Hansjörg Hemminger

Kreationismus - die bessere Wissenschaft?

Erscheinungsformen in Deutschland und in den USA

Das Verhältnis von christlichem Glauben und Naturwissenschaft wird in Europa meist nur dann diskutiert, wenn in den Medien über den Streit um die Evolutionstheorie berichtet wird: oft aus den USA, selten aus deutschen Klassenzimmern. Man reagiert mit Unverständnis, man hat sich an die Koexistenz des Christentums mit der Naturwissenschaft gewöhnt. Die Nachrichten von jenseits des Atlantiks werden aber verständlicher, wenn man die Geschichte des Kreationismus kennt.

Der Kreationismus (creationism, creation science) ist Teil des protestantischen Fundamentalismus, wie er sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA herausbildete. Dass die Bibel, vor allem in der Urgeschichte, die Grundlage jeder Wissenschaft liefert, ist aus seiner Sicht ebenso klar wie die Überzeugung, dass die Bibel die Grundlage jeder Moral darstellt. Dabei versuchte sich der Kreationismus mit den Mitteln wissenschaftlicher Argumentation zu behaupten. Er beanspruchte, nicht nur eine alternative, sondern die bessere Wissenschaft zu sein. Der Langzeit-Kreationismus (day-age-creationism) deutete die Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1) so, dass jeder der sieben Schöpfungstage für einen Äon der Erdgeschichte steht. Auf diese Weise lassen sich der naturwissenschaftliche und der biblische Zeitrahmen harmonisieren. Der Vorzeit-Kreationismus (gap creationism) ging davon aus, dass zwischen die ersten beiden Sätze der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1) eine lange Epoche einzuschieben sei; am Ende dieser Zeit war die Erde „wüst und leer“. Dann folgte die zweite Schöpfung in sieben Tagen.

Beide Entwürfe spielen allerdings heute nur noch eine geringe Rolle. Es dominiert der Kurzzeit-Kreationismus (young earth creationism), der die sieben Schöpfungstage als Kalendertage auffasst. Je nachdem, ob man die Genealogien der biblischen Urgeschichte (vor allem 1. Mose 5 und 10) als lückenlose Folgen betrachtet oder nicht, kommt man auf ein Weltalter von 6000 bis maximal 12000 Jahren. Deshalb sind seine Aussagen mit nahezu allen Feldern der Naturwissenschaft unvereinbar. Kosmologie, Geologie und Biologie stützen ihre Zeitmessungen auf physikalische Methoden, so dass der Kurzzeit-Kreationismus gezwungen ist, Physik und Geologie neu zu konstruieren. Trotzdem setzte sich in der fundamentalistischen Weltsicht und im politischen Konservativismus der USA diese radikalste Form der Evolutionskritik durch. In letzter Zeit bestimmt auch noch ein anderes Thema die Diskussion um Bibel und Evolution, nämlich das „intelligent design“. Dieses Thema kann hier nicht näher betrachtet werden.

Kreationismus und Politik

Einen Höhepunkt erlebte der Kreationismus in den USA in den zwanziger Jahren. Im Jahr 1921 wurde in Kentucky zum ersten Mal eine Gesetzesvorlage eingebracht, nach der es verboten sein sollte, die Abstammung des Menschen von Tieren an staatlichen Schulen zu lehren. Zwischen 1921 und 1929 gab es ähnliche Vorlagen in 31 Staaten. In Tennessee wurde sie 1925 zum Gesetz (Butler Act), in Mississippi 1926 und in Arkansas 1928.1 Zum Showdown der Befürworter und Gegner kam es bereits 1925 beim so genannten Affenprozess von Dayton in Tennessee. Ein Lehrer namens John T. Scopes wurde von der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) aufgefordert, gegen das Gesetz zu verstoßen, und folglich angeklagt, die Abstammung des Menschen vom Affen gelehrt zu haben. Er wurde zu 100 Dollar Geldstrafe verurteilt, später jedoch vom obersten Gericht Tennessees freigesprochen. Verteidigt wurde er von dem landesweit bekannten Juristen Clarence Darrow, die ACLU übernahm die Prozesskosten. Die Anklage wurde von einem der prominentesten Politiker des Landes als Assistenten der Staatsanwaltschaft unterstützt, nämlich dem mehrfachen demokratischen Präsidentschaftskandidaten und späteren Außenminister William J. Bryan (1860-1925). Im Streit um die Evolution vertrat Bryan einen Langzeit-Kreationismus. Als Pazifist und Sozialreformer entsprach er nicht dem Bild, das die heutigen Konservativen in den USA abgeben. Wegen der Kriegsgefahr kurz vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg war er von seinem Amt als Außenminister unter dem Präsidenten Woodrow Wilson zurückgetreten.

Für den Kreationismus stellte die öffentliche Debatte trotz des Urteils eine Niederlage dar, denn sein Anliegen war weltweit der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber er verschwand keineswegs, sondern wirkte sich auf die Zulassung von Schulbüchern, den Biologieunterricht usw. kontinuierlich aus. Er gehört seither mit seinen inhaltlichen Wandlungen und seinen unterschiedlichen politischen Zwecken zum Bestand konservativen Denkens in den USA. Nach neuen Umfragen liegt seine Anhängerschaft heute bei 32%, gemessen an der „entschiedenen Ablehnung“ der Evolutionstheorie. Das ist viel mehr als in jedem anderen westlichen Industriestaat.2 In den Gemeinden und Denominationen, in den zahllosen christlichen Privatschulen und -universitäten, im erwecklichen Schrifttum, heute auch im Internet, ist er fest etabliert. Nur aus europäischer Sicht kam es deshalb überraschend, dass Präsident George W. Bush sich 2005 dafür aussprach, in staatlichen Schulen „intelligent design“ zu unterrichten.

Ab 1960 verschwand die Vielfalt kreationistischer Ideen immer mehr, und der Kurzzeit-Kreationismus trat in den USA seinen Siegeszug an. Ausgangspunkt war das Buch von J. C. Whitcomb und H. M. Morris „The Genesis Flood“, das versuchte, die Sintflut als historisches Ereignis zu beweisen. Nach Ansicht der Autoren wurden die geologischen Schichten und die Fossilien in ihnen fast alle von einer weltweiten Flut vor rund 6000 Jahren abgelagert. Mit dieser Sichtweise setzten sie sich in den USA durch. Die Suche nach der Arche Noah in der Türkei, in Armenien, im Iran und anderswo blieb zwar vergeblich, trotzdem wurde das Institute for Creation Research (ICR) in Santee bei San Diego (mit dem Präsidenten und späteren Alterspräsidenten Morris, verstorben am 25. Februar 2006) zum Zentrum des Kreationismus in den USA.

Ein wesentlicher politischer Grund für den Erfolg war ein Wechsel der Strategie: Es wurde nicht mehr wie zu Scopes Zeiten versucht, die Evolutionstheorie als unamerikanisch verbieten zu lassen. Vielmehr wurden schulmäßige und kreationistische Naturwissenschaft als gleichberechtigte Möglichkeiten dargestellt, die in den Schulen gleichrangig behandelt werden müssten. Die Debatte verschob sich von rechtlichen und politischen Fragen auf Spezialfragen der Naturwissenschaft, die sich der Beurteilung der breiten Öffentlichkeit nur schwer erschließen. Es genügte, plausibel wirkendes und didaktisch gut gemachtes Unterrichtsmaterial vorzulegen, um dem Kreationismus im privaten Schulsystem der USA zu einer großen Verbreitung zu verhelfen. Die zahllosen Publikationen, Internet-Seiten und christlichen Bildungsangebote zu diesem Thema werden außerhalb der USA kaum beachtet.3 Das staatliche Schulsystem erwies sich jedoch als schwieriges Feld, denn dort verhindert der von der Verfassung vorgegebene Laizismus religiöse Unterweisungen. 1968 entschied das oberste Gericht der USA (Supreme Court), dass der Kreationismus als religiöse Lehre zu betrachten und deshalb in staatlichen Schulen unzulässig sei. Anders lautende Regelungen von Einzelstaaten wurden aufgehoben. Als Kansas 1999 noch einmal versuchte, die Evolutionstheorie in den Schulbüchern durch „intelligent design“ zu ersetzen, musste die Regelung auf eine Intervention des Obersten Gerichtshofs hin zurückgenommen werden.

Wortführer des Kreationismus ist heute noch das Institute for Creation Research, inzwischen mit dem Direktor John Morris, dem Sohn des Gründers. Zu erwähnen ist außerdem die Creation Science Fellowship in Pittsburg, Pennsylvania, die alle vier Jahre eine internationale Konferenz veranstaltet. Die sechste wird 2008 in San Diego zum Thema „Entwicklung und Systematisierung von Schöpfungsmodellen“ stattfinden.

Einen Gegenpol dazu bildet die Organisation „Answers in Genesis“ (AiG) des Australiers Ken Ham mit Hauptsitz in Kentucky, die in allen englischsprachigen Ländern und in Japan präsent ist. Eine unduldsame Polemik gegen Andersdenkende nimmt bei ihr viel Raum ein. Die Polemik richtet sich sogar gegen Mit-Kreationisten, die ein höheres Erdalter als 6000 Jahre vermuten. Zum Beispiel wird der britischen Organisation „The Biblical Creation Society“ Kompromisslertum vorgeworfen, weil es in ihr Leute gibt, die eine „Rekolonisation“ der von der Flut verwüsteten Erde in mehreren Wellen über 12000 Jahre annehmen und die Fossilschichten diesen Wellen zuordnen.4 „Answers in Genesis“ beschäftigte 2006 über 160 hauptamtliche Mitarbeiter und plante die Eröffnung eines Naturkundemuseums für mehrere Millionen Dollar.

Ähnlich agiert „The Creation Science Association for Mid-America“ (CSA) in Kansas, die ebenso wie „Answers in Genesis“ an dem erwähnten Streit um den naturwissenschaftlichen Unterricht in Kansas beteiligt war. In der Selbstdarstellung von CSA im Internet heißt es: „Die verbreitete Akzeptanz dieser falschen Ursprungsidee hat körperlichen Schaden für Millionen Menschen allein in diesem Jahrhundert und Gesetzlosigkeit in unserer Gesellschaft verursacht, und unzähligen Menschen eine gute Beziehung zu ihrem Schöpfer genommen.“5

Der Anspruch, ein „reborn Christian“ zu sein, verbindet sich bei AiG und CSA (und vielen anderen ähnlichen Organisationen in den USA) mit politischem Fanatismus. Von daher entsprechen diese – in Europa nahezu unbekannten – Gruppen eher als das ICR (und viel eher als die deutsche Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“) dem Feindbild Fundamentalismus, wie es kirchlich-liberale und säkulare Kreise pflegen.

Deutscher Kreationismus: Ein Blick in die Geschichte

Der Kreationismus in Deutschland verdankt sich dem Einfluss des protestantischen Fundamentalismus der USA auf die evangelikale Bewegung. Dieser Einfluss nahm in den letzten Jahrzehnten stetig zu. Dabei ging die ältere Tradition pietistischer Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft verloren. In einem Teil der evangelikalen Bewegung und in den meisten Freikirchen gehört der Kreationismus inzwischen zur Weltdeutung. Ohne die in den USA herrschende Aufgeregtheit, aber auch ohne Interesse für wissenschaftliche Fragen, hält man es für selbstverständlich, dass die Bibel recht und die Naturwissenschaft unrecht hat. Insofern ist der Kreationismus ein Indikator dafür, wie weit die Amerikanisierung des Evangelikalismus in Europa reicht. Im erwecklichen Protestantismus der Vor- und Nachkriegszeit spielte das Thema „Evolution“ nämlich eine viel geringere Rolle als heute.

In den meisten pietistischen Gemeinschaften hat der Kreationismus immer noch wenig Bedeutung. Hier wirkt nach, dass der Pietismus und die damals so genannten Bibelchristen bis in die Nachkriegszeit hinein mit der Naturwissenschaft kaum im Streit lagen. Der Theologe und Ornithologe Otto Kleinschmidt (1870-1954) entwickelte zum Beispiel eine Weltformenkreislehre, die in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Rassendenken eine wichtige Rolle spielte. Er gründete 1927 das Kirchliche Forschungsheim für Weltanschauungsfragen in Wittenberg mit dem Ziel, Glaube und Naturwissenschaft in eine fruchtbare Beziehung zu setzen.6 In der DDR-Zeit hatte es das Forschungsheim mit einem auf den Kopf gestellten Kreationismus zu tun, denn in den Schulen des SED-Staats wurde gelehrt, dass der christliche Glaube die Ablehnung der Evolutionstheorie erfordere. Das Forschungsheim legte es mit seiner Ausstellung und seinen Informationsmaterialien darauf an zu beweisen, dass der recht verstandene Schöpfungsglaube mit wissenschaftlichem Denken zu vereinbaren sei. Etwa 1972 führte die Situation in der DDR allerdings dazu, dass sich der Arbeitsschwerpunkt des Forschungsheims in den Bereich von Umweltschutz und Ökologie verschob. Inzwischen ging das Werk in der Evangelischen Akademie der Kirchenprovinz Sachsen auf, aber das Erbe Otto Kleinschmidts wird weiter gepflegt.

Ein Zeitgenosse, der Tübinger Paläontologe und angesehene Saurierforscher Friedrich von Huene (1875-1969), war theologisch und naturwissenschaftlich ein ähnlicher Querdenker: „Der Mensch im Sinne der Bibel, der zu Gottes Reich berufen ist, fängt mit Adam an. Aber der Mensch im zoologischen Sinn war schon früher da.“7 Von Huene stellte sich Adam als eine aus der Urmenschheit herausgerufene Einzelperson vor, mit der die Geschichte Gottes und der Menschheit beginnt. Einen Widerspruch zu den (damals spärlichen) menschlichen Fossilfunden sah er nicht.

Ähnliche Ideen hatte der jüngere Chemiker und Fossilexperte Paul Müller (geb. 1896), der durch seine Vortrags- und Publikationstätigkeit das Verhältnis zur Naturwissenschaft bei vielen CVJMs und Gemeinden in der Bundesrepublik prägte.8 Müller orientierte sich an der christlichen Theosophie der schwäbischen „Pietistenväter“ Friedrich Christoph Oetinger und Michael Hahn, aber auch an dem Tübinger Theologen Karl Heim, und ließ sich sogar von dem Theosophen Edgar Dacqué inspirieren. Aus seiner Sicht bringt Gott zuerst eine unsichtbare Welt hervor, die ebenso biblisch bezeugte Realität ist wie die sichtbare Natur: „...die Bibel rechnet vom Anfang bis zum Ende mit zwei Wirklichkeiten, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, die nicht über- oder untereinander liegen, sondern sich aufs innigste durchdringen.“9 Der Garten Eden (1. Mose 2,8-17) ist für Müller kein historischer und geographischer Ort, sondern die ursprüngliche Heimat des ungefallenen Menschen in Gottes unsichtbarer Welt. Eine Naturwissenschaft, die ihren Geltungsbereich methodisch nicht überschreitet, ist daher für den Glauben kein Problem: „Die biblische Offenbarung jedoch, die Welt des Glaubens an die Geburt, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi, die Wahrheiten von Gottes Schöpfung bis zur Vollendung der Welt, auch sein Eingreifen im Wunder, das alles gehört einer Wirklichkeit an, die weit über dem innerweltlich Erforschbaren steht und durch kein Ergebnis der Naturwissenschaft in Frage gestellt werden kann.“10

Es lohnt sich, einen Blick in Kleinschmidts, von Huenes und Müllers fast vergessene Bücher zu werfen, weil sie eine Vielfalt der Standpunkte und Themen belegen, die – bei aller gelegentlichen Neigung zur Spintisiererei – vom Fundamentalismus weit entfernt war. Zu erinnern wäre schließlich noch an den Biologen und Theologen Joachim Illies (1925-1983), der als Katholik Vorbehalte gegenüber der Selektionstheorie hatte, vom heutigen Kreationismus aber ebenso Abstand hatte wie Paul Müller.11 Er publizierte für ein akademisches Publikum und beeinflusste auch viele evangelische Leserinnen und Leser.

Im Rückblick fällt auf, dass sowohl Friedrich von Huene als auch Paul Müller und Otto Kleinschmidt, die hier stellvertretend für eine frühere Generation frommer protestantischer Naturwissenschaftler erwähnt wurden, prominente Vertreter ihres Fachs waren. Von Huene war der Saurierexperte der damaligen Paläontologie. Paul Müller schrieb ein weit verbreitetes Chemielehrbuch für Gymnasien. Die illustrierten Bestimmungsbücher von Otto Kleinschmidt bilden die Zierde der Bibliothek jedes Vogelkundlers, der das Glück hat, sie zu besitzen. Joachim Illies war ein international bekannter Limnologe (Süßwasser-Biologie). Mit ihrem christlichen Zeugnis wirkten diese Personen als Wissenschaftler unter Wissenschaftlern. Wer sich von der Wissenschaft ab und der scheinwissenschaftlichen Welt des Kreationismus zuwendet, verspielt diese Möglichkeit. Besonders die Geschichte des Forschungsheims in Wittenberg sollte den Kreationisten in den neuen Bundesländern zu denken geben. Dass „Wort und Wissen“ inzwischen im Osten unter freikirchlichen Protestanten besonders präsent ist, belegt die zunehmende Gettoisierung des Christlichen und den schwindenden Einfluss der evangelischen Kirche

Die Verbreitung des Kreationismus

Symptomatisch für das Eindringen des US-Fundamentalismus in die evangelikale Bewegung war, dass der akademisch angesehene Maschinenbauingenieur und Betriebswirt Professor Theodor Ellinger (1920-2004) den Kurzzeitkreationismus aus den USA übernahm. Er war Vorsitzender der „Studentenmission in Deutschland“ (SMD) gewesen, trennte sich aber von ihr und gründete 1979 zusammen mit dem Ingenieur und Pfarrer Horst W. Beck die Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“, über die noch zu sprechen sein wird.12 Horst W. Beck wurde durch eine Begegnung mit dem Niederländer Willem J. Ouweneel 1978 vom Kreationismus überzeugt. Er gehörte damals zum Kuratorium der Karl-Heim-Gesellschaft, und einige Zeit waren dort Vorstellungen auf der Grundlage der Theologie Karl Heims und der US-Kreationismus nebeneinander präsent. Auf die Dauer war die Spannung zwischen diesen Positionen jedoch zu groß, und es kam zur Gründung von „Wort und Wissen“. Beck schied später aus dem Kuratorium aus, ohne die Karl-Heim-Gesellschaft ganz zu verlassen.

Die Fachgruppe Naturwissenschaft der Studentenmission in Deutschland, die in diesen Prozess besonders verwickelt war, führte 1977 und 1978 drei Tagungen zum Thema Kreationismus durch. Daraus entstand ein umfangreicher Sammelband, der inzwischen bereits vier Auflagen erreichte.13 Darin kommen Kritiker der biologischen Theorien zu Wort; in der Summe laufen die Beiträge aber auf eine kritische Zustimmung zu den Ergebnissen der Naturwissenschaft hinaus. Die enge personelle (ab 1990 auch räumliche) Beziehung der SMD zur Karl-Heim-Gesellschaft spielte eine Rolle dabei, dass sich in der SMD der Kreationismus nicht durchsetzte. Beide waren nach 1990 mit ihren Geschäftsstellen in Marburg angesiedelt. Der evangelikale Flügel des Protestantismus stand damals insgesamt noch so unter dem Einfluss der geschilderten Vor- und Nachkriegsgeschichte, dass der Kreationismus nicht ohne weiteres Fuß fassen konnte.

Seither hat sich die Lage gewandelt. Einige Verlage, vor allem Schwengeler (Schweiz), Hänssler und Schulte&Gerth in Deutschland, verbreiteten und verbreiten kreationistisches Schrifttum. Einen enormen Einfluss hatten die Bücher des verstorbenen englischen Chemikers A. E. Wilder-Smith, der lange in der Schweiz lebte. Außerdem sind der häufig übersetzte US-Amerikaner Duane T. Gish (früher Vizepräsident des ICR in San Diego) und der schon erwähnte Niederländer Willem J. Ouweneel als wichtige Autoren zu nennen.

Die evangelikale Nachrichtenagentur „idea“ lässt keine Gelegenheit aus, den Kreationismus nach US-Vorbild als seriöse Alternative zur Wissenschaft zu präsentieren.14 Der Antrieb dazu dürften weniger kreationistische Überzeugungen sein als das politische Motiv, den Konservativismus der USA als christliche Politik darzustellen. Und zu diesem gehört nun einmal die Ablehnung der Evolutionstheorie. Dabei hat „idea“ in der evangelikalen Bewegung leichtes Spiel, denn die früheren Gegenpositionen sind verschwunden. Es gibt keine populäre Naturtheologie im Stil eines Paul Müller mehr und keine populäre akademische Theologie im Stil eines Karl Heim, die zwischen akademischer Forschung und Schöpfungsglauben auf Gemeindeebene vermitteln. Das Schweigen, das akademische Theologie und Landeskirchen zu dem Thema wahren, schafft ein Vakuum, das der Kreationismus ausfüllt. Nur von der württembergischen und der sächsischen Kirchenleitung gibt es Beurteilungen des Kreationismus, beide mit kritischer Tendenz und beide vom Ende der achtziger Jahre.15 Beide sind sehr lesenswert, stießen aber keine theologische Diskussion mit und in der evangelikalen Bewegung an. Dieses Versäumnis rächt sich jetzt.

„Wort und Wissen“

Die wichtigste kreationistische Organisation im deutschen Sprachraum ist die 1979 – unter dem Einfluss des US-Kreationismus – von Theodor Ellinger und Horst W. Beck gegründete Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“ mit Sitz in Baiersbronn (Nordschwarzwald). Beck gehört dem Werk aufgrund theologischer Differenzen allerdings seit Jahren nicht mehr an. Der Professor für Betriebswirtschaft Ellinger war von 1980 bis 1997 dessen Vorsitzender, auf ihn folgte der Mikrobiologie Siegfried Scherer (Universität München). Neuer Vorsitzender wurde als Nachfolger Scherers Anfang 2006 der Arzt Henrik Ullrich aus Riesa (Sachsen), zweiter Vorsitzender der Universitätsprofessor für pharmazeutische Chemie Peter Imming aus Halle.

Das Werk lehnt den Begriff Kreationismus als Selbstbezeichnung ab. Bevorzugt wird der Begriff Schöpfungslehre. Polemische Exzesse, wie sie in den USA die Regel sind, findet man eher selten. Siegfried Scherer ist gemeinsam mit dem langjährigen Geschäftsführer Reinhard Junker Autor des Schulbuchs „Evolution – ein kritisches Lehrbuch“ (s.u.). Nicht direkt von „Wort und Wissen“ stammt die empfohlene Lehrbuchversion für jüngere Kinder: Creatio. Biblische Schöpfungslehre16. Neben diesen Lehrbüchern gibt „Wort und Wissen“ eine Fachzeitschrift und Fachbroschüren heraus und vertreibt Literatur für alle Zielgruppen, bis hin zu Kinderbüchern. Weiterhin wird der Film von Fritz Poppenberg unterstützt: „Hat die Bibel doch recht? Der Evolutionstheorie fehlen die Beweise“.

Seit ihrer Gründung verzeichnet die Studiengemeinschaft ein moderates Wachstum und hat sich im freikirchlichen und teilweise im konservativen landeskirchlichen Raum als Autorität für die Ablehnung der Evolutionstheorie etabliert. Sie verfügt über einen Unterstützerkreis von mehreren tausend Personen, der fünf haupamtliche Stellen finanziert (Stand 2006). Auch wenn das im Vergleich zu „Answers in Genesis“ wenig sein mag: „Wort und Wissen“ ist vermutlich die personell und wissenschaftlich am besten ausgestattete kreationistische Organisation in Europa. Sogar „The Biblical Creation Society“ in Großbritannien kann nur eine hauptamtliche Kraft bezahlen (Stand 2006).

Worum geht es? Für „Wort und Wissen“ ist das christliche Zeugnis der Bibel auf die historische, faktische Richtigkeit der Urgeschichte angewiesen. Begründet wird dies damit, dass das Christuszeugnis des Neuen Testaments mit der Urgeschichte verknüpft sei. Zum Beispiel schreibt Paulus in Römer 5,12: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen...“ In Vers 14 heißt es weiter: „Adam aber ist die Gestalt, die auf den Kommenden hinweist.“ Wenn es die historische Gestalt des Adam als ersten Menschen nicht gegeben habe, stünde auch die historische Gestalt des Christus in Zweifel. Weiterhin wird auf die Aussage des Paulus verwiesen, es sei „durch die Übertretung des Einen der Tod zur Herrschaft gekommen“ (Römer 5,17). Hätte die biologische Evolutionstheorie recht, so das Argument, wäre jedoch der Tod nicht Folge des Sündenfalls, sondern von Anfang an Instrument des Schöpfungswillens Gottes gewesen. Denn die Entstehung der heutigen Arten – und des Menschen – über zahllose Generationen sich verändernder Lebewesen setzt deren Sterben voraus. Nach biblischer Auffassung sei der Tod jedoch kein Teil der ursprünglichen Schöpfung. Daher erzwinge es die Autorität der Schrift und das Bekenntnis zur Liebe Gottes, nicht nur die Evolutionsmechanik Darwins zu verwerfen, sondern auch die Abstammungslehre. Das Werk geht davon aus, dass die Geschichte der Lebewesen und des Menschen seit dem Sündenfall rund 10000 Jahre lang war, dass also Leben und Werk des Christus etwa 8000 Jahre nach dem Sündenfall anzusetzen sind. Das Sintflut-Ereignis ist in die Epoche zwischen Sündenfall und Inkarnation einzuschieben, wobei sich „Wort und Wissen“ anders als das ICR in San Diego nicht auf eine Datierung festlegt. Dessen Idee, dass fast alle geologischen Schichten Ablagerungsprodukte der Sintflut sein sollen, steht man ebenso wie „The Biblical Creation Society“ und andere europäische Kreationisten skeptisch gegenüber.

Das theologische Argument lautet demnach: Die Rechtfertigungsbotschaft des Neuen Testaments, der Kern christlichen Lebens und Denkens, ist mit der Evolutionstheorie nicht vereinbar. Diesem Argument ist theologische Ernsthaftigkeit zuzugestehen. Allerdings verbirgt sich hinter der systematischen Argumentation ein Schriftverständnis, das den Glauben doch wieder durch die Faktizität von Bibeltexten sichern will. Denn warum sollte es ein Problem sein, dass Paulus seine Botschaft vom alten Menschen, für den Adam steht, und vom neuen Menschsein in Christus mit Hilfe der Vorstellungen seiner Zeit formuliert? Wenn uns Gottes Wort in der Bibel durch Menschen und durch das Menschenwort hindurch erreicht, dann ist weder die Sprache des Paulus noch das Schöpfungszeugnis der Urgeschichte ein Problem für ein modernes Natur- und Geschichtsverständnis. Wenn Bibeltexte überzeitlich und gottesunmittelbar zu verstehen sind, dann entstehen solche Probleme überall, nicht nur in der Urgeschichte, sondern in der Ethik, der Weltgeschichte und so weiter und so fort. Der Widerspruch zwischen Rechtfertigungslehre und Evolutionstheorie hängt an einer biblizistischen Deutung der Paulusworte; ohne diese Deutung löst er sich auf.

Allerdings löst sich die Frage der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, nicht mit auf. Denn in der Tat folgt aus unserem heutigen Naturwissen, dass der Tod von Anfang an Teil des Schöpfungshandelns Gottes war. Die Urgeschichte der Bibel spricht auch nicht von einer goldenen Urzeit ohne Leid und Tod, sondern von einem Garten, den Gott dem ersten Menschen anvertraute. Die Symbolik dieser Geschichte zielt auf einen Verlust ab, auf eine ungebrochene Gottesbeziehung, die es nicht mehr gibt. Die Frage der Theodizee setzt bereits hier ein und wird durch die moderne Evolutionstheorie höchstens zusätzlich betont. Auch die Mikroevolution, die nach Ansicht von „Wort und Wissen“ nach der Sintflut ablief, setzt den Tod unschuldigen Lebens voraus. Warum für die Sünde der Menschen seit 8000 Jahren andere Lebewesen sterben, ist nicht einsichtiger als die Tatsache, dass der Tod überhaupt zur Schöpfung gehört. Man entkommt als Christ der dunklen, verborgenen Seite der Schöpfung Gottes nicht, weder als Kreationist noch als Naturwissenschaftler, was von „Wort und Wissen“ übrigens auch eingeräumt wird.

Ein kreationistisches Schulbuch

Das wichtigste Produkt von „Wort und Wissen“ ist das Schulbuch „Entstehung und Geschichte der Lebewesen“ von Reinhard Junker und Siegfried Scherer (erste Auflage Gießen 1986), das fünf Auflagen erreichte. Es wurde durch „Evolution – ein kritisches Lehrbuch“ ersetzt, das inzwischen ebenfalls sechs Auflagen erzielte. Eine Anerkennung durch die Kultusministerien der Länder hat das Buch nicht, es wird aber in den inzwischen über 70 Evangelischen Bekenntnisschulen in Deutschland (die nicht identisch sind mit Privatschulen in der Trägerschaft der Landeskirchen) verwendet. Sein wichtigstes Theorieelement ist die Unterscheidung von Mikro- und Makroevolution sowie die Beschränkung der speziellen Schöpfung auf die „Grundtypen“ der Lebewesen. Es wird argumentiert, dass sich die Vielfalt der Lebewesen in Grundtypen aufgliedern lasse, die jeweils mehrere bis viele heutige Arten umfassen. Zum Beispiel stammten fast alle heutigen Entenvögel (Enten, Gänse, Schwäne und einige andere Arten) von einem Grundtyp ab, und die Vielzahl der Arten habe sich durch Mikroevolution herausgebildet. Dabei sei der Mechanismus von Mutation und Selektion durchaus wirksam gewesen, aber nur im Rahmen der Flexibilität, die der Grundtyp „Entenvogel“ von Anfang an mitgebracht habe. Mit anderen Worten: Es gibt laut „Wort und Wissen“ eine Mikroevolution, aber keine Makroevolution.

Theologisch wird diese Theorie so gedeutet, dass Gott in den sieben Tagen der Schöpfung nur die Grundtypen geschaffen habe und dass auch nur Grundtypen von Landtieren in der Arche gewesen seien, um sie vor der Sintflut zu retten. Dadurch wird die Sintflutgeschichte als historisches Ereignis zwar auch nicht möglich, aber die Unmöglichkeit ist weniger auffällig. Die höchstens 8000 Jahre seit der Sintflut hätten nach „Wort und Wissen“ ausgereicht, um aus den Grundtypen die heutigen Arten hervorgehen zu lassen. Dass es so gewesen sein könnte, würde den Autoren allerdings kein Evolutionsbiologe zugestehen. Die Idee, dass so unterschiedliche Vögel wie Höckerschwan und Gänsesäger in einer Stammesgeschichte von weniger als 8000 Jahren aus einem gemeinsamen Vorfahren entstanden sein könnten, stimmt mit dem, was die Biologie über Veränderungsgeschwindigkeiten der Arten weiß, ganz und gar nicht überein. Aber diese und andere Schwierigkeiten oder Unmöglichkeiten der Schöpfungslehre von „Wort und Wissen“ seien hier beiseite gelassen.

Positiv anzumerken ist, dass das Buch sich im Umgang mit Andersdenkenden um Fairness bemüht. An keiner Stelle wird auch nur angedeutet, dass Christen, die nicht kreationistisch denken, deshalb nicht als Christen anzusehen seien. Die Person Charles Darwin wird historisch richtig beschrieben. Verschwörungstheorien, nach denen Darwin einen gezielten Angriff auf den Glauben inszeniert habe, finden sich bei „Wort und Wissen“ nicht. Von dieser Fairness sollten wissenschaftliche Gegner des Kreationismus lernen. Bevor man „Wort und Wissen“ mit Häme überzieht, sollte man sich überlegen, ob man sich im deutschen Sprachraum Fanatiker vom Schlag „Answers in Genesis“ wünscht. Weiterhin ist positiv anzumerken, dass sich das Buch um die Trennung von wissenschaftlichen und religiösen Argumenten bemüht. Unter dem Stichwort „Grenzüberschreitung“ wird jeweils markiert, wenn Argumente nicht mehr innerhalb der biologischen Wissenschaft angesiedelt sind. Diese Tugend wird von Naturwissenschaftlern bei öffentlichen Äußerungen selten geübt. Nur zu oft ist kaum ersichtlich, ob Kritik am Kreationismus dessen naturwissenschaftlichen Aussagen gilt oder ob ein agnostischer Wissenschaftler seine Weltsicht verteidigt. Dogmatismus im Sinn eines geschlossenen Denksystems kann man dem Lehrbuch nicht vorwerfen.

Allerdings gibt es nicht nur inhaltliche Grenzüberschreitungen bei der Deutung wissenschaftlicher Befunde. Es gibt auch methodische Grenzüberschreitungen, im Fall des Kreationismus dadurch, dass der Naturwissenschaft biblizistische Vorgaben gemacht werden. Dem Kreationismus wird vorgehalten, dass er insgesamt auf einer solchen Grenzüberschreitung beruhe. Forschung, so heißt es, werde überhaupt nur im Rahmen dessen für legitim gehalten, was die Bibel (angeblich) über Natur und Welt festlegt. Für viele Kreationisten trifft dieser Vorwurf unstreitig zu. Die Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“ bestreitet aber, die Forschung von vornherein begrenzen zu wollen. Aus ihrer Sicht ist die Schöpfungslehre hinreichend naturwissenschaftlich begründet, um sie ohne Rückgriff auf theologische Argumente zu vertreten. Unzulänglichkeiten und Unerklärtes werden eingeräumt. Aber diesbezüglich stehe es – so das Argument – in der Wissenschaft nicht anders. Daher behandelt das Lehrbuch die so genannte Evolutionslehre und die Schöpfungslehre von „Wort und Wissen“ als wissenschaftliche Alternativen. Ob sie dies tatsächlich sind, ist die entscheidende Frage. Denn das Unternehmen „Wort und Wissen“ – nicht nur sein Lehrbuch – lebt von der Behauptung, dass seine Theorien eine eigene wissenschaftliche Plausibilität hätten und die Theologie erst danach als Deutungsrahmen in den Blick käme. Hätte das Werk damit recht, wäre sein Vorgehen methodisch nicht zu beanstanden. Dem steht allerdings das einhellige wissenschaftliche Urteil entgegen, dass die Position von „Wort und Wissen“ keine wissenschaftliche Plausibilität hat. Sie bezieht ihre Plausibilität aus theologischen Vorgaben. Dieses Urteil trifft auch aus Sicht des Autors zu, ohne dass es in diesem Rahmen im Einzelnen begründet werden kann.

Was ist Kreationismus eigentlich?

Menschen suchen Antworten auf die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens. Dass der Kreationismus Antworten gibt und versucht, die Rolle eines Anwalts für den christlichen Glauben zu besetzen, ist verständlich. Dass religionskritische Naturwissenschaftler ihm diese Rolle gerne überlassen, ist ebenso verständlich. Einen zum Abschuss geeigneteren religiösen Pappkameraden kann es für sie nicht geben. Wenn es wirklich so wäre, dass man an ein Weltalter von 10000 oder 6000 Jahren glauben müsste, wäre der christliche Glaube für die meisten Menschen keine Option mehr. Es macht viel mehr Mühe, die Theologie Helmut Thielickes oder Karl Heims oder Kardinal Schönborns der Unvernunft zu bezichtigen. Warum sich diese Mühe machen, wenn der Kreationismus der Religionskritik eine Steilvorlage liefert?

Umgekehrt muss sich auch die Theologie die Mühe machen, in dieser Debatte sprachfähig zu werden. An dieser Mühe hat es in den letzten Jahrzehnten im deutschen Sprachraum (nicht im angelsächsischen) gefehlt. Ein Dialog zwischen Glauben und Naturwissenschaft, der sich am „Stand der Forschung“ orientiert, ist allerdings mühsam und immer wieder neu zu führen. Die biologischen Theorien unterliegen einer rasanten Entwicklung, der die theologischen Integrations- und Abgrenzungsentwürfe folgen müssen. Im Kreationismus sind dagegen nur kosmetische Änderungen nötig. Was Whitcomb und Morris 1960 über die Sintflut schrieben, wird heute noch unverändert vertreten. Deshalb ist am Schluss dieses Artikels festzustellen: Der Kreationismus ist kein Ergebnis eines Dialogs zwischen christlichem Glauben und Naturwissenschaft, er ist kein Weg zu einem solchen Dialog. Es handelt sich nicht einmal um einen Streit zwischen christlichem Glauben und einer naturalistischen Ideologie. Solche Auseinandersetzungen sind mit anderen Mitteln zu führen. Der Kreationismus ist eine extreme Position in einem innerchristlichen Streit darüber, wie mit dem naturwissenschaftlichen Weltwissen zu verfahren sei. Es geht im Kern um die Frage, die schon Augustinus im 4. Jahrhundert beschäftigte, wie Heilige Schrift und Naturwissen zusammenzudenken sind. Gesprächspartner der Theologie sind, falls sie sich überhaupt mit dem Kreationismus befasst, deshalb nicht in erster Linie Naturwissenschaftler, sondern Mitchristen, die von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen angefochten werden. Der Zugang zur Gewissheit des Glaubens im modernen Weltbild wird ihnen vom fundamentalistischen Schriftverständnis versperrt. Ihnen sollte eine tiefere Gewissheit nahe gebracht werden, die von der Wahrheit lebt, die Mensch wurde, und nicht von der Wahrheit, die Papier wurde. Denn solange die Wahrheit Papier bleibt, bleibt sie für den Menschen verfügbar. Dann liegt der Schritt nahe, diese Wahrheit gegen Andersdenkende durchsetzen zu wollen. Wo dabei die Nächstenliebe auf der Strecke bleibt, kann die christliche Antwort nur in Widerstand bestehen. Wo sich der Kreationismus dagegen als Alternativwissenschaft darstellt, um die Autorität der Bibel zu retten, kann man ihm seine besondere Sicht der Dinge zwar nicht bestätigen, man kann sie aber als Mitchrist hinnehmen. Schließlich ist die Echtheit und Tiefe des persönlichen Glaubens nicht unmittelbar mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand eines Christen verbunden – wohl aber mit seiner Liebe zu Gott und den Menschen.


Hansjörg Hemminger


Anmerkungen

1 Siehe Ulrich Kutschera (Hg.): Kreationismus in Deutschland – Fakten und Analysen, Berlin 2007, 16f.
2 Siehe http://news.nationalgeographic.com/news/2006/08/060810-evolution.html, Stand 25.8.2006.
3 Ein Beispiel von vielen ist Jonathan Wells: Icons of Evolution – Why much of What We Teach about Evolution is Wrong, Washington D. C. 2000.
4 Aus: http://www.biblicalcreation.org.uk/index.html, Stand 12.12.2006, und http://www.answersingenesis.org/docs2006/0307recolonisation.asp, Stand 12.12.2006.
5 Aus: www.csama.org/CSA-INFO.HTM, Stand 20.8.2006.
6 Otto Kleinschmidt: Die Formenkreislehre und das Weltwerden des Lebens. Eine Reform der Abstammungslehre und der Rassenforschung zur Anbahnung einer harmonischen Weltanschauung, Halle / Saale 1926; ders.: Naturwissenschaft und Glaubenserkenntnis. Die Zentralfrage moderner Weltanschauungskunde, Berlin 1930; siehe auch Uwe Hoßfeld: Formenkreislehre versus Darwinsche Abstammungstheorie. Eine weltanschauliche-wissenschaftliche Kontroverse zwischen Otto Kleinschmidt (1870-1954) und Victor Franz (1883-1950); Anzeiger des Vereins Thüringer Ornithologen 4/2000, 1-26.
7 Friedrich Freiherr von Huene: Weg und Werk Gottes in Natur und Bibel, Marburg 1938, 50.
8 Siehe z. B. Paul Müller: Schöpfung und Wunder – Zufall oder Werk Gottes?, Metzingen 1969; ders.: Bibel und Naturwissenschaft in Widerspruch oder in Harmonie?, Metzingen 1954.
9 Müller, a.a.O., 1969, 10.
10 Ebd., 11.
11 Zwei Beispiele aus dem Werk von Joachim Illies: Die Welt ist Gottes Schöpfung, Freiburg i. Br. 1981; ders.: Schöpfung oder Evolution. Ein Naturwissenschaftler zur Menschwerdung, Zürich 1979.
12 Der Autor dankt Pfarrer Dr. Hermann Hafner und Oberstudienrätin Edith Gutsche für die Durchsicht des Textes und für ihre Korrekturen aufgrund ihrer Kenntnis der geschilderten Vorgänge.
13 Edith Gutsche / Peter C. Hägele / Hermann Hafner (Hg.): Zur Diskussion um Schöpfung und Evolution, Porta-Studie 6, Marburg 21984, 41998.
14 Z. B. ideaSpektrum 51/52, 2006, 26f: Dort wird eine Auswahl an Leserbriefen zum Thema „Evolution und Schöpfung“ aus dem Jahr 2006 präsentiert, die dem Muster des „equal time arguments“ in den USA folgt.
15 Stellungnahme des Evangelischen Oberkirchenrats Stuttgart zum Beschluß der württembergischen Evangelischen Landessynode vom 26. November 1986 betr. Förderung des Studienkollegs „Wort und Wissen“ in Baiersbronn-Röt (8.10.1987); Beirat für Glaube und Naturwissenschaft beim Ev.-Luth. Landeskirchenamt Sachsen: Thesen zum Kreationismus, 1989 (veröffentlicht im Amtsblatt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Dresden, 31.7.1990).
16 Alexander vom Stein: Creatio. Biblische Schöpfungslehre, Retzow 2005.