Werner Schneiders

Die Globalisierung des Nihilismus

Werner Schneiders: Die Globalisierung des Nihilismus, Verlag Karl Alber, Freiburg / München 2019, 118 Seiten, 29,00 Euro.

„Wir führen ein gutes Leben, das nahezu jedermann Wohlstand, Sicherheit und Gesundheit beschert. Nur eines fehlt uns: ein Grund, morgens aus dem Bett zu steigen …“ In dieser Bemerkung (aus: Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016) ist angerissen, worum es in dem Buch von Werner Schneiders geht. Wer nicht weiß, wozu er aufstehen soll, ist vom kalten Anhauch des „Nihilismus“ berührt, weil er offensichtlich keinen Sinn in seinem Leben sieht, ihm sein Lebensinhalt zum „Nichts“ (lat. nihil) zerronnen ist. Wer darüber hinaus ausdrücklich die illusionslos-harte Überzeugung von der Sinnlosigkeit von Welt und Leben vertritt, ist ein genuiner „Nihilist“, weil er die „Nichtigkeit“ alles vermeintlichen Sinnes und aller vermeintlichen Werte behauptet. Eine solche Einstellung zum Leben und zum Ganzen der Wirklichkeit, teils mehr diffus, teils dezidiert, ist in der Moderne zu einem weltweiten „Massenphänomen“ (5) geworden; sie ist das große weltanschauliche Problem der Gegenwart. Das ist Schneiders’ Diagnose von der „Globalisierung des Nihilismus“. Und diese Diagnose hat auch weitreichende Implikationen für die gegenwärtige Bedeutung von Religion.

Werner Schneiders (1932 – 2021), von 1982 bis 1999 Professor für Philosophie an der Universität Münster und Autor zahlreicher Veröffentlichungen vor allem zur Epoche der Aufklärung, hat sich also im hohen Alter noch einem Schlüsselthema der Weltanschauungsphilosophie gewidmet. In vier Kapiteln, die ohne eine einzige Fußnote und überhaupt ohne irgendwelche gelehrten Verweise auf die Vor- und Nachdenker der Philosophiegeschichte auskommen, entfaltet er seine Fragestellung: I. Sinn und Leid; II. Naturrecht und Nihilismus – Über Theorien der Moral; III. Nihilismus und Sinnsetzung – Über moralische Praxis; IV. Die Überwindung des Nihilismus. Insgesamt entwickelt das Buch nicht eigentlich eine stringente Argumentation. Es ist eher im Duktus kreisender Reflexion geschrieben, daher naturgemäß nicht ohne Redundanzen. Der Stil spürbar gebildeter, aber dennoch einfacher philosophischer Besinnung und Zeitansage verleiht diesem Alterswerk Schneiders’ jedoch eine Allgemeinverständlichkeit und Eindringlichkeit, die der fachphilosophischen (und fachtheologischen) Produktion zumeist abgeht. Und weil es eine so grundlegende weltanschauliche Fragestellung entfaltet, wird diesem opus hier ausnahmsweise eine größere Besprechung gewidmet.

Das Erwachen der Sinnfrage

Was verbirgt sich hinter dem Stichwort „Nihilismus“, und inwiefern ist damit ein kardinales Weltanschauungsproblem der Gegenwart bezeichnet?1  Schneiders exponiert sein Thema an der Erfahrung des Leidens. Wer das „entsetzliche und unermessliche“ (11) Leiden in der Welt sieht und im eigenen Leben erlebt, dem stellen sich, abgesehen von den praktischen Fragen seiner Vermeidung oder Linderung, unweigerlich auch ganz prinzipielle Fragen. Was ist von einer Welt zu halten, in der solcher Schmerz an der Tagesordnung ist? Kann in einer solchen Welt eine sinnvolle Ordnung herrschen? Wird darin nicht überhaupt jeder vermeintliche Sinn zweifelhaft? Verschwindetangesichts der ungezählten Schmerzen nicht jede einzelne Sinnerfahrung in einem Abgrund der Sinnlosigkeit? Wer sich je einmal den einschlägigen Bildern in den Geschichtsbüchern und den täglichen Nachrichten mit wachem Bewusstsein ausgesetzt hat, dem sind solch quälende Fragen vertraut. Man kann sie natürlich auch verdrängen und sich in die „Besinnungslosigkeit“ (80) des alltäglichen Lebens mit seinen kleinen Freuden und Schmerzen flüchten. Aber im Untergrund des Geistes ist damit eine Fragwürdigkeit alles Seins und Sinns aufgebrochen, die das Fundament des Lebens brüchig macht und die bis zur völligen Verzweiflung führen kann.

Was macht den Menschen anfällig für derartige Erschütterungen? Soweit wir wissen, ist dem Affen solches ja fremd. Schneiders’ anthropologische Skizze vom sinnbedürftigen Mängelwesen zählt zu den stärksten Passagen des Buches. Sie konstatiert „eine Art prinzipielle Unrast im Inneren des Menschen … Offensichtlich wollen wir ständig mehr sein, als wir schon sind“. Der Grund solcher Unrast aber muss ein Mangel sein, der nach Erfüllung drängt.

„Es ist die erlebte, gleichwohl meist verhehlte innere Leere, das innere Nichts, insofern Langeweile, Mangel an Sinn oder Erfüllung bzw. die Flucht vor der Leere, durch die der Mensch sich im Innersten bedroht fühlt, die ihn überall und noch in den absurdesten Vorstellungen und Taten Befriedigung suchen läßt“ (31).

Stellenweise klingt in diesen Beschreibungen der Sound des Existenzialismus der 1940er und 1950er Jahre an, und man muss unwillkürlich an Romane von Camus oder Dramen Becketts denken. Aber ist die darin vermittelte Ansicht vom Menschen deshalb obsolet? Es bleibt der insgesamt sehr nüchtern dargebotene Befund eines prinzipiellen Ausseins auf (Sinn-)Erfüllung, das die Bedingung der Möglichkeit prinzipieller Enttäuschung und Verzweiflung ist:

„Der Mensch als ein offenbar sinnbedürftiges Wesen kann nach dem Sinn von diesem und jenem fragen und am Sinn von diesem und jenem zweifeln oder sogar verzweifeln. Und angesichts der vielen augenscheinlichen Sinnlosigkeiten und Sinnwidrigkeiten, die durch Schicksal oder Schuld entstehen und diese Welt verunstalten, kann das konkrete Fragen irgendwann zum prinzipiellen Fragen werden. Was ist der Sinn des Leidens? Ja sogar: Welchen Sinn hat das Ganze?“ (32f) Und: „Was ist dann der Sinn des Lebens?“ (13)

Glaube an letzten Sinn

Das Erwachen der „emphatischen“ (86) Sinnfragen wird von Schneiders gut nachvollziehbar, wenn auch etwas einseitig geschildert. Neben dem Leiden drängt sich ja vor allem auch die Erfahrung der Vergänglichkeit als Anlass für prinzipielle Sinnreflexionen auf, davon ist bei Schneiders aber kaum die Rede. Womöglich ist die Fokussierung auf die Leidensproblematik der Verkopplung mit dem Theodizeeproblem geschuldet, der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leides: „Und nicht zuletzt der Fromme fragt sich: Wie verträgt sich die Existenz des Leidens mit der Existenz eines gütigen und gerechten, allwissenden und allmächtigen Gottes?“ (13) Diese Parallelisierung von Sinn- und Theodizeeproblem hat einen tieferen Grund. Offenkundig hängt die Sinnfrage für Schneiders mit der Gottesfrage zusammen, und der Zweifel am Sinn mit dem Zweifel an Gott,daher auch der moderne Nihilismus mit dem modernen Atheismus. Fällt im Zuge des Glaubensverfalls in der Moderne Gott als „Sinngrund und Sinngarant“ aus, verlieren die Sinnannahmen des Menschen gewissermaßen ihr Fundament. Der Sinn wird fragwürdig und erodiert.

Damit ist ein maßgeblicher Punkt von Schneiders’ sinnphilosophischen Ausführungen berührt, welcher der These von der „Globalisierung des Nihilismus“ besonderen Tiefsinn verleiht – der aber nicht jedem Leser ohne Weiteres nachvollziehbar sein wird. Auch mag bei mancher Leserin der Verdacht aufkommen, die ganze Theorie laufe auf eine konservative Beschwörung einer Rückkehr zur Religion als dem Rettungsanker in der Sinnkrise hinaus. Aber dieser Verdacht einer „kryptotheologischen“ (50) Agenda wird sich nicht bestätigen, jedenfalls nicht direkt.

Der Zusammenhang von Gottesglaube und Sinnerfahrung wird von Schneiders sinnlogisch begründet. Ausschlaggebend ist dafür der Gedanke, dass „die Annahme eines bedingten Sinns im Grunde unter der unwillkürlichen Voraussetzung eines letzten Sinns [steht]“ (34). Jede einzelne Sinnerfahrung oder -behauptung hängt demnach gleichsam in der Luft, wenn sie nicht auf der (heimlichen oder offenen) Prämisse aufruht, dass das Ganze der Wirklichkeit sinnhaft, von einem letzten, „unhinterfragbaren“ (14), unbedingten Sinn „getragen“ ist. Anders gesagt: Jede menschlich-subjektive Sinnstiftung oder Sinnsetzungschöpft ihre Sinnhaftigkeit nicht aus sich selbst, sondern aus der Quelle eines umfassenden „metaphysischen Sinns“ (71) des Seins, der allen endlichen Sinn zugleich transzendiert und fundiert. Und insofern der Glaube an Gott den Glauben an einen solchen „alles tragenden Sinn“ (71) der Welt impliziert, wird dem Menschen mit dem Gottesglauben schließlich auch der „Grundsinn des Seins“ (101) und damit der Sinn überhaupt brüchig.

Nur wer den sinntheoretischen Überschritt vom bedingten Sinn zu dem darin notwendig in Anspruch genommenen „absoluten Sinn“ (65) gedanklich mitvollzieht, dem kann auch die Moderne- und Gegenwartsdeutung einleuchten, die Schneiders daraus ableitet. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass wir es weder bei den sinntheoretischen Grundlagen noch bei der modernetheoretischen Applikation mit eigensinnigen Privateinfällen Schneiders’ zu tun haben. In klassischer Formulierung finden sich die Grundgedanken in Paul Tillichs religionsphilosophischen und zeitdiagnostischen Schriften der 1920er Jahre (z. B. Religionsphilosophie, 1925). Aber die Reformulierung dieser Gedanken – gleich ob unter Verwendung dieser oder anderer Vorlagen – ist ein eigenes Verdienst. Denn im Gegensatz zu den hoch abstrakten und hoch verdichteten Ausführungen Tillichs sind die fraglichen Zusammenhänge bei Schneiders in ihrer sinnlogischen Struktur und in ihrer existenziellen Brisanz ohne Weiteres verständlich. Schneiders’ Büchlein eignet sich daher geradezu als Kommentar zur sinnphilosophischen Basis der (frühen) Religionskonzeption des großen protestantischen Philosophen und Theologen. Dies trifft zu, auch wenn Schneiders’ Reflexionen gar nicht von Tillich inspiriert sein sollten – und auch wenn sie am Ende durchaus zu abweichenden Schlüssen führen.

Im Schatten von Historismus und Naturalismus

Die geistesgeschichtlichen Vorgänge, die zur doppelten Erosion des Gottesglaubens und des „Glaubens an die Sinnhaftigkeit alles Sinnes“ (Tillich) geführt haben, werden von Schneiders leider nur kurz gestreift. Genannt werden die Entstehung des Bewusstseins von der historisch-kulturellen Kontextabhängigkeit aller Wert- und Sinnzuschreibungen (52: „Historisierung“), der methodische Atheismus der modernen Wissenschaften und die allgemeine Rationalisierung des Lebens, insbesondere aber die „Naturalisierung“ (52) des Menschen- und Weltbildes. Wer die Wirklichkeit insgesamt und wer sich selbst wesentlich als eine Komplexion von physikalischen und biochemischen Prozessen ansieht, dem erscheint jede Transzendenzidee als Relikt aus vorwissenschaftlicher Zeit. Er wird überhaupt mit allen idealen Annahmen geistigen Seins, einschließlich der Annahme von Sinn „in einem emphatischen Sinn“ (86), erst recht mit dem Gedanken eines „metaphysischen Lebens- und Seinssinns“ (75) größte Schwierigkeiten haben. Und da zur Fundierung aller Sinnerfahrung eben ein solcher „alles übersteigender Sinn“ (37) angenommen werden muss, steht der moderne Empiriker im Blick auf diese grundlegende Dimension geistigen Lebens mit leeren Händen da – denn es ist unmöglich, jenen transzendenten Sinn mit empirischen Mitteln aufzuweisen. Die Folge:

„Der Mensch begreift sich heute immer öfter als ein gottverlassenes Wesen in einer eigentlich belanglosen Ecke eines im Grunde sinnlosen Universums: ein Nichts in einem nichtigen Geschehen“ (106).

Um in diesem sinnleeren Universum dennoch ein sinnvolles Leben zu behaupten, wird in der Konsequenz „aller Sinn zum bloß subjektiven Sinn erklärt und damit die freie, nämlich von allem objektiven Sinn freie Sinnsetzung als alleinige Wahrheit proklamiert“. Aber diese trotzige Proklamation von Sinnerfüllung durch subjektive Sinnsetzung geht ins Leere, weil sie „in einem Nichts von Sinn, im Nichts der Sinnlosigkeit von allem“ (73) stattfindet. Der „Transzendenzverlust“ (88) macht den radikal empirisch denkenden Menschen zwangsläufig zum „Sinnbankrotteur“ (107), den früher oder später das „Gefühl“ beschleichen muss, „dass es mit allem irgendwie nichts ist“ (99). Willkommen im „Zeitalter grassierenden Sinnverlustes“ (69)!

Diagnostische Mängel

Das von Schneiders gezeichnete Bild von der geistigen Lage der Gegenwart ist eindrucksvoll und philosophisch anspruchsvoll. Ist es aber nicht etwas arg schwarz geraten? Leicht lassen sich Einwände erheben. Unübersehbar belehnt Schneiders die lange vorherrschende Annahme einer fortschreitenden „Säkularisierung“ der Moderne, wonach die Religion (samt dem in ihr aufbewahrten Sinnglauben) im Zuge allgemeiner Rationalisierungsprozesse unaufhaltsam ihre Prägekraft für das Leben der Menschen einbüßt. Erlebt aber nicht die Religion derzeit weltweit – abgesehen von Europa – einen großen Aufschwung? Muss der beschriebene Komplex von Atheismus und Nihilismus also nicht doch eher als ein spezifisch europäisches Phänomen angesehen werden, womit die behauptete „Globalisierung des Nihilismus“ widerlegt wäre? Und müsste man nicht auch für Europa, ja selbst für den weltweit einzigartig „gottlosen“ Osten Deutschlands, mehr Aufwand an kulturhermeneutischer Diagnostik betreiben, um die Wahrnehmung eines „grassierenden Sinnverlustes“ zu untermauern? Es handelt sich dabei ja durchaus nicht um ein unbestreitbares „Faktum“ (109), wie Schneiders behauptet, sondern um eine voraussetzungsreiche Interpretation der Gegenwart, die sich einem auch anders darstellen kann. Denn steigen nicht auch und gerade in Sachsen-Anhalt, im „Land der Frühaufsteher“, die allermeisten Menschen frühmorgens aus dem Bett, ohne lange mit der neuerlichen Sinnlosigkeit des anbrechenden Tages zu ringen?

Tatsächlich hätte man sich von Schneiders mehr konkrete Belege für seinen „Eindruck einer allgegenwärtigen Sinnkrise“ (90) gewünscht. Es könnte ja sein, dass sich dieser Eindruck einem kulturkritischen Klischee verdankt, dem Menschen im Alter häufig zuneigen. Allerdings wäre es eine kulturhermeneutische Herausforderung für sich, in den Sinnvollzügen der Gegenwartskultur Spuren der behaupteten Sinnerosion aufzudecken – das hätte den Rahmen des Buches vermutlich gesprengt. Dass der Autor den von ihm konstatierten „allgemeinen Sinnverfall“ (5) keineswegs als einen „totalen Sinnverlust“ versteht, sei dabei noch einmal eigens festgehalten. Das wäre ja auch eine allzu augenfällige Übertreibung. Das Normale ist, dass sich die Leute jeden Morgen neu ihrem „Sinnalltag“ widmen. Die radikal-nihilistische Infragestellung oder Leugnung eines jeden Sinnes hält auf die Dauer kein Mensch aus. Im Übrigen verwickelt sich der radikale Nihilist, wie Schneiders hervorhebt, immer wieder in Selbstwidersprüche, weil er mit seiner Sinnlosigkeitsbehauptung eine Wahrheit für sich proklamiert und damit selbst eine „letzte Sinnbehauptung“ (115) erhebt. Die Leugnung jedes Sinnes kommt einem Selbstwiderspruch des menschlichen Geistes gleich. Der dezidierte, theoretische Nihilismus kann daher kaum allgemein werden.

Zwischen Sinnglaube und Sinnzweifel

Was sich zunächst wie eine sehr schlichte und einseitige Sicht ausnimmt, entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als eine in sich recht komplexe Diagnose. Der Grundgedanke von der notwendigen Angewiesenheit der menschlichen Sinnvollzüge auf einen transzendenten Sinngrund schreibt dem Menschsein einen wesenhaften Mangel ein, der aufgrund besagter Transzendenz niemals endgültig erfüllt werden kann, der aber aufgrund der betreffenden Fundierungsfunktion des unbedingten Sinnes auch nicht völlig unerfüllt bleiben kann. Irgendwie wird die Sinnhaftigkeit des Ganzen vom Menschen daher in einem „schweigenden Glauben“ (Tillich) immer wieder vorausgesetzt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich erklärte Nihilisten bzw. Atheisten zur unbedingten Gültigkeit von Menschenrechten bekennen, was nach Schneiders wiederum eine Inanspruchnahme unbedingten Sinnes impliziert. So eröffnet die Idee einer latenten Sinnannahme eine hermeneutische Perspektive auf Gestalten atheistisch-humanistischen Glaubens, die für das Gespräch mit konfessionslosen Zeitgenossen einiges an Verständnis- und Verständigungspotenzial bieten dürfte.

Freilich, jener latente Sinnglaube ist unbeschadet seiner allgemeinen Verbreitung in sich instabil. Sofern er nicht in einem offenen Transzendenzglauben ausdrücklich wird und sich damit religiös stabilisiert, enthält er eine latente Fragwürdigkeit und Unsicherheit. Er kann dem Menschen daher jederzeit abhandenkommen.

„Das Leben kann in eine Sinnkrise geraten, partielle Sinndefizite scheinen sich nicht selten zu einer prinzipiellen Bedrohung zu entwickeln. Plötzlich ist da die Angst vor der absoluten Sinnlosigkeit unseres Lebens und der Welt, in der wir leben“ (75).

Vor dieser Bedrohung flüchten viele in die kurzfristigen und oberflächlichen Erfüllungserlebnisse und Zerstreuungsangebote der hedonistischen Freizeitkultur. Aber auch eine solche „Flucht vor dem Leerlauf des eigenen Lebens“ (95) kann nicht dauerhaft verdrängen, dass es sich eigentlich bloß um „Sinnsurrogate und Sinnattrappen“ (114) dreht – und damit tatsächlich leerläuft. Indessen stürzt beim Erwachen des „Sinnlosigkeitsverdachts“ (91) das Sinnleben selten gleich gänzlich zusammen, um in nihilistische Totaldepression zu verfallen. Eher ist mit einer schleichenden Aushöhlung des Sinnerlebens zu rechnen, mit dem Platzgreifen einer „inneren Unerfülltheit“ (32).

Religiöse Sinnstabilisierung?

Die empirische Unaufweisbarkeit bei gleichzeitiger Unverzichtbarkeit des letzten Sinnes zwingt den modernen Menschen in ein labiles Schweben zwischen latentem Sinnglauben und latentem Sinnzweifel, so lässt sich die Basiskonstruktion von Schneiders’ Zeitdiagnose zusammenfassen (die wirklich enorm an Tillich erinnert). Folglich lässt sich dieses Schweben in zwei Richtungen stillstellen: einerseits – bei ganz wenigen – in Gestalt eines expliziten Nihilismus, anderseits – bei nicht ganz so wenigen – in Gestalt eines religiösen (Letztsinn-)Glaubens. Aber auch die religiöse „Sinnstabilisierung“ (68) ist nicht gegen die Anfechtung des Sinnzweifels gefeit.

„Auch die Religion ist keine feste Burg. Selbst bei einem nicht sehr wahrscheinlichen Sieg irgendeiner Religion oder auch der vereinten Religionen dieser Welt bleibt der Nihilismus im Grunde erhalten, denn er haust sogar im Herzen der Religion. Jede Religion hat bisher den Keim ihres Verderbens in sich getragen, der Zweifel nagt immer auch am eigenen Glauben. Kurz, der Nihilismus ist wahrscheinlich auch durch Religion nicht auszurotten, jedenfalls nicht durch irgendeinen salto mortale“ (112f).

In diesen Sätzen wird deutlich, dass Schneiders die vitale Realität der Religion bei seiner Gegenwartsdeutung durchaus mit im Blick hat – und dass er sie gleichwohl nicht für eine aussichtsreiche Option für die „Überwindung des Nihilismus“ hält. Denn auch die religiöse Affirmation unbedingten Sinns ist, spätestens seit der Etablierung der modernen Skepsis, beständig dem Zweifel ausgesetzt. Und auch ihre Versuche, sich dagegen abzuschotten, müssen fehlschlagen.

Nach Schneiders’ Auffassung neigt die Religion dazu, den atheistisch-nihilistischen Abgrund von Gott- und Sinnlosigkeit mit dem Postulat eines transzendenten Sinngaranten wie mit einem „salto mortale“ überspringen zu wollen. Das heißt: Ein derartiges Postulat, meist in Form der Behauptung göttlicher Offenbarung, ist nichts anderes als eine eigenmächtige (wenn auch in ihrer Eigenmächtigkeit verschleierte) Setzung des im Sinnleben vorausgesetzten Sinngrundes. Sie ist ein dezisionistischer Willensakt, der etwas Unmögliches unternimmt: eben die Setzung der eigenen Voraussetzung. Auch die Behauptung einer Offenbarung letzten Sinnes ist als menschliche Behauptung eine menschliche Setzung, genauer: die Setzung eines letzten Sinnes als nicht-gesetzte Voraussetzung. Aber auch diese Setzung muss früher oder später dem Zweifel an der eigenen Legitimität und Wahrheit erliegen – wahrscheinlich weniger in Gestalt eines krachenden Zusammenbruchs als in Gestalt innerer Auszehrung. Ist im Menschen einmal die kritische Vernunft erwacht, ist die Macht des Zweifels zu groß, um sie durch religiöse oder theologische Machtsprüche brechen zu können. Darum gilt:

„Vielleicht sind sogar alle Menschen mehr oder weniger Nihilisten, auch die oder sogar gerade die, die durch den ‚Sprung‘ in irgendeinen Glauben ihre Seele zu retten versuchen“ (102f).

Insofern gerade die dezisionistische Gewaltsamkeit des konfessorischen Sinnfixierungsunternehmens der Religion die Macht des zu überwindenden Zweifels verrät, entlarven sich die Anhänger des entschiedenen Glaubenssprunges als „anonyme Nihilisten“ (um Karl Rahners Wendung von den „anonymen Christen“ abzuwandeln). In gesteigerter Form kann dies von den „militanten Gläubigen“ gesagt werden, die als „fanatische Antinihilisten“ auftreten, deren Fanatismus sich laut Schneiders aber leicht als „nur schlecht überdeckter Zweifel“ und „verzweifeltes Glaubenwollen“ dechiffrieren lässt – und damit als „Unglaube“ (102).

Agnostische Sinnhoffnung

Was aber ist die Lösung für das abgründige Problem, wenn sich die Religion, die „uralte Gegenbewegung zum Nihilismus“ (112), dafür bei aufgeklärt-nüchterner Betrachtung als untauglich erweist? In dieser entscheidenden Frage zeigt sich der Philosoph überraschend wortkarg. Es gibt Krankheiten, bei denen die Diagnose leichter fällt als die Therapie – was den Wert der Diagnose nicht unbedingt mindert. In welcher Richtung Schneiders eine mögliche Lösung sieht, deutet sich in der doppelten Abgrenzung von entschiedenem „Sinnnihilismus“ (106) einerseits und religiösem „Sinnpostulat“ (114) andererseits immerhin an. Bedeutet der dezidierte Nihilismus Verzweiflung, ist der dezidierte religiöse Antinihilismus in Schneiders’ Augen willkürliche „Verdrängung“ (109) und Flucht. Aber „das Nichts nicht aushalten zu können verweist auch auf Mangel an Sinnhoffnung“ (107). Damit sind die maßgeblichen Stichworte gefallen. Schneiders setzt auf die Bewährung von „Sinnhoffnung“ im „Aushalten“ oder „Standhalten“ vor der potenziellen Sinnleere.

„Wenn der Antinihilismus … nur die Unfähigkeit ist, sich der Möglichkeit der Sinnlosigkeit von allem auszusetzen, also das Nichts (an Sinn) auszuhalten, so ist er als sich selbst schützende Sinnbehauptung eine Verlogenheit, hinter der sich die eigene Nichtigkeit versteckt; wirklicher Sinn könnte sich nur im Standhalten in der möglichen Sinnlosigkeit zeigen. Insofern wäre das Aushalten der Möglichkeit absoluter Sinnlosigkeit ein erster möglicher Anfang für das Finden von Sinn“ (108).

Die Differenz der gesuchten Einstellung gegenüber den beiden Alternativen zur Linken und zur Rechten ist deutlich. Was Schneiders als einzig noch gangbarer Weg angesichts des weder erkenntnis- noch willensmäßig zu überwindenden Abgrundes möglicher Sinnlosigkeit vorschwebt, ist es, auf die konfessorische Negation oder Affirmation letzten Sinnes zu verzichten und sich auf unfixierbare „Sinnhoffnungen“ und „Sinnvermutungen“ (116) zu beschränken. Anstelle des nihilistischen Bekenntnisses zur Sinnleere oder des religiösen Bekenntnisses zu einem göttlichen Sinngaranten „bleiben nur das Bekenntnis zum Nichtwissen und das Aushalten des Nichtwissens“ (117) um den letzten Sinn. Und, so könnte man ergänzen, das standhafte Offenhalten der Möglichkeit von punktuellen Erfahrungen der Sinnfülle und Sinnfindung, in denen sich „die mögliche Existenz von Sinn“ (117) für Augenblicke als reale Möglichkeit zeigt. „Vielleicht bleibt … nur die Ratlosigkeit, das Verharren vor dem Dunklen, Unverfügbaren (ohne Flucht ins Mysterium)“ (117f), schreibt Schneiders – und lässt damit anklingen, dass die in diesem „Dunkel“ des zweifelnden Nichtwissens und der hoffenden „Ratlosigkeit“ festgehaltenen Sinnvermutungen in Momenten „unverfügbarer“ Sinnerschließung womöglich auch emphatische Bestätigung finden können. Statt radikalem, „heroischem Nihilismus“ (110) und religiösem Sinnenthusiasmus (oder -dogmatismus) empfiehlt Schneiders demnach eine Haltung, die man als hoffnungsvollen Sinnagnostizismus bezeichnen könnte.

Verleugnete Nähe zum Religiösen

Schneiders hat mit diesen Bemerkungen eine Welt- und Lebensanschauung umrissen, die sozusagen zwischen radikalem Nihilismus und religiösem Antinihilismus anzusiedeln ist – sie wird von ihm als „transnihilistisch“ (115) tituliert. Es ist fraglos eine respektable Haltung, die in ihrer Nüchternheit und undogmatischen Sinnoffenheit für viele Zeitgenossen eine attraktive Alternative sein mag. Natürlich lassen Schneiders’ Fingerzeige auch Fragen offen. Zunächst: Woher wächst dem zwischen Hoffnung und Zweifel ausharrenden Sinnsubjekt die innere Kraft zu, dem möglichen „großen Umsonst“ von Leben und Welt nicht religiös auszuweichen, sondern ihm tapfer „ins Gesicht zu sehen“ (110)? Ist nicht auch für diese Einstellung ein gerüttelt Maß an geistiger Tapferkeit gefordert, die angesichts der Größe der Bedrohung nicht jedermann aufzubringen vermag? Und weiter: Könnte man die fragliche Haltung des mutigen Standhaltens vor dem „großen Umsonst“ und des hoffenden Ausgreifens auf ein noch größeres Um-dessen-willen nicht auch mit guten Gründen „religiös“ nennen?

Schneiders scheut diese Bezeichnung, weil für ihn „Religion“ allem Anschein nach gleichbedeutend ist mit der dogmatisch-konfessorischen Behauptung eines unbedingten Sinngrundes oder Sinngaranten (in Anlehnung an Dietrich Bonhoeffers Ausdruck „Offenbarungspositivismus“ könnte man von einem religiösen „Sinnpositivismus“ sprechen). Diese Gleichsetzung ist auch verständlich, weil sie, um hier nur für das Christentum zu sprechen, das theologische Selbstverständnis eines Gutteils der Religionsangehörigen, vor allem aber der theologischen Funktionselite treffend wiedergibt. Aber es könnte sich hierbei ja auch um ein Selbstmissverständnis handeln. Jedenfalls gibt es in der christlichen Theologie der Moderne auch einen vernehmbaren Chor von Stimmen, die die besagte Identifikation als eine dogmatische Überformung der ursprünglich nicht lehr- und „behauptungshaft“, sondern vorbegrifflich-vollzugshaft verfassten (christlichen) Religion abgelehnt hätten. Ist aber Religion weniger das Fürwahrhalten eines Bekenntnisses, sondern eher „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“, um die berühmte Formel Friedrich Schleiermachers zu zitieren, wäre dann nicht auch Schneiders’ „transnihilistisches“ Hoffen auf unendlichen, unbedingten Sinn als eine (relativ unbestimmte) Gestalt von Religion zu begreifen? Könnte man das Ausharren vor dem möglichen Nichts des Sinnes vermöge seiner Ausrichtung auf eine sinnerschließende Negation dieses Nichts nicht geradezu als eine „Negative Theologie des Sinnes“ bezeichnen?

Legt man einen entsprechend undogmatischen Begriff von Religion zugrunde, wird die Grenze des Schneiders’schen „Transnihilismus“ zum Religiösen unscharf. Bringt man die (frühe) Religionskonzeption des bereits genannten Paul Tillich in Anschlag, wonach Religion als „Richtung des Geistes auf unbedingten Sinn“ zu fassen ist, dann hat Schneiders mit der betreffenden Sinneinstellung geradewegs einen modernen Typus von Religion beschrieben. Allerdings gibt es, soweit man das aufgrund der knappen Äußerungen beurteilen kann, einen gewichtigen Unterschied. Nach Tillich zeichnet es die Religion aus, dass sie die Angewiesenheit des Geistes auf unbedingten Sinn durch bestimmte Vorstellungen symbolisch zum Ausdruck bringt. So dient in vielen Religionen die zentrale Vorstellung eines Gottes der Symbolisierung des unbedingten Sinnes. Religion ist demnach vor allem das symbolische Ausdrücklichwerden des „schweigenden Glaubens an die Sinnhaftigkeit des Sinnes“ und eine sich am Symbol vollziehende Erschließung dieser Sinnhaftigkeit. Derartige Symbolisierungsvollzüge sucht man bei Schneiders vergeblich. Sein „Transnihilismus“ ist eine Religion ohne Symbole, daher ohne Kult und „ohne Mysterium“. Ob eine derart unbestimmte und formlose Religion nachhaltig die sinnerschließende und sinnfundierende Kraft entfalten kann, die sie braucht, um als neue „Gegenbewegung zum Nihilismus“ wirken zu können, ist die Frage. Vieles spricht dafür, dass in dieser Hinsicht die „alten“ Religionen nach wie vor deutlich im Vorteil sind – trotz aller Anfälligkeit für Kritik.

Ein kleines Buch mit großem Gewicht

Zwei Jahre vor seinem Tod hat Werner Schneiders mit dem vorliegenden Werk ein Reflexionsbuch vorgelegt, das für die Betrachtung der weltanschaulichen Lage der Gegenwart in mehrfacher Hinsicht Grundlegendes in Erinnerung ruft. Es lenkt mit dem Nihilismusthema den Blick auf ein existenzielles Schlüsselproblem des Menschseins, mit dem alle Weltanschauungen in irgendeiner Weise zu tun haben. „Wie hältst du’s mit dem Sinn?“, diese Gretchenfrage kann als Leitgesichtspunkt dienen, anhand dessen sich Weltanschauungen bzw. Religionen überhaupt produktiv miteinander vergleichen lassen. Insofern liegt die basale Leistung des Buches auf einer weltanschauungshermeneutischen Ebene. Es macht verständlich, inwiefern es begrifflich „sinnvoll“ ist (hier in einer nichtemphatischen Bedeutung genommen), beispielsweise religiöse und areligiöse oder agnostische Grundeinstellungen unter die gemeinsame Kategorie der „Weltanschauung“ zu subsumieren: Immer handelt es sich auch um verschiedene Weisen, sich zum anthropologisch unhintergehbaren Sinnproblem zu verhalten.

Darüber hinaus bringt Schneiders mit der sinntheoretischen Relation von bedingtem und unbedingtem Sinn einen Verständnisschlüssel für die Grundaporie menschlichen Sinnlebens in Erinnerung, anhand dessen sich nicht nur das Religiöse anthropologisch erschließen lässt, sondern auch eine religiöse Tiefendimension von Weltanschauungen, die sich selbst in scharfer Abgrenzung von der religiösen Option verstehen. Heimliche „Sinnreste“ (114) und letzte „Sinnansprüche“ (111) finden sich im Grunde in jeder Weltanschauung, ob es ihr bewusst ist oder nicht. Entschieden areligiöse Einstellungen werden sich freilich dagegen verwahren, aufgrund solcher Sinnansprüche religiös vereinnahmt zu werden, und sie werden das Grundaxiom eines „letzten Sinnes“ als „kryptotheologisches“ Relikt innerhalb der Sinntheorie einstufen. Dagegen ist auch wenig einzuwenden. Dies ändert aber wenig an der großen Evidenz, welche das existenzielle Gewicht der möglichen Verzweiflung am Sinn dem besagten Axiom verleiht.

Schließlich erneuert Schneiders mit seiner Sinntheorie ein äußerst erschließungskräftiges Deutungsschema für den weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart, zumindest für Europa. Nimmt man die Sinnfrage als Bezugspunkt, hat es eine suggestive Plausibilität, die Weltanschauungen zwischen den beiden Polen eines radikalen Nihilismus auf der einen und einer radikalen, fundamentalistisch-religiösen Sinnbehauptung auf der anderen Seite zu lokalisieren. Zwischen diesen Polen lassen sich mannigfache Formen (samt Mischformen) von Sinnerosion und heimlichem Sinnglauben, Formen der Verdrängung und Flucht vor der Sinnfrage, aber auch Formen eines undogmatischen und nicht-fundamentalistischen Sinnhoffens und -glaubens denken. Es wäre höchst reizvoll, dieses Schema weiter kulturhermeneutisch zu erproben.

Im Übrigen wird man beim Lesen auch auf die eigene Sinnexistenz zurückgeworfen, auf die eigenen Sinnzweifel und das eigene Sinnhoffen. Sich dem auszusetzen fordert einen gewissen Mut. Aber es bietet die Chance, sich in den letzten Belangen des Lebens besser zu verstehen.


Martin Fritz, 05.01.2023

 

Anmerkung

1  Vgl. dazu die Ausführungen des Verf. im letzten Heft der ZRW, in denen wiederum die vorliegende Rezension verarbeitet wurde (Nihilismus, in: ZRW 85/2 [2022], 448 – 457).