „Entspannt euch! Eine Philosophie der Gelassenheit“, das der besagten Literaturgattung zuzurechnen ist. Es hatte offenbar beachtlichen Erfolg, denn in kürzester Zeit wurde es mehrfach aufgelegt (auch als Taschenbuch), und der Verlag bietet es sogar als Hörbuch an.1 Der Untertitel verrät die Untergattung dieses Lebenskunstbuches: Es tritt mit philosophischem Anspruch auf. Und auch der weltanschauliche Standpunkt ist bei diesem „Weisheitsbuch für das 21. Jahrhundert“ (Klappentext) schon dem freundlich hellbauen Umschlag zu entnehmen. Der „bekannte Philosoph“ (Klappentext), aus dessen Feder es stammt, ist als langjähriger Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) tatsächlich kein Unbekannter, sondern „in Presse, Funk und Fernsehen“ (Klappentext) seit Jahren präsent.2 Das besagte Amt verrät, welche Art von Philosophie das weltanschauliche Fundament des Buches abgibt – und hier liegt seine Besonderheit: Es ist die Weltsicht des von der gbs vertretenen säkularen Humanismus, dessen Potenzial als Wegweiser zu einem gelasseneren Leben vorgeführt werden soll. Genauer gesagt handelt es sich um einen Lebensratgeber aus der Perspektive des „evolutionären Humanismus“, den Schmidt-Salomon im Einklang mit der gbs seit Jahren propagiert. Das weckt Neugier. Welchen Rat, welche Weisheit für das Leben hat diese Weltanschauung zu bieten? Wie kann sie zu mehr Gelassenheit verhelfen?

„Evolutionärer Humanismus“ als Lebensanschauung

Aber zuerst ist kurz zu klären, was sich hinter der Positionsbezeichnung „evolutionärer Humanismus“ verbirgt. Im Kern handelt es sich um einen radikalen Naturalismus, der alles Sein in der Welt als geschlossenes System von naturgesetzlich-kausal ablaufenden Prozessen versteht.3 Abgesehen von dem damit verknüpften Atheismus bedeutet das für das menschliche Sein: Jedes der Naturseite des Menschseins entgegenstehende Prinzip, alles Geistige und / oder Seelische, jede emphatische Freiheit eines individuellen Ich wird im Namen einer rigorosen naturwissenschaftlichen Weltauffassung geleugnet. Dass wir uns gleichwohl tagtäglich als geistige und freie Wesen erleben, wird als List des menschlichen Gehirns zur Steigerung der Überlebensfähigkeit der Spezies begriffen: Unser Selbstbewusstsein als eigenständige, autonome Individuen verdankt sich einer „Konstruktionsleistung des Gehirns“ (27), das uns evolutionäre Vorteile verschafft.

„Um es noch etwas schärfer zu formulieren: Jenes ‚wundersame Ich‘, an das wir uns so verzweifelt klammern und das uns in der Regel als so ungeheuer bedeutsam erscheint, ist in Wirklichkeit bloß ein virtuelles Theaterstück, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird“ (29).

Auch die in unserem bewussten Leben stets in Anspruch genommene Willensfreiheit, die Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Wollens und Handelns zu wählen, wird im Rahmen dieser Ontologie der totalen Kausalität bestritten. „Ein solches ‚Anderskönnen‘ würde nämlich nichts weniger als einen Riss im universalen Kausalgefüge der Welt verlangen, also ein ‚unerklärliches Wunder‘, eine Wirkung ohne natürliche Ursache“ (30). Die totale Naturkausalität des Seins impliziert im Blick auf das Menschsein einen entschiedenen Determinismus.

Interessant an Schmidt-Salomons „Philosophie der Gelassenheit“ sind nun weniger die Bemerkungen zu den weltanschaulichen Grundannahmen als die Darlegungen zu deren Lebensführungsfolgen.4 Wie sollte die radikale Desillusionierung des traditionellen Menschenbildes, der vermeintlichen Sonderstellung als geistig-seelisches Selbst, eine „neue Leichtigkeit des Seins“ (9) begründen?Dass wir Menschen „nur aufrecht gehende Primaten“ (82) sind – sollte, wer zu dieser Ansicht gelangt, nicht eher über die Illusionshaftigkeit unseres Selbstbewusstseins erschaudern und an der Geist- und Sinnleere von Welt und Leben verzweifeln, die daraus resultieren?5

Eine prominente Weltanschauungsoption

Jene destruktive Schlussfolgerung zu widerlegen und stattdessen auch die lebenspraktische Tauglichkeit, ja Überlegenheit des „evolutionären Humanismus“ aufzuweisen ist das anspruchsvolle Programm von Schmidt-Salomon. Seine Äußerungen zum Thema haben insofern auch einen weltanschauungsapologetischen Zug. Daher ist das hier im Zentrum stehende Buch auch für Leserinnen und Leser interessant, die seine weltanschaulichen Prämissen nicht teilen: Es fordert zur philosophischen Auseinandersetzung heraus.

Aber Schmidt-Salomons „Philosophie der Gelassenheit“ ist noch aus einem weiteren Grund relevant. Sie ist für alle von Interesse, denen am Verständnis ihrer Mitmenschen gelegen ist. Es ist ja keine ganz kleine Anzahl von Zeitgenossen, die sich vom klassisch „idealistischen“ Menschenbild im Zeichen naturwissenschaftlicher Rationalität abgewandt haben und sich infolgedessen im Wesentlichen als Komplexionen von Molekülprozessen und Nervenreizen meinen begreifen zu müssen – wenn auch kaum im unmittelbaren Leben, so doch in ihrer theoretischen Selbstbetrachtung, die dann eigentlich auf eine Selbst-Tilgung hinausläuft. Lässt es sich und wie lässt es sich mit einer derartigen naturalistischen Selbst-Verleugnung leben (und womöglich sogar gut)? Schmidt-Salomon will eine Antwort auf diese Frage geben.

Vor der kritischen Durchsicht seines Buches sei noch eigens angemerkt, dass sich Menschen, die sich selbst nach wie vor „idealistisch“ verstehen und von der Eigenständigkeit ihres geistigen Seins ausgehen, jede vorschnelle Überheblichkeit dem naturalistischen Standpunkt gegenüber versagen sollten. Denn es steht außer Frage, dass der Idealismus des Geistes unter den Bedingungen moderner Naturwissenschaft große Begründungsschwierigkeiten hat, weshalb er für manche aus durchaus „idealistischen“ Gründen der Wahrhaftigkeit und wissenschaftlichen Redlichkeit nicht mehr vertretbar erscheint. Wir leben in einer Zeit, in der keine Ontologie und mithin auch keine Anthropologie mehr selbstverständliche Geltung beanspruchen können. Jede Position steht in Spannung zu anderen Positionen und kann sich nur in solcher Spannung halbwegs behaupten.

Der Naturalismus ist also zwar keineswegs unser aller Schicksal; aber es gibt heute nicht wenige, denen er zum Schicksal geworden ist. Befeuert insbesondere durch die Etablierung der Hirnforschung ist er, meist durch populärwissenschaftliche und popularphilosophische Vermittlung, zu einem Massenphänomen geworden. Unter dezidiert naturwissenschaftlich orientierten Menschen dürfte er nachgerade zur mehr oder weniger selbstverständlichen Standardweltsicht avanciert sein. Auch wenn wir anders auf Welt und Leben blicken, schulden wir den betreffenden Zeitgenossen selbstverständlich Respekt – nicht zuletzt aufgrund ihres teils ausgeprägten Strebens nach Wahrhaftigkeit.6

Lebensweisung in acht Lektionen

Nun aber zur eigentlichen Frage: Gelingt es Schmidt-Salomon, ein positives Bild eines Lebens unter naturalistischen Bedingungen zu zeichnen, das in sich überzeugt? Zeigt er Wege auf, wie sich unter den Vorzeichen einer solchen anthropologischen Radikalernüchterung dennoch ein gutes, erfülltes Leben führen lässt? Der Autor entwickelt seine Gedanken dazu in acht „Lektionen“, die allesamt einfach, allgemeinverständlich und plastisch geschrieben sind.7 Ihr Ertrag lässt sich zusammenfassen wie folgt.

Lektion 1 und 2: Sobald wir einsehen, dass das, was uns ausmacht, nicht auf uns selbst zurückgeht, sondern auf ein „chaotische[s] Netzwerk von Milliarden und Abermilliarden Faktoren, über die wir keine Kontrolle hatten“ (18), werden wir von dem Hin und Her „zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und maßloser Selbstzerknirschung“ (18), werden wir von Stolz und Scham befreit. Der Abschied von unserem Selbst-Sein erweckt in uns Bescheidenheit und löst unsere Minderwertigkeitsgefühle auf – weil an diesem vermeintlichen Selbst gar nichts Eigenes ist. Und auch „unser Konzept von Schuld und Sünde, Lohn und Leistung“ (30) fällt dahin. Denn wenn all unsere vermeintlich freien Entscheidungen eigentlich kausale Folgen des je aktuellen „Hirnzustands“ (30) sind, so folgt daraus: „Du hattest gar nicht die Chance, die Fehler, die du in der Vergangenheit begangen hast, nicht zu begehen. Und du hattest auch nicht die Möglichkeit, die Leistungen, die du erbracht hast, nicht zu erbringen … Du hattest schlicht keine andere Wahl“ (31). Mit einem Wort: Der Determinismus befreit von der Last normativer Selbstbeurteilung.

Lektion 3 und 4:Sobald wir die Verliebtheit in unser „grandioses Selbst“ (44) aufgeben und uns „damit abfinden …, dass wir bloß diejenigen sein können, die wir unter den gegebenen Bedingungen sein müssen“ (43), werden wir unabhängig von der Anerkennung anderer und damit weniger kränkungsanfällig, dafür kritikfähiger. Und sofern wir die „Einsicht in die ursächliche Bedingtheit menschlichen Handelns“ (59) auf die anderen (Schein-)Selbste beziehen, werden wir ihnen gegenüber fähig zu Toleranz, Empathie und Mitleid. Jene Einsicht, für die als wichtigster Kronzeuge wiederholt Albert Einstein angeführt wird, befreit uns überdies aus der „archaischen Vergeltungslogik“ (68) und macht uns stattdessen bereit zur Vergebung – der und die andere hatten schließlich keine andere Wahl. Mit einem Wort: Der Selbst-Verzicht befreit uns von unseren Selbstbehauptungs- und Fremdverurteilungszwängen.

Lektion 5: Die Einsicht in die totale Bedingtheit des Handelns löst die moralische Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“ auf. Damit befreit sie uns von der ausgrenzenden, Hass und Unfrieden stiftenden Einteilung der Welt nach diesen moralischen Kategorien. Sie befreit überhaupt von aller „Moral“, von aller moralischen Beurteilung von Menschen, und führt stattdessen zu einer rationalen Menschheits-„Ethik“. Mit einem Wort: Die Selbst-Ernüchterung erlöst von „moralischer“ Selbstgerechtigkeit samt Fremdverurteilung und ermöglicht die nüchterne „ethische“ Berücksichtigung der Interessen anderer.

Lektion 6: Wer sich den kausalen Zusammenhang allen Seins im unendlich großen Universum vor Augen führt, dem erschließt sich (wie dem großen Vorbild Einstein) im Kosmos ein „neuer Zauber“ und damit ein Blick auf die Welt, der förmlich als „rationale Mystik“ oder „kosmische Religiosität“ bezeichnet werden kann (94). Das Wissen etwa, dass die Atome, aus denen sich unser Körper zusammensetzt, einst „intergalaktische Gaswolken und Sterne, Felsen, Vulkane, Ozeane [bildeten]“, dass sie „Bestandteile von Insektenflügeln, Fischkiemen, Dinosauriermägen und natürlich auch von unzähligen menschlichen Lebewesen“ waren und dass sie „selbstverständlich auch nach deinem Tod fortexistieren“ werden, um auch noch nach dem Sterben unserer Sonne „an der Bildung neuer Gaswolken, neuer Sonnen, neuer Planeten beteiligt [zu] sein“ (96f) – dieses Wissen kann nicht nur ein Staunen über diesen „realen Zauber des Kosmos“ (98) hervorrufen, sondern geradezu mystische Erfahrungen der Verschmelzung meiner selbst mit dem Ganzen. Mit einem Wort: Der Naturalismus hat bei aller harten Wissenschaftlichkeit auch eine eigene Art von Spiritualität zu bieten.

Lektion 7 und 8: Wem angesichts des unendlichen Kosmos einmal die Vergänglichkeit und die „kosmische Bedeutungslosigkeit der Menschheitsgeschichte“ (112) sowie im Besonderen die Vergänglichkeit und „kosmische Irrelevanz“ (113) des eigenen Daseins aufgegangen ist, muss dennoch nicht an der Sinn- und Wertlosigkeit seines Lebens verzweifeln. Denn wir sind – auch wenn es einen „Sinn an sich“ in dieser Welt der Atome nicht geben kann – dazu in der Lage, unserem Leben selbst einen „Sinn für uns“ zu geben (114) und auf diese Weise „eine kleine Insel des Sinns in diesem weitgehend sinnleeren Kosmos zu erschaffen“ (119). Und den „finalen Sinnverlust“ (116), der mit unserem Tod eintritt, müssen wir ebenso wenig fürchten wie den Tod selbst. „Gerade dadurch, dass du die Endgültigkeit des Todes akzeptierst, wirst du die eigentliche Bedeutung des Lebens erkennen … Nur weil das Leben endlich ist, ist es so unendlich kostbar“ (116). So genieße man das Leben mit seinem endlichen Glücks- und Sinnpotenzial, nach der epikureischen Maxime „Carpe diem“ (117; Horaz: „Pflücke den Tag“). Und was unseren Tod selbst betrifft, gilt ebenfalls nach wie vor das Wort Epikurs: „Wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr“ (106). Dennoch reicht die Bedeutung unseres Lebens sogar über unseren Tod hinaus, weil es Spuren in der Welt hinterlässt und im besten Falle am Fortschritt der Menschheit mitwirkt. Denn der „Glaube an eine bessere Zukunft“ (120) der Menschheit ist „erfreulicherweise keine Illusion“ (121), sondern aufgrund des Wachstums an wissenschaftlichen Errungenschaften gut begründet. Mit einem Wort: Die naturalistische Akzeptanz der radikalen Natürlichkeit und Endlichkeit des Lebens lässt Raum für Sinnstiftung und mithin für ideelle Lebensgehalte.

Probleme einer weltanschaulichen Radikaloption

Der Argumentationsgang von Schmidt-Salomons Buch wurde so ausführlich nachgezeichnet, weil darin der Horizont einer naturalistischen Lebensauffassung in wesentlichen Gesichtspunkten abgeschritten wird. Der Ratgeber kann insofern paradigmatischen Rang für sich beanspruchen. Einigen der vorgetragenen Motive wird man seine Sympathie kaum versagen können. Zum Beispiel ist gegen die „Einsicht in die ursächliche Bedingtheit menschlichen Handelns“ (59) an sich nichts einzuwenden, und auch den daraus abgeleiteten Appell, den Fehlern anderer so sehr wie den eigenen Mängeln mit einer gewissen Nachsicht zu begegnen, kann man aus der Perspektive christlicher Ethik durchaus teilen. Unser Sein und Handeln entspringt ja tatsächlich niemals in Gänze der eigenen Freiheit, sondern ist immer abhängig von gegebenen Bedingungen, für die wir nicht verantwortlich sind.8 Stellen wir diese Bedingtheit in Rechnung, können wir empathischer und nachsichtiger gegenüber uns und anderen werden. Denn es ist ja schon was dran: „Letztlich versuchen wir doch alle bloß, mit dem Leben“ – man ergänze: und den Bürden, die es uns auferlegt – „irgendwie zurechtzukommen!“ (135)

Problematisch wird der Gedanke der ursächlichen Bedingtheit erst durch seine Radikalisierung zur Behauptung der totalen Bedingtheit. Die weltanschauliche Option des entschiedenen Naturalismus / Determinismus hat zweifelsohne den Vorteil jeder Radikalität: Sie bietet eine eindeutige und insofern einfache Antwort auf hochkomplizierte Fragen. Aber die gewonnene Eindeutigkeit ist auch ein Problem (hier wie bei anderen radikalen Positionen): Bei wirklich komplexen Sachverhalten lässt sie sich nicht ohne Gewaltsamkeit durchhalten. Die einfache Antwort wirft dann selbst Fragen auf, die verdrängt werden müssen, um Erstere als solche nicht infrage zu stellen. Aber es ist wie im echten Leben: Das Verdrängte kommt irgendwie doch hier und da zum Vorschein, zumindest bei genauem Hinsehen.

Selbstwiderspruch 1: Lebensrat für neuronale Systeme

Am augenfälligsten sind die verdrängten Sachprobleme bei der deterministischen Basisthese. (Sie würden wohl auch beim noch grundlegenderen Basisthema Natur / Geist zutage treten, aber auf dieses komplizierte philosophische Terrain begibt sich Schmidt-Salomon aus verständlichen Gründen gar nicht, sondern erledigt es mit der Zauberformel „die moderne Hirnforschung hat gezeigt …“)9 Unser Wollen und Handeln ist in jedem Moment abhängig von dem jeweils durch mannigfache Ursachenkomplexe erreichten Zustand unseres Gehirns. So weit so gut. Wie aber verhält sich zu dieser Annahme der unübersehbare Appellcharakter des Buches, der sich in mannigfachen Formulierungen wie „du solltest dir klarmachen“ (131) direkt kundtut?

Einmal wird uns zum Beispiel „dringend“ angeraten, „den moralischen Schleier abzunehmen, der den Blick auf die Realität trübt“, um mit solchermaßen aufgeklärtem Blick „unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen“ (135). Was soll ein solcher Ratschlag, wenn es keine Freiheit zur Blickkorrektur von der „falschen“ zur „richtigen“ Sicht auf die Realität gibt? An anderer Stelle heißt es: Zur Veränderung von Wollen und Handeln „reicht es [meist] schon aus, etwas gründlicher über einen Sachverhalt nachzudenken“; dann kann es gelingen, „die möglichen Folgen deiner Handlungen zu antizipieren und auf dieser Basis eine ausgewogene Entscheidung zu treffen“ (35). Gründlich nachdenken, Handlungsfolgen imaginieren, daraufhin eine Entscheidung treffen (doch offenbar zwischen verschiedenen Willens- und Handlungsoptionen) und mit alledem das Leben „in den Griff bekommen“ (126) – was sollen solche Aufforderungen, wenn es nicht irgendeine echte Urteils-, Willens- und Handlungsfreiheit gibt?10 Solches scheint ebenso vorausgesetzt, wenn im Blick auf einen potenziellen Freitod geraten wird: „Natürlich solltest du diesen Notausgang nur wählen, wenn du dir absolut (!) sicher bist, dass es keine anderen Möglichkeiten mehr gibt“ (132; Ausrufungszeichen i. O.). Hier ist ausdrücklich von einer Wahl die Rede und von der Abwägung zwischen verschiedenen Möglichkeiten – obwohl der Gedanke einer freien Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten des Wollens und Handelns zuvor mehrfach ausdrücklich verworfen wurde.11

Die aufgewiesene Inkonsistenz betrifft nun freilich keineswegs nur Einzelstellen, sondern Schmidt-Salomons Ratgeberprojekt im Ganzen. Man kann und muss fragen: Woran appelliert überhaupt das ganze Buch, wenn nicht an eine irgendwie welt- und selbstdistanzierte und in dieser Distanz von den Bedingungen der momentanen Situation partiell freie Selbstreflexion, die dann Konsequenzen für die Lebensdeutung und Lebensführung hat? Unweigerlich entsteht beim Lesen der Eindruck, dass sich das Unternehmen evolutionär-humanistischer Lebensberatung zwangsläufig in einen performativen Selbstwiderspruch verwickelt: Das praktisch-beraterische Anliegen und die weltanschaulichen Kernaussagen passen nicht zusammen, sondern schließen einander eigentlich aus.

Aber der Autor wäre um eine Entgegnung auf diesen grundlegenden Einwand kaum verlegen. Sie würde lauten: Der Einfluss des Buches ist eben auch kausal zu denken, ohne Inanspruchnahme irgendeiner geistigen Freiheit, nämlich als kausaler Einfluss auf die Hirnzustände seiner Leserinnen und Leser.12 Der Appellcharakter, der freie Subjekte als Adressaten impliziert, ist sozusagen nur an der sprachlichen Oberfläche des Vorgetragenen zu verorten. Eigentlich wirken die Gedanken direkt neuronal; das Appellative ist nur die sprachliche Verpackung. Das entspricht dem erwähnten Umstand, dass das menschliche Gehirn seinen Kontakt zur Welt generell über die Konstruktion eines „virtuellen Ichs“ und den damit verknüpften Schein freien Denkens, Wollens und Handelns herstellt. Wenn ich meine, dass „ich“ denke, denkt eigentlich „es in mir“, und „es verändern“ sich dadurch mein, nein eigentlich: sein Wollen und Handeln. Auf dieser Ebene des Scheins eines freien Ichs müssen daher auch unterschiedliche menschliche Gehirne miteinander kommunizieren, weshalb sie zum Schein an die (scheinhafte) Freiheit des anderen appellieren. Eigentlich kommunizieren dabei neuronale Systeme miteinander, in naturgesetzlich durchgängig determinierter Weise. Auch Schmidt-Salomons Buch selbst ist also ein solches Produkt von naturgesetzlich ablaufenden „neuronalen Programmen“ (38), das in anderen Gehirnen bestimmte neuronale Prozesse auslöst – zum Beispiel beim Autor dieser Zeilen, der im Ringen um angemessene Formulierungen und Urteile sich zwar einbildet, irgendwie geistig-schöpferisch tätig zu sein, dem aber jedes Wort eigentlich als automatisches Ergebnis des Einflusses der neuronalen Vorgänge im Schmidt-Salomon’schen Gehirn auf die eigenen Hirnwindungen eingegeben wird.

Selbstwiderspruch 2: Eine evolutionäre Fehlleistung im Namen der Evolution

Warum erscheint mir die skizzierte Anschauung so absurd? Warum sträubt sich mein Selbstbewusstsein mit seinem unabtrennbaren Freiheitsbewusstsein so entschieden gegen die Hypothese, nur ein „Trugbild“ (28) des eigenen neuronalen Systems zu sein? Wir haben uns doch inzwischen auch einigermaßen an den Gedanken gewöhnt, dass die Wahrnehmung der auf- und untergehenden, um die Erde kreisenden Sonne nur ein Trugbild ist, das durch die „kopernikanische Wende“ im Weltbild ein für alle Mal erledigt ist (auch wenn wir in unserer Alltagskommunikation immer noch davon sprechen, dass die Sonne auf- und untergeht).Warum tun sich so viele nun mit der „naturalistischen Wende“ im Menschenbild so schwer?

Auch hierzu hätte Schmidt-Salomon wohl eine Antwort parat, und zwar eine doppelte: Zum einen hat sich die Idee der Freiheit so sehr in unserer Kultur festgesetzt, dass diese Idee nach wie vor eine starke Dauerwirkung auf unsere Gehirne hat – auch wenn sie seiner Überzeugung nach durch die neuere Naturwissenschaft widerlegt ist.13 Zum anderen gelingt es eben „unseren Gehirnen“ bestens, „mit enormem Aufwand die Illusion [zu] erzeugen, dass wir selbst es seien, die das Zepter in der Hand hielten“ (36) und unser Leben steuerten (eine Illusion, die auch von dem appellativen „Weisheitsbuch“ mit seinen Ratschlägen zur Lebenssteuerung gestützt wird). Im Interesse dieser evolutionär offenbar vorteilhaften Illusion kommt dem Gehirn, so müsste man im Sinne des von Schmidt-Salomon Ausgeführten ergänzen, jener kulturelle Einfluss auch sehr gut zupass. Das „voraufgeklärte“ Vorurteil vom freien Ich und das evolutionäre Überlebensinteresse des Gehirns gehen eine kongeniale Verbindung ein und stützen einander wechselseitig.

Daraus ergibt sich allerdings ein weiterer performativer Selbstwiderspruch zwischen Schmidt-Salomons Aufklärungsintention und der dabei proklamierten Weltsicht: Aus der Sicht des Gehirns und mithin unter evolutionären Gesichtspunktenmuss das Aufklärungs- und Desillusionierungsunternehmen Schmidt-Salomons als zutiefst kontraproduktiv beurteilt werden. Das menschliche Gehirn selbst kann gar kein Interesse an der „Enttarnung der Illusion des autarken Ich“ (103) haben, einer Illusion, die es mit solch „großer Mühe“ (35) herzustellen und aufrechtzuerhalten sucht. Die Enttarnung dieser Höchstleistung der Natur bringt gewissermaßen Sand ins Getriebe der Evolution und muss aus dieser Perspektive als eklatante Fehlleistung erscheinen. Sollte sich hier etwa doch ein menschlicher Geist aus dem geschlossenen Geflecht der Natur befreit und darüber erhoben haben? Ist es nicht geradezu ein prometheischer Akt, wie der naturalistische Philosoph der Natur ihr größtes Geheimnis entreißt und im Namen der Wahrheit den von ihr kunstvoll gewebten Schein des Geistigen im Menschsein zerreißt? Entlarvung des Naturcharakters des Geistigen im Namen einer übernatürlich-geistigen Idee: das ist die tiefe Dialektik naturalistischer Philosophie. Nur wer an ihr nicht irre wird, kann die Weihen dieser höheren Einsicht in das Wesen der Welt empfangen.

Selbstwiderspruch 3: Moralische Selbstgefälligkeit im Namen des Moralverzichts

Der dritte performative Selbstwiderspruch, der beim Lesen von Schmidt-Salomons „Philosophie der Gelassenheit“ ins Auge fällt, ist eine Diskrepanz zwischen dem ethischen Selbstanspruch und dem Stil der Argumentation. Besonders einschlägig ist dafür die Lektion 5 über Moral und Ethik. Der Begriff der Moral wird darin umstandslos mit dem „moralischen Dualismus“ zwischen „Gut“ und „Böse“ kurzgeschlossen und mit der menschlichen Neigung, diese Unterscheidung als Instrument der „erbarmungslosen“ (75) Exklusion anderer zu gebrauchen. Durch diese Identifikation wird der Begriff des „Moralischen“ insgesamt disqualifiziert und durch den Begriff des – scheinbar moralfreien – „Ethischen“ ersetzt. Philosophisch setzt sich Schmidt-Salomon damit über den gängigen Begriffsgebrauch und alle einschlägigen Debatten kurzerhand hinweg. Die Frage zum Beispiel nach der Lebensnotwendigkeit normativer Urteile, die für gewöhnlich als Kernbestand des „Moralischen“ oder „Sittlichen“ angesehen werden, wird gar nicht gestellt. Nichtsdestoweniger werden von dem Moralverächter andauernd normative moralische Urteile gefällt, explizit oder implizit.14 Überhaupt macht ja die Frage nach einem „guten“ Leben bzw. nach der Lebensweise der „besseren Menschen“15 den Gegenstand von Schmidt-Salomons ethischem Denken aus. Offenbar geht es also eigentlich gar nicht um die Frage „Moral oder Ethik (ohne Moral)“, sondern um die Alternative verschiedener Moral- oder Ethik-Konzepte.

Die Strategie des Schmidt-Salomon’schen Verfahrens liegt auf der Hand: Unter Anspielung auf alle negativen Anklänge des Ausdrucks „moralisch“, die sich in den Ableitungen „Moralist“ (85 u. ö.) und „moralinsauer“ (90) verdichten, werden alle traditionellen Auffassungen des Sittlichen mit dem von Nietzsche entlehnten Generalverdacht der Bemäntelung rücksichtsloser Eigeninteressen belegtund damit ins Zwielicht der Scheinmoral gerückt. Damit aber erscheint die eigene „ethische“ Position als das „ganz Andere“, von solch egoistischen Trübungen gänzlich Freie. Dieser Umgang mit Grundbegriffen und -phänomenen der Ethik ist aber philosophisch höchst unsolide und argumentationsstrategisch allzu durchschaubar. Man könnte allenfalls darüber streiten, ob eine derart holzschnittartige Darstellung zum Zweck einer populären Selbstpositionierung legitim sein mag.

Solche Toleranz wird aber der Leserin und dem Leser durch den über weite Strecken polemischen Ton der Ausführungen sehr schwer gemacht. Und sie dürfte ihnen durch den darin erkennbaren Selbstwiderspruch am Ende gänzlich unmöglich werden. Denn die Art und Weise, wie Schmidt-Salomon das Eigene auf Kosten eines aufs schärfste diskreditierten Anderen konturiert, trägt verblüffend genau jenen „dualistischen“ Zug, den er dem Zerrbild der „Moral“ einzeichnet, das er als Folie der eigenen „Ethik“ braucht: Die traditionelle Gruppen- und Parteimoral wird normativ abqualifiziert, mithin sachlich als „böse“ präsentiert, während die unparteiische „Ethik“ der fairen Berücksichtigung anderer als „gut“ gilt, jedenfalls als normativ höherwertig. (Und zur moralisch normativen Abqualifizierung kommt die intellektuelle hinzu: Sollte „Moral“ an sich nicht gerade „böse“ sein, so ist sie doch intellektuell hoffnungslos rückständig.)

Hochgradig fragwürdig wird dieses Verfahren erst recht durch die dabei waltende Grobheit, die jedem einigermaßen Fairness-sensiblen Leser die Haare zu Berge stehen lässt. Welche Gruppen werden als paradigmatische Repräsentanten des „moralischen Dualismus“ aufgerufen? „Ob islamistische Extremisten oder christliche Kreuzzügler, ob ultraorthodoxe jüdische Siedler oder radikale Hindus: Sie alle sehen sich als heldenhafte Kämpfer für das Gute in einer Entscheidungsschlacht gegen das universelle Böse“ (77). Zur Konkretion des Moralischen werden ferner „Moralisten“ angeführt, die „homosexuelle Handlungen“ (85) für grundsätzlich verwerflich halten, wo möglich verbieten und schlimmstenfalls mit der Todesstrafe ahnden. „Halsstarrigen“ (132) und „problemorientierten“ Moralisten, die „sich an dem vermeintlichen Gegensatz von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ berauschen“ und „sich selbst durch die Abwertung anderer auf[ ]werten“, werden „lösungsorientierte“ Ethiker entgegengestellt, die nüchtern und geduldig an der Beseitigung der Übel arbeiten und bei ihren Problemlösungen „die Interessen aller Betroffenen fair berücksichtigen“ (126).

Noch hemmungsloser wird die Kontrastierungsmethode auf dem Feld der Rechtsethik angewandt (in Lektion 4), wo ein an der Willensfreiheit und ein an der kausalen Bedingtheit des Menschen ausgerichtetes Rechtssystem verglichen werden. Als exemplarisch-symbolische Repräsentanten für ersteres führt Schmidt-Salomon Donald Trump und Roland Freisler an, den Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs, sowie die „amerikanischen Todesstrafen-Befürworter“ (70); für letzteres hingegen Fritz Bauer, den Initiator des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, und Albert Einstein. Von dieser grobschlächtigen Typologie her fällt ein schwerer Schatten auf alle Vertreter einer ebenfalls an der „moralischen Schuldfähigkeit“ (70) orientierten Straftheorie, während die Strafauffassung des Autors im Nimbus des Nazijägers und des Physiknobelpreisträgers erstrahlt.

Man fragt sich beim Lesen ständig: Müsste der edle Ethiker nicht auch die Anliegen der positionellen Gegner etwas fairer würdigen, anstatt sie zu bloßen „Pappkameraden“ zwecks Demonstration eigener Vortrefflichkeit zuzurichten? Zumal er sich das Prinzip der „intellektuellen Redlichkeit“ (108) groß auf die eigenen Fahnen schreibt? Im vorliegenden Text jedenfalls erscheint er selbst als lebendiges Beispiel einer grob dualistischen Einteilung der Welt zum Zweck der Aufwertung des Eigenen durch Abwertung anderer. Der freisinnige Moralkritiker entpuppt sich als besonders selbstgerechter, um nicht zu sagen: als besonders scheinheiliger Moralist.

Grenzen der Desillusionierungslust

Man sollte sich als Leser oder Leserin jedoch nicht allzu sehr von Schmidt-Salomons selbstgefälligem Ton ärgern lassen. Der Wert des Buches, grundlegende Einblicke in Verfassung und Schwierigkeiten einer naturalistischen Welt- und Selbstdeutung zu vermitteln, bleibt davon unbetroffen. Es sind an dieser Deutungsoption allerdings noch einige weitere Sachaspekte zu hinterfragen.

So arbeitet der Autor oftmals mit der Verwischung von Differenzen und Problemen, was nicht unbedingt zur Klarheit der weltanschaulichen (Selbst-)Verständigung beiträgt. Beispielsweise beruft er sich für seine Konzeption einer naturalistischen „Religiosität“ (Lektion 6) auf die berühmte Formel aus Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion (1799) vom „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (95). Aber die beim frühen Schleiermacher mitschwingenden pantheistischen Klänge werden von ihm allenfalls als auratische Untertöne aufgenommen – die in den Reden belehnte spinozistische Idee eines vom Göttlichen durchdrungenen Universums muss ihm als atheistischem Naturalisten völlig fremd sein. Kurz: Die Formel meint hier und da etwas ganz anderes, und so offenbart sich der Schleiermacher-Rekurs als ein sehr äußerlicher Versuch, die eigene „rationale Mystik“ als etwas Religiöses oder Religionsähnliches erscheinen zu lassen. Nimmt man den Begriff „Religion“ (im Sinne irgendeiner Art von Beziehung zu einer Dimension von Transzendenz oder Unbedingtheit) und nimmt man den Begriff „Naturalismus“ (im Sinne einer Reduktion alles Seienden auf „Natur“) ernst, so gehen beide Begriffe nicht sinnvoll zusammen. Die Kosmos-Erlebnisse, die der Religionskritiker für seine Konzeption anführt (mit ausführlicher Berufung auf eigene Erfahrung), sind folglich etwas dem Religiösen nur Analoges, irgendwie Ähnliches. Oder sie durchbrechen diejenige Weltanschauung, der sie eine Aura von spiritueller Tiefe verleihen sollen.

Schwierige philosophische Fragen werfen auch die Ausführungen von Lektion 7 zum „Sinn des Lebens“ auf. Das Grundproblem liegt auf der Hand: Ist „Sinn“ nicht eine dezidiert geistige Angelegenheit? Wird also nicht auch mit dieser „transnatürlichen“ Kategorie das naturalistische Koordinatensystem verlassen? Anders gefragt: Müsste Schmidt-Salomon nicht, getreu seinem naturalistischen Entlarvungsethos, mit dem Geist und dem Selbst zugleich auch den Sinn als eine Illusion des Gehirns bloßlegen? Warum weicht das naturwissenschaftliche Wahrheitspathos hier zurück? Und auch wenn man über diese Inkonsequenz hinwegsieht, muss weiter gefragt werden: Ist wirklich eine Sinngebung (für uns) in einem großen Vakuum des Sinnes (an sich) denkbar, die für ausreichend Erfüllung im Leben sorgt und nihilistischer Verzweiflung wehrt? Eine „kleine Insel des Sinns in diesem weitgehend sinnleeren Kosmos“ (119) – widerspricht das nicht dem Wesen jedes Sinns, immer auf ein Sinnganzes bezogen zu sein?16 Wird eine solche Insel nicht doch eher früher als später im Meer der Sinnlosigkeit versinken, das sie umschließt? Oder bedarf es nicht zumindest einer massiven Verdrängungsleistung, um sich trotz des umgebenden Horizonts der Sinnleere an einem isolierten, selbstgemachten „Sinn für mich“ erfreuen zu können?

Tatsächlich deutet auch Schmidt-Salomons Trostrede vom Sinn des Lebens selbst auf die Unzulänglichkeit seiner Insel-Vorstellung hin. Auch er scheint zu spüren, dass Sinn immer auf anderen Sinn, auf ein Sinnganzes verwiesen ist. Darum behauptet er eine Bedeutung unseres Lebens selbst über den „finalen Sinnverlust“ (116) des Todes hinaus, nämlich für den Fortschritt der Menschheit. Er nimmt dafür in Kauf, auf eine handfest metaphysische Zusatzannahme zurückgreifen zu müssen, die wiederum gar nicht zur naturalistischen Ontologie passen will: Der Zuspruch, der „Glaube an eine bessere Zukunft“ (120) der Menschheit sei „erfreulicherweise keine Illusion“ (121), ist in diesem Rahmen so erfreulich wie überraschend. Ein plötzlicher Sprung in einen geschichtsphilosophischen Glauben, wenn man so will: ein Rückfall von Feuerbach und Darwin zu Hegel – anscheinend mutiert auch der nüchternste Rationalist, wenn er „seelsorgerlich“ sein will, zum sentimentalen Metaphysiker.

Der Preis der Gelassenheit

Es ist nun aber noch einmal auf die anthropologisch-ethische Grundthese von Schmidt-Salomons „Philosophie der Gelassenheit“ zurückzukommen. Die darin vorgenommene Verknüpfung von anthropologischem Basisaxiom und ethischer Lebensführungskonsequenz kommt gut in dem paradoxen Sinnspruch zum Ausdruck, den der Autor an den Anfang seines Buches stellt: „Wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelassenes Selbst“ (9). Die Doppelthese des Ratgebers ist in diesem Satz treffend zusammengefasst: Ein Selbstverständnis als bloße Natur befreit den Menschen vom scheinhaften Bewusstsein, ein Selbst oder Ich zu sein, und es befreit ihn damit von allen Zwängen und Lasten, die das Ringen um den Erhalt und die Entfaltung dieses Selbst mit sich bringen. Damit wiederum erschließt sie die von vielen so dringend ersehnte „Gelassenheit“.

Der Philosoph stellt selbst heraus, dass er mit diesem Grundwort der Lebenshilfeliteratur einen ursprünglich religiösen Terminus aufnimmt und umdeutet, einen Terminus nämlich aus der Deutschen Mystik.17 Nach Meister Eckhart (um 1260 bis 1327/28) besteht die Gelassenheit des wahrhaft Frommen darin, den eigenen Willen loslassen zu können.18 Aber diese Selbst-Aufgabe zielt darauf, im Gegenzug von Gott erfüllt zu werden und in ihm Ruhe zu finden. Sie korrespondiert also mit einer höheren Selbstbewahrung in „transzendenter Geborgenheit“ (Ulrich Barth)19. Auf solche Bergung muss die naturalistische Selbst-Aufgabe natürlich verzichten. Sie ist bloße Auflösung, „Aufhebung“ im rein negativen Sinne, ohne bleibende Aufgehobenheit.

Folglich wird die Gelassenheit, die durch die Entlarvung der Ich-Illusion erreicht wird, um den Preis der Auflösung des Eigenseins erreicht. Die „neue Leichtigkeit des Seins“ (9), die der „evolutionäre Humanismus“ verspricht, bedeutet, konsequent gedacht, den Verzicht auf jedes Gewicht im eigenen Sein, weil dieses Sein gar kein authentisches, sondern nur noch ein illusionäres Zentrum hat. Es ist eben ein von der Ich- oder Selbst-Vorstellung gleichsam entkerntes und insofern gar kein „eigenes“ Sein mehr, das sich nun in „neuer Leichtigkeit“ darstellt. Sobald ich der naturalistischen Lebensdeutung folge, kann ich zwar in der Tat ohne jede ernst zu nehmende Last dahinleben – nur ist mir dabei bewusst, dass es gar nicht im eigentlichen Sinne „mein Leben“ ist, das ich lebe, weil dieses „Ich“ nur eine nichtige Spiegelung jenes „blumenkohlförmigen Organs“ (29) unter meiner Schädeldecke ist.

Die Unaufgebbarkeit des Selbst-Bewusstseins

Die entscheidende Frage ist nun diese: Wie lässt es sich mit einer derartigen „Entselbstung“ leben? Lässt sich damit überhaupt leben? Die Lektüre von Schmidt-Salomons „Weisheitsbuch“ legt diesbezüglich eine relativ entspannte Antwort nahe: Auch im Gemütshaushalt des „evolutionären Humanisten“ scheint nicht alles so heiß gegessen zu werden, wie es gekocht wird. So wurde ja bereits am Beratungs- und Appellcharakter des Buches sichtbar, dass der Autor ständig selbst die Illusion eines freien Ich in Anschlag zu bringen gezwungen ist, um überhaupt die Adressaten seiner Ratschläge sinnvoll als solche ansprechen zu können. Vor dem Hintergrund der fundamentalen Entlarvungsintention wirkt dieser Zwang mitunter auch unfreiwillig komisch, beispielsweise wenn dem Leser vor Augen geführt wird, dass Schuldgefühle seiner „persönlichen Weiterentwicklung“ im Wege stünden; ohne sie „fällt es dir leichter, der zu werden, der du sein könntest“ (51). Das ist nun wirklich erstaunlich: kein wahrhaftes Ich, aber „persönliche Entwicklung“, mithin Persönlichkeit, sogar in Verbindung mit dem Ideal einer zu verwirklichenden Vollendungsgestalt der eigenen Person – klassisch idealistische Figuren werden umstandslos mitgeführt, als ob von irgendwelchen Illusionen im menschlichen Selbstbild nie die Rede gewesen wäre.

Ähnlich befremdlich ist die Beteuerung, „dass der Abschied von der Idee des ursachenfreien Willens“ – man ergänze: und überhaupt von einem freien Ich –, „keineswegs mit einer Einschränkung deiner Freiheit verbunden ist“ (40). Allerdings, so möchte man einschränkend hinzufügen, hat diese meine vermeintliche Freiheit den hässlichen Nachteil, dass es gar nicht wirklich „meine“ Freiheit sein kann, weil ihr mit der Tilgung des Ich ihr Vollzugssubjekt genommen ist. Im Klartext müsste es heißen: Der Abschied vom freien Ich ändert nichts an der Illusion von Freiheit, die dein Gehirn „dir“ bzw. deinem virtuellen Ich weiter vorspiegelt. Und nicht einmal beim hartgesottenen Naturalisten, so möchte man ergänzen, verhindert die programmatische Illusionshypothese, dass er immer wieder in naiver Unmittelbarkeit vom Ich oder Selbst redet und damit die entlarvte Ich-Illusion selbst bekräftigt.20

Man kann die vielen einschlägigen Stellen als Ausdruck der Anpassung des Autors an seine Leserschaft und als Mittel einer möglichst eingängigen Darstellung lesen. Aber die ständige Inanspruchnahme der zuvor dekuvrierten Illusion führt auf einen grundsätzlicheren Gedanken. Wenn es offenkundig unmöglich ist, in der Verständigung über Lebensführungsfragen ohne die Vorstellung eines Lebensführungssubjekts, eines „Ich“ oder „Selbst“, auszukommen, dann liegt der Schluss nahe: Die Selbst-Vorstellung ist auch in der Lebensführung selbst unhintergehbar.21 Wir können nicht leben ohne das Bewusstsein, dass „ich“ es bin, der dieses Leben führt und um dessen Erhaltung und Entfaltung es in diesem Leben geht. Darum stellt sich dieses Bewusstsein immer wieder ein, auch wenn ich mich vielleicht im Modus der weltanschaulichen Reflexion davon habe überzeugen lassen, dass es „eigentlich“ bloß das Resultat einer virtuellen Konstruktionsleistung meines neuronalen Systems ist.

Daraus folgt wiederum: Für das lebensweltliche Bewusstsein dürfte die weltanschauliche Selbst-Entlarvung zunächst einmal relativ irrelevant sein. Das ist schon deshalb anzunehmen, weil mein präreflexives In-der-Welt-Sein, das sich in Stimmungen, Gefühlen, Wünschen und Begierden artikuliert, mich diesen Ich-Bezug andauernd spüren lässt: In der Freude etwa ist irgendwie immer das Wohl, in der Trauer das Weh meines Ich oder Selbst thematisch. Bin ich daher philosophisch auch noch so sehr von der Nichtigkeit dieses meines Selbst überzeugt – es fühlt sich Tag für Tag, Stunde um Stunde völlig anders an.22 Ähnliches gilt von der alltäglichen Lebenspraxis. Sobald ich morgens aufstehe, um meinem Beruf nachzugehen und meine Beziehungen oder Hobbys zu pflegen: Immer sind dabei Zweck- und Sinnbezüge im Spiel, die bewusst oder unbewusst auf die Förderung meines Selbst ausgerichtet sind – und wenn es nur die Entspannung beim Spazierengehen oder die gehobene Stimmung beim Musikhören ist.

Die beschriebene Unauflösbarkeit der Selbst-Zentriertheit unseres alltäglichen Fühlens und Handelns, ungeachtet aller gegenläufigen Überzeugung, ist in gewisser Hinsicht mit unserem Verhältnis zum heliozentrischen Weltbild vergleichbar.23 Wie für uns die Sonne trotz aller kopernikanischen Informiertheit lebensweltlich nach wie vor auf- und untergeht (und wie uns sogar romantische Gefühle insbesondere bei ihrem Untergang beschleichen können), so dürfte auch der ausgemachteste Naturalist trotz seiner „zerebrozentrischen“ (gebildet von lat. cerebrum, Gehirn) Überzeugungen im alltäglichen Leben dennoch als ein „egozentrischer“ Mensch fühlen und handeln („egozentrisch“ hier ausnahmsweise nicht moralisch verstanden). Alles andere bedeutete Selbstaufgabe und Lebensunfähigkeit im umfassenden Sinne.

Der Zwiespalt im Selbstverhältnis

Die Annahme der lebensweltlichen Irrelevanz naturalistischer „Entselbstung“ ist zunächst eine gute Nachricht für alle weltanschaulich Betroffenen und ihre Mitmenschen. Indessen ist damit nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die Infragestellung der unmittelbaren Geltung des Selbst-Bewusstsein doch subtile Rückwirkungen auf das Selbstverhältnis und die Lebensführung hat. Auch im Falle des heliozentrischen Weltbilds ist ja von solchen Rückwirkungen auszugehen. So kann die Betrachtung des „Sonnenuntergangs“ durch die Reflexion auf die Uneigentlichkeit des Vorgangs merklich getrübt werden. Das Abendrot bleibt schön – und doch büßt der Anblick durch den Gedanken an die um die Sonne kreisende Erde etwas von seinem unmittelbaren Zauber ein. Der Wechsel von der „naiven“ Naturanschauung in den Modus der astronomischen Reflexion klammert das unmittelbare Anschauungserlebnis gewissermaßen ein.

Es steht zu vermuten, dass die naturalistische Selbst-Verleugnung eine analoge „Einklammerung“ lebensweltlicher Erfahrung bewirkt. Obgleich deren unmittelbare Selbst-Bezüglichkeit unaufhebbar ist, rückt die naturalistische Reflexion auf den Scheincharakter des Selbst das selbstzentrierte Erleben in eine Distanz der „Uneigentlichkeit“. Dass „ich“ aus „meiner“ Perspektive fühle und in „meinem“ Interesse handle, wird als eine Selbst-Täuschung eingestuft – ohne dass ich jedoch wirklich „hinter“ diese Täuschung zu einem Blickpunkt umfassender Klarsicht gelangen könnte. Denn dieser Blickpunkt wäre der meines Gehirnes selbst, und er läge jenseits des von ihm aufgebauten Selbst-Bewusstseins, in dem „ich“ als Produkt seiner Konstruktion aber dauerhaft „gefangen“ bin. Das Täuschungsbewusstsein hat daher den Charakter einer völlig abstrakten Weltanschauungshypothese, während das Selbst-Bewusstsein durchgängig mit der Plausibilität konkreter Erfahrung aufwarten kann. Und auch im Akt der Desillusionierung selbst habe ich zugleich das Bewusstsein, dass „ich“ es bin, der Held „wissenschaftlicher Redlichkeit“, der die Entlarvung der Selbst-Vorstellung vornimmt. Die Entlarvung des „starken Ich“ wird selbst von einem „starken Ich“ vollzogen (das sich dann auch gerne so inszeniert). Denn den Gedanken, dass es eigentlich mein Gehirn ist (anstatt meines Ich), das die eigene Illusionsproduktion entlarvt, kann ich gar nicht sinnvoll vollziehen.

Es ist daher damit zu rechnen, dass das Illusionsbewusstsein vergleichsweise schwach und instabil bleibt, weshalb die fragliche Einklammerung des unmittelbaren Erlebens in der Regel nicht zum dominanten Dauerzustand werden dürfte. So hat man sich den Effekt der Illusionsreflexion wohl eher als eine Bewegung, als Wechsel verschiedener Modi des Bewusstseins vorzustellen: Demnach changiert das Subjekt zwischen der (vorherrschenden) unmittelbaren Inanspruchnahme und der (punktuellen) reflexiven Aufhebung der Selbst-Vorstellung; es springt zwischen dem unmittelbaren Standpunkt „im“ Selbstsein und dem reflexiven Standpunkt „über“ oder „unter“ dem Selbstsein gleichsam hin und her. So entsteht, unbeschadet der Dominanz der Unmittelbarkeit, ein Schwanken im Selbstverhältnis: Die abstrakte Hypothese von der Selbst-Täuschung spricht der konkreten Selbst-Erfahrung immer wieder ihre Authentizität ab und nimmt ihr auf diese Weise etwas von ihrer Geltung, ihrem Gewicht. Und da das besagte innere Schwanken, der innere Widerspruch zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion nicht stillzustellen ist, ergibt sich insgesamt doch das Bild eines inneren Zwiespalts.

Folgen der Selbst-Distanz

Welche Folgen sich aus dem Zwiespalt zwischen unmittelbarem Selbst-Vollzug und philosophischem Selbst-Entzug für das Leben ergeben, ist schwer zu sagen. Dass die von Schmidt-Salomon herausgestellte Entlastung von beschwerlichen Selbstbehauptungsquerelen darunter zählen mag, muss man gar nicht von vornherein in Abrede stellen. Daneben dürfte die reflexive Selbst-Durchstreichung gerade in schwierigen Momenten des Lebens den angenehmen Effekt haben, von der Last der Verantwortung zu befreien und womöglich die Stimme des Gewissens zu betäuben – während es der alltägliche Modus unmittelbarer Selbst-Realisierung erlaubt, ansonsten relativ unbehelligt von Selbst-Zweifeln weiterzuleben.

Aber neben solchen Entlastungswirkungen sind auch weniger lebensförderliche Aspekte der Selbstdistanzierung denkbar. Wer immer wieder seinem Selbst-Sein die Authentizität abspricht, dem dürfte es nicht leichtfallen, dieses Selbst als Steuerungsinstanz seiner Lebensführung ernst zu nehmen. Seine ethische Energie dürfte damit eher gebremst als befeuert werden. Ferner ist aus sinnphilosophischen Gründen auch eine Tendenz zum Nihilismus nicht von der Hand zu weisen. Denn wie ich ohne authentisches Bewusstsein eines Selbst als Träger „meines Sinns“ ein authentisches Sinnbewusstsein entwickeln soll, bleibt auch nach der Lektüre der Schmidt-Salomon’schen Einlassungen zum Thema eine offene Frage. Zwar gibt es,wie gesagt, gute Gründe anzunehmen, dass sich die abstrakte Selbst-Verleugnung gegen den konkreten Selbst-Vollzug grundsätzlich nicht dauerhaft durchsetzen kann. Aber es ist eben auch nicht a priori auszuschließen, dass das Changieren im Selbstverhältnis sich zu einem inneren Zwiespalt auswächst, der das Sinnerleben jenes Selbst nachhaltig untergräbt. Der tröstlichen Entlastung von der Selbst-Verantwortung korrespondierte dann eine trostlose „Entlastung“ von jedem Lebensgewicht.

Die Frage nach den potenziellen Wirkungen im Leben muss hier nicht weiterverfolgt werden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich die inneren Probleme der naturalistischen Lebensdeutung etwas gravierender darstellen als von Schmidt-Salomons „Philosophie der Gelassenheit“ insinuiert. Der Naturalismus als über die Maßen eindeutige Weltauffassung hat beträchtliche Folgekosten für die Selbstauffassung des Menschen, über die auch philosophische Leichtfüßigkeit nur scheinbar hinweghilft. Sie sind teils so hoch, dass man im Interesse der betroffenen Menschen eigentlich nur hoffen kann, dass das naturalistische Ernüchterungsdenken gegen die Schwerkraft der Erlebnisunmittelbarkeit (bzw. gegen die Macht der zerebralen Illusionsmaschine) in der Regel nicht anzukommen vermag.


Martin Fritz, 01.03.2023

 

Anmerkungen

  1. Die Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Michael Schmidt-Salomon: Entspannt euch! Eine Philosophie der Gelassenheit, München 42019. Bei YouTube ist auch eine Lesung des Autors verfügbar: www.youtube.com/watch?v=_bXK8gbwi0g&t=202s  (Abruf der Internetseiten: 1.3.2023). Das Buch ist eine populäre Zusammenfassung von Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München 2009. Die folgende Auseinandersetzung stützt sich im Wesentlichen auf die jüngere Veröffentlichung, die die Substanz der älteren gut wiedergibt.
  2. Vgl. zur gbs Andreas Fincke: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Zu den Aktivitäten der neu gegründeten Giordano-Bruno-Stiftung, in: MdEZW 68/6 (2005), 226 – 228. Der Mitgründer (zusammen mit Schmidt-Salomon) und erste Vorsitzende der gbs, der Möbelunternehmer Herbert Steffen, ist am 18.11.2022 im Alter von 88 Jahren verstorben. Siehe dazu den Nachruf von Schmidt-Salomon Das Ende einer Ära auf der Website der gbs (www.giordano-bruno-stiftung.de): https://tinyurl.com/yhndn5np.
  3. Siehe dazu Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006. Vgl. auch Reinhard Hempelmann: Atheismus, in: MdEZW 72/12 (2009), 468 – 472; ders.: Naturalismus, in: MdEZW 79/5 (2016), 196 – 199.
  4. Die fundamentale Frage nach der Plausibilität der naturalistischen Weltanschauungshypothese wird im Folgenden nur gestreift. Sie ist unabhängig von den betreffenden Folgen für die Lebensführung zu diskutieren.
  5. Vgl. dazu Martin Fritz: Nihilismus, in: ZRW 85/6 (2022), 448 – 457.
  6. Siehe zum Problematischwerden des Selbst-Seins in der Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts Martin Fritz: Realisierung des eigenen Selbst. Schleiermachers Ethik der Individualität und ihre Rezeption bei Lotze, Dilthey und Herrmann, in: Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken / Sarah Schmidt (Hg.): Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle / S., März 2017 (SchlA 27), Berlin / Boston 2018, 505 – 527 (https://tinyurl.com/34ncue8a).
  7. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre etwas unter Redundanzen leidet, weil es zwischen den Lektionen mannigfache thematische Überschneidungen gibt.
  8. Diesen Gedanken hat der späte Friedrich Schleiermacher seinem Begriff von Religion zugrunde gelegt, nämlich in der berühmten Theorie seiner Glaubenslehre (1821/22, 21830/31) vom „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Paul Tillich hat selbigen Gedanken in seiner Systematischen Theologie (3 Bde., 1951 – 1963) mit der ontologisch-anthropologischen Grundspannung von Freiheit und Schicksal aufgenommen.
  9. Vgl. z. B. 27: „Wir sind zwar noch immer weit davon entfernt, das Gehirn in seiner ganzen Komplexität zu begreifen, jedoch kann heute kein vernünftiger Zweifel mehr daran bestehen, dass unser ‚Ich‘ von den Vorgängen in unserem Gehirn gesteuert wird.“ Dem könnte man entgegnen, dass überhaupt kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, dass das Thema Gehirn und Geist mit diesem Satz nicht „in seiner ganzen Komplexität“ begriffen ist (vgl. dazu z. B. Robert Nitsch: Gehirn, Geist und Bedeutung. Zur Stellung der Neurowissenschaften in der Leib-Seele-Diskussion, Münster 2012). Das Fatale an derartigen Simplifizierungen ist, dass sie bei nicht wenigen Menschen schon durch ihre andauernde Wiederholung verfangen.
  10. Vgl. dazu 50: „Du kannst zwar die Vergangenheit nicht ändern, aber du kannst dich selbst ändern und daran arbeiten, in Zukunft klüger, vernünftiger, achtsamer, liebevoller zu sein.“ Ein Appell an das Änderungs- und Vervollkommnungsvermögen setzt notwendig Freiheit voraus.
  11. Z. B. 29ff, 34ff, 47ff.
  12. Vgl. z. B. 60: „Einstein wusste: So wie sein eigener Denkapparat von den Überlegungen anderer geprägt worden war, so konnten seine eigenen Äußerungen zur Ursache für veränderte Vorgänge in fremden Gehirnen werden. Andernfalls hätte er sich seine Aufrufe zu einer rationaleren, menschenfreundlicheren Politik auch komplett sparen können. Die Argumente eines anderen wirken gewissermaßen wie Gravitationskräfte auf uns. Wird man von ihnen erfasst, so gerät man gedanklich in eine andere Umlaufbahn.“
  13. Vgl. z. B. 31, wonach wir „die Vorstellung des ‚Anderskönnens‘“ – also der Wahlfreiheit – „gewissermaßen mit der kulturellen Muttermilch [aufnehmen]“.
  14. Es ist nach Schmidt-Salomon z. B. gut, anderen zu vergeben (41ff), achtsam und liebevoll (50), bescheiden (44ff) und kritikfähig (45), fair (126 u. ö.) und intellektuell redlich (108) zu sein. Gut sind außerdem Empathie, Mitgefühl, Mitleid und Mitfreude (78), die Ehrfurcht vor dem Leben (92f, mit Berufung auf Albert Schweitzer) sowie die Achtung der Rechte anderer (90). Zu missbilligen ist jeweils das Gegenteil, außerdem Stolz und Selbstgefälligkeit (passim), die Ausgrenzung Fremder (75), die Todesstrafe (48) und vieles mehr.
  15. Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München 2009. Die augenzwinkernde Pointe des Untertitels offenbart hier nicht eine subtile Dialektik, sondern einen Widerspruch im Denken oder eine Begriffsverwirrung.
  16. Das ist zumindest der sinntheoretische Kerngedanke von Paul Tillichs früher Religionskonzeption; siehe dazu Martin Fritz: Rausch des Unbedingten. Tillichs Theorie „dämonisch“ verzerrter Religion, in: Christian Danz / Werner Schüßler (Hg.): Tillich in Dresden. Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik (Tillich Research), Berlin / Boston 2023 (in Vorbereitung); ders.: Rezension zu Werner Schneiders: Die Globalisierung des Nihilismus, Freiburg i. Br. / München 2019, in: ZRW 86/1 (2023), 65 – 76.
  17. Vgl. 103f.
  18. Vgl. Ulrich Dierse: Art. Gelassenheit, in: HWPh 3 (1974), 219 – 224.
  19. Vgl. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, Tübingen 2021, 400.
  20. Geradezu drollig ist die Zusage, „dass dein Gehirn stets das Beste für dich will und unablässig nach neuen Informationen sucht, um dein Leben erfolgreich zu gestalten“ (39). Klingt das nicht so, als diene mein Gehirn meinem Ich und dessen Leben, als sei also nun doch dieses mein Ich das ontologisch primäre und dessen Denkorgan das ontologisch nachgeordnete Phänomen? Aber nein, das ist natürlich nur Schein, nur der Redekonvention (und vielleicht auch der potenziellen Leserempfindlichkeit) geschuldet. Denn eigentlich geht es dem Gehirn darum, wie es kurz zuvor heißt, „das Beste für dich (und sich selbst) herauszuholen“ (39). Und damit ist natürlich, ganz eigentlich, gemeint, dass es dem naturhaften Gehirn nur um sich selbst und seine Selbsterhaltung gehen kann. Dass es mir so scheint, als gehe es irgendwie um „mich“, mein Ich, verdankt sich eben nur einer virtuellen Funktion des Gehirns – sodass es eigentlich heißen müsste: Das Gehirn will das Beste für sich – und gaukelt deinem virtuellen Ich dabei vor, es gehe um „dich“.
  21. In Schmidt-Salomons Koordinatensystem entspricht dieser Beobachtung die Überzeugung von der Persistenz der neuronal hergestellten Ich-Illusion (vgl. z. B. 35f). Diesem Sachverhalt würde der Autor wohl auch den eigenen mannigfachen Gebrauch der Ich-Vorstellung zuschreiben. Auch demjenigen gegenüber, der sein Geheimnis eigentlich gelüftet hat, sitzt das illusionsproduktive Gehirn dauerhaft am längeren Hebel.
  22. Vgl. zur konstitutiven Selbst-Bezüglichkeit des emotionalen Lebens z. B. Robert C. Roberts: Was eine Emotion ist: eine Skizze, in: Sabine A. Döring (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 32013, 169 – 201.
  23. Es ist bei diesem Vergleich freilich der wesentliche Unterschied festzuhalten, dass das heliozentrische Weltbild wissenschaftlich zwingend erwiesen ist, was für das „zerebrozentrische“ Menschenbild nicht gesagt werden kann.