Jehovas Zeugen

Jehovas Zeugen als Körperschaft?

(Letzter Bericht: 10/2004, 390) Das Berliner Oberverwaltungsgericht hat am 24. März 2005 sein Urteil in Sachen Land Berlin gegen die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verkündet und festgestellt, dass diese die Voraussetzungen für die Verleihung des Titels einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ erfüllt. Damit könnte ein inzwischen 15 Jahre währender Rechtsstreit zu Ende gehen, falls das Land Berlin nicht erneut in Revision gehen sollte.

Eine genauere Analyse der Berliner Urteils wird erst möglich sein, wenn dieses schriftlich vorliegt. Dennoch sind einige Eindrücke aus der mündlichen Urteilsverkündung festzuhalten: Der vorsitzende Richter hat mehrfach festgestellt, dass dem Gericht eine Fülle von Betroffenenberichten zugegangen ist. Gleichzeitig hat er betont, dass diese Berichte „äußerst problematisch“ sind und behutsam interpretiert werden müssten. Letzteres ist zweifellos richtig. Niemand erwartet, dass das Gericht sich die Meinung von Aussteigern ungeprüft zu eigen macht; eine gewisse „Übersetzungsleistung“ wäre zweifellos eine notwendige Aufgabe der Kammer gewesen. Dass man Betroffenenberichte nun aber so weitgehend unberücksichtigt lässt, ist mehr als verwunderlich. Man zieht damit die Urteilsfähigkeit ehemaliger Zeugen Jehovas in Zweifel und unterstellt ihnen, keine begründeten Aussagen über diese Gemeinschaft treffen zu können.

Die Kammer hat bemängelt, dass es kaum einschlägige Erkenntnisse von Behörden, Gerichten, Jugendämtern usw. gibt, die kritische Berichte erhärten könnten. Das verwundert nicht: Denn natürlich wenden sich Betroffene an (kirchliche oder staatliche) „Sekten“Beratungsstellen, wohl aber kaum an ein Jugendamt. Wie sollten sie auch, zumal Jugendämter bisher nicht durch weitreichende Kompetenz in Weltanschauungsfragen aufgefallen sind! Das Berliner Oberverwaltungsgericht argumentiert nach dem Motto: Konflikte gibt es nur, wenn sie in den Amtsstuben ankommen und aktenkundig werden.

Erstaunlich bedenkenlos hat die Kammer festgestellt, es gebe keine überzeugenden Hinweise dafür, dass Personen, die die Zeugen Jehovas verlassen, psychische Sanktionen erleiden. Man hätte in den hauseigenen Publikationen der Zeugen Jehovas selbst zu dieser Frage genügend solcher Hinweise finden können. So schrieb beispielsweise der „Wachtturm“ am 1. Juli 1994: „Die Speise auf dem Tisch der Dämonen ist giftig. Man denke nur einmal an die Speise, die von ... den Abtrünnigen verbreitet wird. Sie ist weder nahrhaft noch erbauend; sie ist nicht förderlich. Das kann sie auch gar nicht sein, weil die Abtrünnigen aufgehört haben, sich am Tisch Jehovas zu ernähren. ... Nicht der heilige Geist treibt sie an, sondern gehässige Bitterkeit. Sie sind von einem einzigen Ziel besessen: ihre früheren Mitsklaven zu schlagen... Ja, Abtrünnige veröffentlichen Literatur voller Entstellungen, Halbwahrheiten und absoluter Unwahrheiten. Sie ... versuchen die Unvorsichtigen zu fangen. Es wäre gefährlich, sich aus Neugier dazu verleiten zu lassen, ihre Schriften zu lesen oder ihren Lästerreden zuzuhören.“ (11f) Bei der Gewichtung solcher Aussagen muss man sich vor Augen führen, dass es sich beim „Wachtturm“ nicht um irgendeine Zeitschrift handelt, sondern um das zentrale Verlautbarungsorgan der Gemeinschaft. Der „Wachtturm“ wird als Sprachrohr Gottes betrachtet, als „Kanal, dessen sich der Herr ... bedient“.1 Mit anderen Worten: Jehova selbst bezeichnet jene, die die Gemeinschaft verlassen, als Dämonen, die „gehässige Bitterkeit“ treibt. Was werden solche Zeilen in einer Zeugen-Jehovas-Familie auslösen?

Kann eine Organisation, die so über ihre Dissidenten spricht, von einem Staat, der sich den Schutz der Würde des Menschen – und damit auch die Würde des abtrünnigen Zeugen Jehovas – in Artikel 1 seiner Verfassung geschrieben hat, zur K.d.ö.R. aufgewertet werden?

Man könnte einwenden, dass alle Religionsgemeinschaften Vorstellungen über den wahren Weg zu Gott und darüber haben, welche Gefahren dem drohen, der diesen Weg verlässt. Aber es handelt sich bei den aufgeführten Zitaten gerade nicht um theologische Aussagen, sondern um soziale Handlungsanweisungen: Wenn die Abtrünnigen als Dämonen bezeichnet werden, die Lügen und Gift verbreiten2, dann muss man sie um jeden Preis meiden. Und genau das ist die Wirklichkeit in vielen Zeugen-Jehovas-Familien: Der Abtrünnige wird mit der Strafe des sog. „Gemeinschaftsentzugs“ belegt: er wird nicht gegrüßt, mit ihm wird nicht geredet, er wird nicht beachtet. Verheerend wird diese Strafe, wenn sie Kinder und Jugendliche trifft, wenn Kinder ihre Eltern nicht mehr kennen oder Ehepaare sich wie Fremde begegnen.

Sollte das Urteil Bestand haben, dann bedeutet dies einen gewaltigen Imagegewinn für die Zeugen Jehovas, zugleich würde aber auch einer Entwertung des Körperschaftstitels Vorschub leisten.

Anmerkungen
1 Wachtturmgesellschaft (Hg.), Jehovas Zeugen, Verkündiger des Königreiches Gottes, Selters 1993, 626.
2 Vgl.Der Wachtturmvom 1. Juli 1994, 11f.


Andreas Fincke