Lutz Lemhöfer

Heimliche Religion im Kriminalroman

Das Beispiel Skandinavien

Das Genre Kriminalroman

„Der Kriminalroman trägt alle Merkmale eines blühenden Literaturzweiges zur Schau.“1 Der Satz ist nicht neu, er stammt von Bertolt Brecht, der ihn 1940 in einem Essay über die Popularität des Kriminalromans notiert hat. Heutzutage stimmt diese Aussage mehr denn je. Nach internationalen Schätzungen sind 25% aller literarischen Neuerscheinungen Kriminalromane; ebenso erklärt ein Viertel aller Menschen, die sich bei Umfragen als „Leser/-innen“ bezeichnen, sie läsen auch Krimis. Wenn man noch die Omnipräsenz des Krimis im Film und besonders im Fernsehen hinzunimmt, kann man die gesellschaftliche Bedeutung dieses Genres ermessen.

Das Genre verbindet auf glückliche Weise Erwartbares und Unerwartbares. Oder noch einmal mit Brecht: „Der Kriminalroman hat ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation. Die Tatsache, dass ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem Ganzen sogar das ästhetische Niveau.“2 Zum Schema gehört sicher dies: Ein Verbrechen ist geschehen, ein amtlicher oder nichtamtlicher Ermittler bemüht sich um Aufklärung, die zumeist ihn und auch andere in bedrohliche Situationen bringt. Diese auch Spannung erzeugende Bedrohung, der „thrill“, endet mit der Entlarvung des Täters, mit der dann auch der Gerechtigkeit genüge getan wird. Dieses Schema ist aber wiederum unglaublich aufnahmefähig für unterschiedlichste lokale, regionale und gesellschaftliche Subtexte. Das wird weidlich genutzt. Die reinen Rätsel-Krimis etwa von Edgar Wallace sind heute weit weg, wenn beispielsweise bei Henning Mankell die negative Seite der Globalisierung in Form osteuropäischer Mafia oder politisch motivierter Killerkommandos aus dem Südafrika der Apartheid ins beschauliche Südschweden schwappt – oder wenn im deutschen „Tatort“ zeitnah Themen wie NS-Vergangenheit (Wehrmachtsausstellung), Sextourismus oder Wiedervereinigung die Folie kriminalistischer Aufklärung bilden. Ich zitiere Jochen Vogt, einen der wenigen universitären Krimi-Forscher: „Ungeachtet seiner durch und durch kommerziellen Natur hat sich ‚der Krimi’ zu einem Instrument entwickelt, mit dem die Gesellschaft sich selbst beobachten kann – gerade auch dort, wo sie sich immer weniger versteht.“3

Krimi und Religion

Dies gilt dann auch für den Bereich der Religion, wobei das nicht wirklich überraschend kommt. Immer geht es schließlich um Gut und Böse, was ja der Theologie nicht fern liegt. Für die theologische Betrachtung hat das Genre Kriminalroman einen weiteren entscheidenden Vorzug: Es geht nie um Banalitäten. Per definitionem beschäftigt er sich mit extremen Situationen: Mord und Totschlag, Schuld und Sühne, Leidenschaft und Verzweiflung, Situationen also, in denen es ums Ganze geht und die nicht selten moralische und philosophische Fragen aufwerfen. Da finden das Geistliche und der Geistliche durchaus Raum.

Dies kann auf dreierlei Weise geschehen: entweder durch einen geistlichen Fahnder, der die Maßstäbe seines Berufsstandes in die Suche nach dem Täter einbringt und damit unerwartete Perspektiven eröffnen kann, oder durch ein religiöses Milieu, in dem oder vor dessen Hintergrund ein Verbrechen stattfindet. Höchst spannend wird dann die Frage, ob dieses Milieu – Kloster, Gemeinde, Kirchentag – lediglich die zufällige Kulisse einer kriminellen Tat darstellt oder ob diese ihre Wurzeln in dem religiös begründeten Beziehungsgeflecht findet. Drittens kann man manchmal auch ertragreich einen völlig säkularen Krimi aus religiöser oder theologischer Perspektive betrachten. Schuld – Unschuld; Recht – Unrecht: Das sind ja nicht nur juristische Kategorien, sondern auch theologische.

Diese dritte Fragestellung soll hier im Mittelpunkt stehen, ohne die beiden anderen ganz außen vor zu lassen. Denn die klassischen geistlichen Ermittler vom Schlage eines „Father Brown“ bei Gilbert K. Chesterton sind nun doch schon etwas angejahrt (auch wenn es im deutschen Fernsehen plattfüßige Adaptionen mit Ottfried Fischer als neuzeitlichem „Pfarrer Braun“ gibt), ebenso der klassische Pfarrhof etwa in Dorothy Sayers’ „Der Glocken Schlag“. Hier geht es darum, religiösen Themen auch in einem sehr säkularen Milieu nachzugehen, und dafür eignet sich die bei uns sehr populäre skandinavische Krimi-Kultur besonders gut.

Religion in Skandinavien

Die religiös-weltanschauliche Landschaft Skandinaviens ist durch ein Paradox gekennzeichnet: eine weitgehend säkularisierte Mentalität trotz – oder sogar wegen – bis in die Gegenwart reichender staatskirchlicher Tradition. Norwegen, Finnland und Dänemark haben bis heute eine lutherische Staatskirche; ihre Stimme ist bei Gesetzentwürfen gefragt. In Dänemark beispielsweise sind Pfarrerinnen und Pfarrer Staatsbeamte. Die dänische Königin entscheidet gemeinsam mit der staatlichen Kirchenministerin über Liturgie, Rituale und Bibelübersetzungen.4 Ähnlich war es bis vor rund zehn Jahren auch in Schweden; erst seit 1996 werden Schweden bei ihrer Geburt nicht mehr automatisch Lutheraner. Die Kirchengemeinden bildeten zugleich das Einwohnermeldeamt. Erst mit der Jahrtausendwende endete dort das Staatskirchentum. Trotz oder wegen dieser engen Verquickung mit dem Staat war und ist die Zahl der Kirchgänger klein. Fünf Prozent der Schweden gehen regelmäßig in die Kirche, und weniger als die Hälfte der Bevölkerung glaubt laut Umfragen an einen persönlichen Gott.5 Da überrascht es nicht, dass die Kommissare in den Krimis es auch nicht tun, zumindest nicht erkennbar.

In diesen skandinavischen Krimis gibt es keine Hauptfiguren wie den Detective Sergeant Pete Decker in den Romanen von Faye Kellerman, der sich, angestoßen durch die Liebe zu einer schönen orthodoxen Jüdin, intensiv mit dem Judentum auseinandersetzt, sich im Verlauf der Romane damit identifiziert und zum jüdischen Glauben konvertiert. Undenkbar ist auch, dass – wie im englischen klassischen Krimi bei Dorothy Sayers – der ermittelnde Polizist (Inspektor Parker von Scotland Yard, der Freund und Helfer des eigentlichen Detektivs Lord Peter Wimsey) in seiner kargen Freizeit die neuesten exegetischen Kommentare zum Johannesevangelium studiert.

Wenn man davon ausgeht, dass sich im Kriminalroman das Bild einer Gesellschaft besonders aktuell widerspiegelt, dann wäre Skandinavien eine ziemlich säkularisierte Region. Denn bei den 120 skandinavischen Krimi-Autoren, deren Werke auch auf Deutsch erscheinen, spielen Kirche und Religion in der Regel keine Rolle; geistliche Detektive oder Detektivinnen sind absolute Mangelware. Ob man die bekannten norwegischen Autorinnen nimmt wie Anne Holt oder Karin Fossum oder die berühmten Schweden Henning Mankell oder Håkan Nesser – das Bodenpersonal des lieben Gottes glänzt meist durch Abwesenheit. Anders als beispielsweise im klassischen englischen Krimi spielt sich wenig in Kirche und Pfarrhof ab. Die Protagonisten, die Polizisten und Detektive, schlagen sich zwar mit allen möglichen persönlichen Problemen herum, aber kaum mit solchen von Glauben und Religion. Und wenn einmal religiöse Amtsträger o. ä. vorkommen, bekommen sie kein eigentlich geistliches Profil, sondern sind Teil eines sozialen Betreuungsnetzes.

Geistliches Personal im skandinavischen Krimi

So ist es zum Beispiel bei Åke Edwardson in seinen Göteborg-Krimis um die Gestalt des eleganten Kommissars Erik Winter. Dieser selbst interessiert sich zwar nicht besonders für Religion, aber im Polizeipräsidium gibt es eine Pastorin. Sie hält dort keine Andachten, sondern arbeitet als seelsorgerische Beraterin. Sie bietet persönliche Gespräche in Krisensituationen an, hört zu und redet über das, worüber bei der Polizei sonst keiner redet: über Gefühle, Ängste, Schwächen. Dabei ist sie selbst nun gar kein Halbgott in Schwarz, sondern ein Mensch mit den gleichen Problemen wie ihre Schäfchen. Die allein erziehende Mutter einer aufs Heftigste pubertierenden Tochter kämpft mit ihren eigenen Problemen mindestens so hart wie die Klienten, die sie berät. Das macht sie sympathisch, sie gehört dazu. Aber keinesfalls repräsentiert sie eine höhere Macht oder höhere Ordnung. Sie ist ein kleines Rädchen im großen Getriebe der Polizei – und keineswegs das bedeutendste. Den entscheidenden Beitrag zur Gerechtigkeit leisten religiös indifferente Kommissare und Inspektoren.

Diese Rollenverteilung gilt sogar dann, wenn eine Geistliche die Hauptfigur ist wie die Theologin Eva Ström in einer kleinen Serie von Büchern des Autors Willy Josefsson. Sie ist Pastorin in der südschwedischen Provinz. In einem Roman dieser Serie („Denn ihrer ist das Himmelreich“) wird ein kleiner Junge aus ihrem Kirchenchor tot aufgefunden – ermordet, wie die Polizei bald feststellt. Der energischen Frau lässt das keine Ruhe. Sie untersucht das Umfeld, befragt Menschen, die eine Verbindung zu dem Jungen hatten, entdeckt unter den Kindern weitere, die auf nicht durchschaubare Weise mit dem Opfer zu tun hatten. Ihre Suche nach Täter und Motiv ist immer von der Angst getragen, es könnte in ihrer Gemeinde, ihrem Chor weitere Opfer geben – ein durchaus geistliches Motiv. Aber die Pastorin ist kein Superdetektiv. Sie verrennt sich in falsche Spuren, vermasselt wichtige Gespräche und verstrickt sich in ein Gestrüpp privater und dienstlicher Intrigen, mit denen andere ihr das Leben schwer machen. Durch manche Irrungen und Wirrungen kommt sie schließlich dem Täter auf die Spur, aber die Lösung ist tragisch und gestattet kein befriedigtes Aufatmen. Dass am Ende die Gerechtigkeit siegt, kann man leider nicht behaupten.

Erst recht garantiert das kirchliche Milieu keineswegs den Sieg des Guten. Im Gegenteil: Bei manchen Autoren sind eher die Täter dort zu Hause als die Aufklärer, so etwa bei Åsa Larsson. In ihrem ersten Roman „Sonnensturm“ erweist sich eine pfingstlerische Freikirche nicht nur als Magnet für Sinnsucher und Visionäre, sondern als ein frommes Wespennest. Neid, Missgunst, seelische und körperliche Gewalt scheinen dort am meisten zu blühen, wo sie am heftigsten verleugnet werden: in den amtlichen Bastionen der Gottes- und Nächstenliebe. Dass die lutherische Staatskirche da gut mithalten kann, hat Åsa Larsson in ihrem zweiten Roman „Weiße Nacht“ vorgeführt. Da wird eine kantige feministische Pastorin Opfer eines kleinstädtisch-kirchlichen Umfelds, das auf die Störung der vertrauten politisch-kirchlichen Verhältnisse mit mörderischer Gereiztheit reagiert. Und beim Klassiker des anspruchsvollen schwedischen Krimis, bei Henning Mankell, sind es im letzten Buch um den Protagonisten Kommissar Wallander religiöse Sektierer, die mit Feuer und Dynamit die Erde reinigen und Gottes Reich herbeibomben wollen. Das veranlasst sogar den völlig kirchenfernen Kommissar zu einem theologischen Kommentar. Als seine Tochter ihn nach den Motiven der religiösen Fanatiker fragt, antwortet er: „Weil sie an Gott glaubten und ihn liebten. Aber ich kann mir nicht denken, dass diese Liebe gegenseitig war.“

Polizisten als heimliche Priester?

Was im skandinavischen Krimi so gut wie nicht vorkommt, sind der gläubige Protagonist als Aufklärer und Kämpfer für die Gerechtigkeit sowie der Glaube als Instrument, wie diese Gerechtigkeit zu erreichen sei. Vielmehr rücken die Polizisten, zumeist im Polizeiteam, an diese Stelle. Helmut Heißenbüttel, Dichter und Krimi-Fan, hat schon früher ironisch vom Detektiv im Krimi als „bürgerlich getarntem Erzengel“ gesprochen. Gerade im skandinavischen Krimi nehmen Polizisten klammheimlich die Rolle des Priesters ein. Das betont etwa einer der besten deutschen Krimi-Fachjournalisten, Rezensent in der ZEIT und der FAZ, Tobias Gohlis: „Es ist erstaunlich, wie oft, mal als Stoßseufzer, mal als Anrufung in letzter Not, der Name Gottes diese scheinbar so säkularen, offen mit Sex, Gewalt und Brutalität aller Form spielenden Romane durchzieht. Doch niemand vernimmt diese Hilfeschreie. In britischen zeitgenössischen Kriminalromanen, etwa denen eines Andrew Taylor oder David Hewson, spielen Priester wieder eine Rolle. Über die traditionellen Wahrer der öffentlichen und privaten Moral werden die Gewissenskriege der unübersichtlichen Moderne ausgetragen. Nicht jedoch im protestantisch so stark, bis in die Trinkgewohnheiten hinein geprägten Norden. Hier sind es die gehobenen Beamten vom Schlage eines Wallander, Beck oder Hjelm, meist geschiedene Eigenbrötler mit Neigung zu Dickleibigkeit und Spintisierereien, die als schwache, zähe Stellvertreter Gottes fungieren. Bieder und biedermännisch bilden sie das moralische Widerlager zu McDonalds, KGB, CIA und Microsoft. Psoriasis und Diabetes sind die Stigmata dieser Auserwählten, Einsamkeit und Erschöpfung ihre Ordensregeln. Ihre tapsige Hilflosigkeit weckt die Betreuungswünsche der Leserinnen, ihre Tapferkeit in aussichtsloser Lage Bewunderung. Und ihr stures Festhalten an den Regeln des Anstands, die der Job vorschreibt (Wallander spricht einmal vom ‚Unteroffizier in sich’) lässt sie als die einzig authentischen Reformisten erscheinen: Tue nur deine Pflicht und alles wird gut werden. Sie wissen immerhin, worin ihre Pflicht besteht. Der nordische Krimi ist die Apotheose des Polizeibeamten.“6

Der Dienst dieser Polizei gilt nicht einem religiösen, sondern einem gesellschaftlichen Ideal. Prägend für diesen Weg des gesellschaftspolitisch ambitionierten Kriminalromans waren Maj Sjöwall und Per Wahlöö. Ihre zehn Romane um Kommissar Martin Beck und seine Kollegen (erst später kommt eine Kollegin dazu) von der Reichsmordkommission nutzen den Spannungsroman für den Transport radikaler Gesellschaftskritik.

„Der erste Roman, Roseanna (1965, dt. ,Die Tote im Götakanal’, 1968) beruht noch auf dem Konzept amerikanischer Polizeiromane, doch schon mit Mannen Som Gick Upp I Rök (1966, dt. ,Der Mann, der sich in Luft auflöste’, 1969) begann das Ehepaar, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Jedes Buch enthielt immer deutlicher herausgearbeitete politische Elemente, und die beiden letzten Romane, Polismörderen (1974, dt. ,Der Polizistenmörder’, 1974) und Terroristerna (1975, ,Die Terroristen’, 1977) sind keine Kriminalromane im eigentlichen Sinne mehr, sondern dunkle und erschütternde Bilder einer Wohlfahrtsgesellschaft im Niedergang. Die politischen Sympathien des Ehepaares lagen klar bei der Linken, und sie ritten scharfe Attacken gegen das politische Establishment und die unsensible Behördenbürokratie. Die Tatsache, dass wirkliche Personen und Ereignisse mehr oder weniger große Rollen im Verlauf der Handlung spielten, verlieh den Romanen einen Anschein von Glaubwürdigkeit, der noch von einer bislang nie gekannten Aufmerksamkeit der Autoren für Details verstärkt wurde. Die offen ausgesprochene Kritik an der Gesellschaft und das Überschreiten der recht engen Grenzen, welche der Kriminalliteratur bis dahin auferlegt waren, waren etwas ganz Neues und übten eine gewaltige Wirkung auf die kleine Welt der schwedischen Krimiszene aus.“7

In der Nachfolge von Sjöwall und Wahlöö, deren Romane bis heute verfügbar sind und die aktuell fürs Fernsehen adaptiert wurden und werden, stehen heute viele nordische Autoren, nicht zuletzt der in Deutschland wohl bekannteste aktuelle schwedische Krimi-Autor, Henning Mankell. Sein Protagonist, Kommissar Kurt Wallander im beschaulichen Provinzstädtchen Ystad, ist so etwas wie ein konservativer Linker. Mit wachsendem Unbehagen erlebt er, wie selbst die beschauliche Provinz Schonen in Südschweden zum Schauplatz scheußlicher, geradezu bizarr grausamer Verbrechen wird. Die internationale Kriminalität schwappt in eine ländliche Gegend hinein, in der Gemeinschaftssinn und Nachbarschaftshilfe hoch gehalten wurden und niemand die Haustür abschließt. Dieses schwedische „Volksheim“, das einstige Gesellschaftsideal der Sozialdemokraten, zerbröckelt unter dem Ansturm der Globalisierung von außen und wachsender gesellschaftlicher Spaltung im Inneren. Kommissar Wallander macht sich oft Gedanken darüber: „Das Land, in dem er aufgewachsen war, sein Schweden, das Land, das nach dem Krieg aufgebaut worden war, hatte nicht so fest auf Urgestein gestanden, wie sie geglaubt hatten. Unter dem Ganzen hatte sich verdeckter Morast befunden. Die Gesellschaft war härter geworden. Menschen, die sich in ihrem eigenen Land überflüssig oder gar unwillkommen fühlten, reagierten mit Aggressivität und Verachtung. Wallander wusste, dass es keine sinnlose Gewalt gab. Jede Gewalt hatte für den, der sie ausübte, einen Sinn. Erst wenn man es wagte, diese Wahrheit zu akzeptieren, durfte man hoffen, die Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.“8

Diese Hoffnung wird freilich in der Entwicklung der Wallander-Romane immer schwächer, ähnlich wie in den älteren Romanen von Sjöwall und Wahlöö. Und auch hier wachsen die Zweifel am eigenen Polizeiberuf. „Man konnte längst nicht mehr darüber hinweg sehen, dass die Kriminalität in Schweden blühte wie nie zuvor. Menschen, die Wirtschaftskriminalität auf hohem Niveau betrieben, lebten in einem nahezu geschützten Raum ... Doch Wallander sah keinerlei Anzeichen für energische Gegenmaßnahmen. Vielmehr wurden die Polizei und der Rechtsapparat abgerüstet.“9

Gesellschaftsideal als Religion

Der Erfinder des Kommissars aus Ystad, der Autor Henning Mankell, hat nichts dagegen, wenn man ihn als „Moralisten“ bezeichnet oder „letzten Mohikaner, der alte Werte hoch hält“ – so in mehreren Interviews (nachzulesen bei www.schwedenkrimi.de). Von Religion würde er in diesem Zusammenhang sicher nicht sprechen. Wenn man freilich bei „Religion“ nicht sofort an persönliche Götter oder einen persönlichen Gott denkt, hat dieses moralische Streben bei Mankell vielleicht doch religiöse Züge. Ich beziehe mich dabei auf einen Ansatz des Sozialpsychologen Erich Fromm, mit Adorno und Horkheimer Begründer der „Frankfurter Schule“. Er versteht unter Religion „jedes System des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet ... Da das Bedürfnis nach einem System der Orientierung und Hingabe einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins ausmacht, ist die Intensität dieses Bedürfnisses zu verstehen. Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen ... Wir müssen alle Ideale einschließlich derjenigen, die in weltlichen Ideologien in Erscheinung treten, als Ausdruck des selben menschlichen Bedürfnisses betrachten und sie danach beurteilen, wie viel Wahrheit sie enthalten, in welchem Maße sie der Entfaltung menschlicher Kräfte dienen und bis zu welchem Grade sie dem menschlichen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Harmonie in seiner Welt tatsächlich entgegenkommen.“10

In diesem Sinn hat nach Fromm jeder Mensch eine Religion, ob bewusst oder nicht; entscheidend ist die Frage, ob diese „Religion“ destruktiv oder konstruktiv, lebensfördernd oder lebensverneinend ist. In dieser Perspektive wären die Helden der nordischen Krimis durchaus als gläubig zu bezeichnen. Denn sie glauben mit nachgerade religiöser Inbrunst an die Möglichkeit gerechter Verhältnisse und gehen im Einsatz dafür nicht selten an ihre persönlichen Grenzen. Von transzendenten Mächten sprechen sie nicht, wohl aber von einem Ideal. Erich Fromm hätte nicht gezögert, von einer Religion zu sprechen. Die kommt freilich als Moral daher: als fordernde, unbequeme, aber auch ganz unverzichtbare Grundregel menschlichen Zusammenlebens. Sie wird von den Polizisten in einer Art trotziger Resignation verteidigt. Vorbei sind die Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Utopie, wie sie Sjöwall und Wahlöö noch im Kommunismus gesehen hatten. Es geht fast nur noch darum, dem amoralischen Zerfall der Gesellschaft Grenzen zu setzen: ein sehr defensives Gesellschaftsideal. In der Tradition des sozialkritischen Romans bleibt es insofern, als nicht die Individuen, sondern die Gesellschaft den Wurzelgrund des Bösen bildet, auch wenn – entsprechend den Gesetzen des Genres Kriminalroman – individuelle Täter ermittelt und bestraft werden. Aber gerade Kommissar Wallander betont im Gespräch mit der Frau eines Kollegen: „Es gibt kaum böse Menschen. Jedenfalls glaube ich, dass sie sehr selten sind. Dagegen gibt es böse Umstände. Die diese ganze Gewalt auslösen. Und genau diese Umstände müssen wir uns vornehmen. – Wird es nicht nur immer schlimmer und schlimmer? – Vielleicht, erwiderte Wallander zögernd. Aber wenn es so ist, dann liegt das daran, dass die Umstände sich verändern. Nicht daran, dass böse Menschen heranwachsen.“11 Gerade Mankells Wallander reflektiert ausführlich nicht nur über Technik und Taktik der Ermittlung, sondern über Moral, Gerechtigkeit und ein menschliches Zusammenleben. Ja, er klagt die Moral regelrecht ein. Das ist kein Zufall. Manche Literaturkritiker gehen, wie der schon zitierte Tobias Gohlis, davon aus, der Kriminalroman sei die geeignetste, wenn nicht gar die einzige Form von Literatur, in der noch moralische Fragen beantwortet werden können.12

Fazit

Gibt es so etwas wie heimliche Religion im Kriminalroman? Ich meine, ja: nämlich dann, wenn Religion nicht als Sonderwelt begriffen wird, als ein System jenseitiger Gedanken und abseitiger Rituale, neben denen das wahre Leben vorbeiläuft, sondern als eine Wahrnehmung von Lebensfragen und als ein Antwortversuch auf diese Fragen. Dass sie im fremden Gewand des Krimis eher ernst genommen werden als im klassischen der Predigt, passt zu einer so säkularisierten Gesellschaft wie unserer und der des Nordens. Als Beobachtung ist das aber nicht neu. Denn der Literaturkritiker Willy Haas notierte schon 1929 in der Zeitschrift „Literarische Welt“: „Das Theologische in unserer Welt äußert sich nicht offen, kann sich nicht offen äußern ... In einem gewissen Sinn ist also der Kriminalroman ein Ersatz für den fehlenden religiösen Glauben: er gibt die Zuversicht zum göttlichen Logos, zur göttlichen Gerechtigkeit.“13


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.


Anmerkungen

1 Bertolt Brecht, Über die Popularität des Kriminalromans. Gesammelte Werke, Bd. 19, Frankfurt/M. 1969, 450.

2 Ebd.

3 Jochen Vogt, Krimi international, in: Der Deutschunterricht 2/2007, 4.

4 Vgl. Robert von Lucius, Pastoren als Staatsbeamte, in: FAZ vom 19.8.2003.

5 Robert von Lucius, Der zivile Abweg, in: FAZ vom 20.4.2004.

6 Tobias Gohlis, Nord ist Mord. Ein Streifzug durch die nordische Kriminalliteratur, in: Jost Hindersmann (Hg.), Fjorde, Elche, Mörder. Der skandinavische Kriminalroman, Wuppertal 2006, 18f.

7 Johan Wopenka, Die schwedische Polizei übernimmt den Tatort, in: Jost Hindersmann, a.a.O., 83f.

8 Henning Mankell, Die fünfte Frau, Wien 1998, 223.

9 Henning Mankell, Mittsommermord, Wien 2000, 36.

10 Erich Fromm, Analyse einiger Typen religiöser Erfahrung, in: ders., Psychoanalyse und Religion, München 1990, 27 und 30.

11 Henning Mankell, Die fünfte Frau, a.a.O., 411.

12 Tobias Gohlis, a.a.O., 15.

13 Willy Haas, Die Theologie im Kriminalroman, in: Literarische Welt 26/1929, hier zit. nach Jochen Vogt, Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, 122.