Rüdiger Braun

Gefährdeter Schulfrieden: Kontroversen um konfrontative Religionsbekundungen

Das Dilemma der Schulen – Emanzipation und / oder Religionsfreiheit

In einer religiös pluralen Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland steht die Schule vor einem Dilemma: Einerseits soll sie ein emanzipatorischer Raum sein, der jungen Menschen zur Entwicklung einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit verhilft, und dies ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer religiösen oder politischen Anschauungen (vgl. Art. 3 GG und § 1 SGB VIII). Andererseits soll sie das durch Art. 4 GG verbürgte Grundrecht auf positive Religionsfreiheit achten und damit gewährleisten, auch im Raum der Schule die eigene Weltanschauung oder religiöse Überzeugung öffentlich bekunden zu dürfen. Nur wo Weltanschauung und Religion nicht aus der Schule ausgeschlossen werden, kann der freiheitlich-verantwortliche Umgang damit eingeübt werden.

Zum Konflikt wird das Dilemma der Schule dort, wo deren Rechte (Art. 7 GG) mit der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) bzw. Unterrichtsinhalte mit religiösen „Vorbehalten“ kollidieren. Diese Kollisionen von Grundrechten werfen die Frage auf, ab wann das Maß der durch Art. 4 GG geschützten Religionsausübung in der Schule konkret überschritten ist. Für ein Verbot oder eine Einschränkung religiöser Symbole und Bekundungen müsse, so stellte es das Bundesarbeitsgericht in seiner Beurteilung des Berliner Neutralitätsgesetzes 2020 fest, „eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden“ nachgewiesen werden (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.8.2020, 8 AZR 62/19). Wenn es gut läuft, gehen die Lehrkräfte und die Schüler mit Migrationshintergrund aufeinander zu, und es entwickelt sich etwas, was die Integrationswissenschaft als „hybride“ oder „postmigrantische“ Gesellschaft beschreibt: Alle erleben sich als Teil eines von allen angestrebten je größeren Ganzen. Was ist aber, wenn es, wie z. B. in Stadtbezirken mit segregierten Milieus wie in Berlin-Neukölln, weniger gut läuft und Schulkinder die Einhaltung von religiösen (Gebets-)Pflichten und Bekleidungs-, Speise- und Fastenregeln, die sie sich selbst auferlegen, nun auch von anderen fordern? Wo genau ist, unter Abwägung aller betroffenen Grundrechte und Rechtsgüter, die Grenze zwischen der Religions- und Meinungsfreiheit einerseits und den staatlichen Eingriffsrechten andererseits zu ziehen?

Das Projekt: eine Dokumentationsstelle „konfrontative Religionsbekundung“

In Berlin-Neukölln ist eine Kontroverse um eine „Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontative Religionsbekundung“ entbrannt, die der in der Unterstützung des Berliner Neutralitätsgesetzes engagierte „Verein für Demokratie und Vielfalt“ (DeVi e. V.) gemeinsam mit dem Bezirksamt plant. Die Stelle soll dem Ziel dienen, Aufschluss über die Verbreitung des gleichnamigen Phänomens in den Schulen sowie über den vorliegenden politischen Handlungsbedarf zu gewinnen. Denn erst dann, so der sich als religionsdistanziert verstehende Verein, ließen sich passgenaue Präventionsstrategien und fallbezogene pädagogische Interventionen entwickeln. Auf einen erfolgreichen Antrag hin wurde DeVi e. V. vom Bundesprogramm „Demokratie leben“ eine dreimonatige Finanzierung (10-12/2021) zur Durchführung einer Bestandsaufnahme und zur Entwicklung eines Konzeptes für die Stelle bewilligt. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme, die über halbstrukturierte leitfadenorientierte Tiefeninterviews mit insgesamt zehn Neuköllner Schulen durchgeführt wurde und die mittlerweile in einer Broschüre (DeVi 2021) vorliegt, habe man bei 37 % der Schulen immerhin eine „Problemwahrnehmung“, bei 50 % sogar eine „hohe Problemwahrnehmung“ feststellen können.

Auch wenn die Installation der Anlauf- und Dokumentationsstelle, die 2022 ihre Arbeit aufnehmen möchte, noch nicht gesichert ist, hat sie schon im Vorfeld heftige Kontroversen und Kritik ausgelöst. Es fehle dem Projekt eine notwendige, breit anzulegende wissenschaftliche Begleitung. Auch sei der Begriff „konfrontative Religionsbekundung“ implizit von einer islamophoben Motivation getragen und nehme eine unzulässige Reduktion jugendtypisch provokativer Verhaltensweisen auf „den Islam“ vor, welche die Bearbeitung der tatsächlichen Motive der Jugendlichen behindere und deren Stigmatisierung und Diskriminierung verstärke.

Radikalisierungsprävention und Wahrnehmungslücken

DeVi e. V. begründet die Notwendigkeit der Einrichtung einer solchen Dokumentationsstelle mit „Problemlagen und Gefährdungen“, mit denen Schulen konfrontiert seien, die aber „mit Verweis auf das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Religionsfreiheit … aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt“ (DeVi 2021, 42) würden. Bezug genommen wird dabei auf eine im „Bericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Berliner Landesprogramm ‚Radikalisierungsprävention‘“ (2018) beschriebene und in der bisherigen Präventionspraxis bestehende „Wahrnehmungslücke“ (Jaschke / Tausendteufel 2018, 83). Gemeint ist damit der Graubereich einer unterhalb der „kontinuierlichen Teilnahme“ in islamistischen Strukturen und Angeboten bestehenden „Alltagskultur“, die „durch ein durch Offenheit geprägtes Interesse an islamistischen Inhalten gekennzeichnet“ sei (ebd., 27), in der Präventionsarbeit aber oft als „jugendtypisches Verhalten“ und „Provokation“ verharmlost werde. Der Bericht spricht von „Vorformen von Radikalisierung“ und „Hinweisen auf radikalisierungsfördernde Milieus“, wie sie sich „zum einen in der weiten Verbreitung demokratie- und gruppenfeindlicher Einstellungen und zum anderen in konfrontativer Religionsbekundung“ bezeugen (ebd., 88). Genannt werden: Konflikte um religiöse Kleidung, Forderung von Gebetszeiten und -räumen, Nichtteilnahme an schulischen Aktivitäten, Verweigerung von Aufgabenstellungen, Beanspruchung von Sonderrechten, systematische und lang anhaltende Demütigungen und Beleidigungen entlang von religiösen Themen bzw. religiös konnotiertem Alltagsverhalten, Abwertung von Pädagoginnen, Anpassungsdruck u. v. m.

Alltagskulturen und Anpassungsdruck

Auch wenn das Spannungsfeld aus islamistischer Betätigung und alltagsreligiösem Verhalten, wie die Broschüre zugibt, „vielfach nur schwer auszudeuten“ (DeVi 2021, 41) ist, sieht DeVi e. V. die Gefährdung des Schulfriedens, so die vorläufige pädagogische Auskunft, dann gegeben, „wenn Schüler*innen von Mitschüler*innen unter Druck gesetzt werden, ihren Alltag entlang von religiös konnotierten Verhaltensweisen zu gestalten, wenn sie aufgrund von Geschlecht, geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung, oder aufgrund ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, ihrer sozialen und kulturellen Herkünfte oder ähnlichem beleidigt oder gar angefeindet werden“ (ebd., 42). Vorläufig und für weitere Schärfung offen ist auch die Definition des Begriffs der „konfrontativen Religionsbekundung“, der DeVi e. V. zufolge „religiöse Praxen sowie religiös-konnotiertes (Alltags)Verhalten“ benennt, „die in der (Schul-)Öffentlichkeit ausgelebt und ausagiert werden“ und auf die Herstellung von Aufmerksamkeit und Dominanz zielen. Es gehe um Auffassungen, die „mit immer klareren Forderungen verbunden sind, dass die für sich selbst aufgestellten Regeln auch von anderen einzuhalten seien“ (ebd.), nicht aber, wie oft unterstellt, um einen umfassenden Konfrontationsschutz in Sachen Religion.

In einem am 20.12.2021 veranstalteten Online-Fachtag zur Vorstellung der bisherigen Ergebnisse sprach Projektleiter Michael Hammerbacher von einer „freiheitseinschränkenden Alltagskultur“ sowie von einem insbesondere auf SchülerInnen aus muslimisch geprägten Familien ausgeübten „Anpassungs-“ und „religiösen Leistungsdruck“, der insbesondere das Verhalten im Fastenmonat Ramadan, den Umgang mit religiösen Minderheiten oder das Kopftuch betreffe und die freie Entfaltung der SchülerInnen behindere. Hinzu komme der im jeweiligen Sozialraum wachsende Einfluss der Moscheen auf „eine sehr konservative männliche Minderheit“, die den Anspruch erhebt, „möglichst viele, aber vor allem die Mädchen im Sinne traditioneller Werteauslegungen zu kontrollieren“. In seinem der Broschüre vorangestellten Geleitwort („Vielfalt erfordert Freiheit“) sieht sich der Bezirksbürgermeister von Neukölln, Martin Hikel, zu einer noch schärferen Formulierung veranlasst: Eine Gefährdung des Schulfriedens sei dann gegeben, wenn „Mädchen dazu angehalten werden, ihr Erscheinungsbild, ihr Verhalten bestimmten (vermeintlich) religiösen Anforderungen anzupassen, wenn liberale Weltanschauungen oder nichtreligiöse Überzeugungen verurteilt und ihre Vertreter*innen gemobbt, ausgegrenzt oder diskriminiert werden, weil sie nicht den Anforderungen ‚echter‘ oder ‚einzig richtiger‘ Glaubensauslebung entsprächen“ (ebd., 5).

Interessen und Rechtsgüter im Konflikt

In der Kontroverse um die Errichtung einer „Anlauf- und Dokumentationsstelle für konfrontative Religionsbekundungen an Schulen“ verdichten sich nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf die staatliche Neutralität und die (Mit-)Gestaltung und (Mit-)Verwaltung des schulischen Alltags, sondern auch differente Wertungen und Gewichtungen grundlegender Bedürfnisse, Interessen und Rechtsgüter: Religionsgemeinschaften begehren zivilgesellschaftliche Anerkennung, fromme SchülerInnen eine umfassendere Berücksichtigung ihrer religiösen Pflichten (positive Religionsfreiheit), gläubige Individuen Freiräume für religiöse Selbstbestimmung, Nichtreligiöse und „Liberal“-Religiöse die Bewahrung von Säkularität und Neutralität, politische Akteure die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Je nachdem, mit welchen Erwartungshaltungen religionspolitische Fragen angegangen werden, ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen und (Konflikt-)Lösungsstrategien. Zu einem Dilemma wird die praktische Konkordanz unterschiedlicher Bedürfnisse und Rechtsgüter in dem Moment, wo man versucht, allen gleichermaßen gerecht zu werden. Der staatliche Bildungsauftrag der Schule zielt vornehmlich darauf, das Individuum unabhängig von Herkunft und wirtschaftlicher Lage in seiner freiheitlichen Grundrechtsausübung und damit in seiner selbstbestimmten Entscheidung für oder gegen eine Religion bzw. Weltanschauung zu unterstützen. Er tritt damit unausweichlich, ohne damit Religion an sich aus dem schulischen Raum ausschließen zu wollen, in Konkurrenz zu religiösen Kollektiven und deren Ansprüchen – insbesondere dem Anspruch, im Raum der Schule religiöse Binnenordnungen etablieren zu wollen. Die komplexe und konflikthaltige Debatte wird durch den allgegenwärtigen Rassismusvorwurf und die (möglicherweise spezifisch deutsche) Angst vor dem Religionskonflikt nochmals zusätzlich verschärft. Die Angst von Lehrkräften, Angehörige von Minderheiten zu diskriminieren, Stereotype zu reproduzieren oder als rassistisch bezeichnet zu werden, sobald sie über Islamismus sprechen, ist groß und kommt auch in den von DeVi e. V. geführten anonymisierten Interviews zum Ausdruck. Konfliktvermeidungsstrategien und Selbstzensur sind häufig die Folge.

Das Problemfeld konfrontative Religionsbekundung und Islamismus ist zweifellos ernst zu nehmen und wird, entgegen einer verbreiteten und auch von DeVi e. V. geförderten Wahrnehmung, bereits seit geraumer Zeit (vgl. das Modellprojekt CleaR 2016 – 2019) thematisiert und analysiert. Es zu verharmlosen, wäre weder der Thematik zuträglich noch den betroffenen Schulen gegenüber redlich. Wie aber religiöses Mobbing und islamistische Religionsbekundung benennen, ohne kollektivierende Opfer- und Unterdrückungsnarrative aufseiten der Schüler zu befördern? Um verkürzte Zugangsformen zu komplexen Bildungs- und Sozialproblemen zu vermeiden, wird alles daranzusetzen sein, die Analyse des Problemfeldes so neutral und wissenschaftlich fundiert wie nur möglich vorzunehmen. Ob DeVi e. V. dazu willens und in der Lage ist, wird sich in der Beantragung zur Förderung der Stelle und deren Begutachtung zeigen. Fest steht im Moment nur das eine: Das Projekt und seine Unterstützer werden mit heftigem Gegenwind zu rechnen haben.


Rüdiger Braun, 01.01.2022

 

Quellen

DeVi (2021): Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontative Religionsbekundung, Vorabversion vorgelegt für das Bezirksamt Neukölln, Dezember 2021.

Jaschke, Hans-Gerd / Tausendteufel, Helmut (2018): Wissenschaftliche Begleitung des Berliner Landesprogramms Radikalisierungsprävention, Februar 2018, www.berlin.de/lb/lkbgg/publikationen/berliner-forum-gewaltpraevention/2018/2010-10-01-abschlussbericht-wissenschaftliche-begleitung_lp.pdf (Abruf: 22.12.2021).