Helmut Zander

Frauen um Rudolf Steiner

Peter Selg als Historiograph der Anthroposophie

Frauen in einem Männerleben: welch spannendes Kapitel! Nicht nur, weil damit Rudolf Steiners private Lebensführung in den Blick kommt, sondern zuerst einmal, weil dadurch ein wichtiges emanzipatorisches Element der theosophischen und später anthroposophischen Bewegung sichtbar wird. Denn in der Theosophischen Gesellschaft, deren Generalsekretär Rudolf Steiner (1861-1925) in der deutschen Sektion seit 1902 war und aus der 1912 die Anthroposophische Gesellschaft entstand, spielten Frauen eine wichtige Rolle: Sie bildeten vor dem Ersten Weltkrieg in manchen Jahren mehr als die Hälfte der Neueintretenden, in vielen Zweigen stellten sie das Leitungspersonal. Dahinter stand eine wichtige sozialhistorische Funktion der Theosophie für Frauen: Hier fanden sie Leitungsaufgaben, für die es im Wilhelminischen Deutschland sonst kaum Parallelen gab, auch nicht in den Kirchen. Die Theosophie und die Anthroposophie waren zu Steiners Lebzeiten ein Eldorado für gebildete, religiös „musikalische“, selbstbewusste Frauen – darunter übrigens überproportional viele unverheiratete.

Jedoch stand im Fokus des historischen Interesses an der Anthroposophie bislang Rudolf Steiner als die unumstrittene Führungsfigur. Aber in den letzten Jahren hat das Interesse an Steiners Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugenommen.1

Peter Selg, Arzt und Leiter des Ita Wegman-Archivs an der anthroposophischen Ita Wegman-Klinik in Arlesheim, hat sich nun mit denjenigen Frauen beschäftigt, mit denen Steiner persönlich enge Beziehungen unterhielt. Selg hat seine historischen Veröffentlichungen mit Arbeiten zur Geschichte der anthroposophischen Medizin begonnen und in den letzten Jahren seine Interessen auf andere Biographien in Steiners Umfeld ausgedehnt. Diese Publikationen erscheinen in sehr schneller Folge, fast wie am Fließband.

Marie Steiner, geb. von Sivers

Unter den Frauen in Steiners Umfeld steht an erster Stelle natürlich Steiners zweite Frau, Marie von Sivers (1867-1948). Er hatte sie 1900 kennengelernt, und im Rahmen dieser neuen Freundschaft kühlte die Beziehung zu seiner ersten Ehefrau ab, der einige Jahre älteren Anna Eunike (1853-1911).

Marie von Sivers wurde seine Partnerin und engste Mitarbeiterin beim Aufbau der deutschen Sektion der Adyar-Theosophie; sie überlebte ihren Mann um fast ein Vierteljahrhundert. Eine wichtige Rolle spielte sie bei der Etablierung der Tanzform der Eurythmie oder für die künstlerische Deklamation von Texten; sie hat in vielen Konflikten in der Anthroposophischen Gesellschaft streitbar Partei ergriffen, und nicht zuletzt war sie über lange Jahre wohl der Steiner vertrauteste Mensch. Steiner hat sie in allen Testamenten schließlich zu seiner Nachlassverwalterin eingesetzt.

Eine solide Biographie dieser zentralen Person ist ein großes Desiderat der anthroposophischen Geschichtsschreibung, und deshalb nimmt man jedes Buch zu diesem Thema neugierig zur Hand. Aber Selg enttäuscht. Was er unter dem Titel „Marie Steiner-von Sivers. Aufbau und Zukunft des Werkes von Rudolf Steiner“ bietet, ist eine Zusammenstellung meist schon andernorts veröffentlichter Dokumente. Es hätte nun durchaus Sinn gemacht, dieses Material, wie im Titel versprochen, auf Marie von Sivers’ Rolle im „Aufbau“ von Steiners „Werk“ einer erneuten Lektüre zu unterziehen, denn es gibt viele offene Fragen: Welche Rolle spielte sie zwischen all den anderen Frauen in der frauendominierten Eurythmie? Wie ist ihre auch unter Anthroposophen umstrittene Rolle bei der Edition von Steiners Werk zu sehen? Wie verhielt sie sich in den Auseinandersetzungen um die Leitung der seit 1925 führerlosen Anthroposophischen Gesellschaft? Aber auf keine dieser und vieler, vieler anderer offener Fragen versucht Selg eine neue Antwort zu geben. Stattdessen erzählt er ihr Leben chronologisch nach, immer fixiert auf die Beziehung zu Steiner, häufig in hagiographischer Verneigung – und er endet mit dem Tod Steiners. Marie Steiners Leben nach 1925 ist Selg genau zehn Zeilen wert. Dieses Buch ist weitenteils eine Verdopplung vorhandenen Materials, allerdings für viele Faksimiles ist man als Leser dankbar. Wer sich über Marie von Sivers informieren will, greife deshalb weiterhin auf Hella Wiesbergers Dokumentation zurück (Selgs wichtigster Quelle) oder auf Gerhard Wehrs kleinen Abriss ihrer Lebensgeschichte.2

Edith Maryon

Auch Steiners Beziehung zu seiner zweiten Frau ließ in den zwanziger Jahren Raum für weitere Beziehungen. Eine davon war Edith Maryon (1872-1924), eine englische Künstlerin, die aus einer Fraktion des okkultistischen Ordens „Golden Dawn“ kam und vor dem Ersten Weltkrieg zu Steiner und der Anthroposophie fand. Sie spielte Anfang der 1920er Jahre für die künstlerische Gestaltung des Dornacher Architekturensembles eine wichtige Rolle, insbesondere für eine monumentale Holzskulptur, den „Menschheitsrepräsentanten“, der im Johannesbau (heute meist erstes Goetheanum genannt) aufgestellt werden sollte.

Selg hat ihre Lebensgeschichte ebenfalls nacherzählt, wiederum weitgehend unter Verwendung bereits publizierter Materialien.3 Auch hier findet man viele Faksimiles und zudem bislang unveröffentlichte Dokumente, über die Selg verfügt, weil Nachlassteile Maryons im Ita Wegman-Archiv deponiert sind. In diesem Buch fällt die chronologische Aufreihung des Materials nicht so negativ ins Gewicht wie in der Biographie über Marie von Sivers, weil Selg erstmals die bislang an verschiedenen Stellen veröffentlichten Materialien zusammenführt. Damit wird beispielsweise noch deutlicher als in der Biographie Rex Raabs über Maryon, wie stark Entwürfe und Modelle für den „Menschheitsrepräsentanten“ auf Maryon zurückgehen. Bei Selg fehlen jedoch Anstrengungen, das Material analytisch aufzubereiten, etwa die Interaktion zwischen Maryon und Steiner genauer zu bestimmen. Möglicherweise wäre dann klargeworden, dass Maryon bei der Etablierung des expressionistischen Baustils in Dornach eine zentrale Rolle zukommt, etwa im Verzicht auf rechte Winkel, der bis heute weite Teile der anthroposophischen Architektur prägt.4 Die Frage, wieweit Steiner in derartigen Prozessen selbst Anreger war oder die Anregungen anderer aufgenommen und transformiert hat – dies kann ja eine sehr kreative Tätigkeit sein – kommt bei Selg nur oberflächlich in den Blick.

Stattdessen dominiert ein spiritueller Deutungshorizont an Stelle historischer Analysen. Dabei bleibt Steiner die unbefragte Autorität, und seine Hierarchisierung seiner Beziehungen bleibt auch für Selg verpflichtend. So teilte Steiner Maryon am Anfang ihrer Beziehung mit, dass sie ihre hohe okkulte „Entwicklungsstufe“ nicht würde realisieren können (35): Steiner hielt sich also – so kann man diese Stelle interpretieren – Konkurrenz in Gestalt hoher „Eingeweihter“ vom Leib. Solche „geistigen“ Deutungen Steiners bleiben bei Selg unbefragt stehen. Überhaupt sind die persönlichen Dimensionen des Verhältnisses zwischen Steiner und Maryon unterbelichtet, denn es blieb nicht bei einer sachbezogenen Zusammenarbeit. Maryon wurde für Steiner eine Vertraute, der er offener als seiner Frau in Briefen von den Sorgen berichtete, die ihn umtrieben – etwa hinsichtlich des Zustandes der Anthroposophischen Gesellschaft. Selg unterschlägt derartige Zusammenhänge nicht, aber er bietet auch keine Deutungen an, die dem weniger bewanderten Leser diese Ebene erschließen. Ein eklatantes Beispiel ist der Hinweis auf „karmische Zusammenhänge“ (88), von denen Steiner im Blick auf seinen und Maryons Lebensgang sprach. Dies war ein okkultistisches Sprachbild für eine enge und freundschaftliche, sozusagen geistig intime Beziehung zwischen beiden. Aber eine solche psychologische Ebene, dies hat man als Rezensent zu akzeptieren, interessiert Selg nicht besonders.

Ita Wegman

Steiners wichtigste neue weibliche Bezugsperson in den letzen Lebensmonaten war die Ärztin Ita Wegman (1876-1943). Die in Indonesien geborene Niederländerin hatte im Juni 1921 ein Sanatorium in Arlesheim, fußläufig nahe Dornach, gegründet, das „Klinisch-Therapeutische Institut“. Damit wurde sie in der seit 1920 von Steiner stark vorangetriebenen medizinischen Bewegung der Anthroposophie eine zentrale Figur, weil die zweite Klinikgründung in Stuttgart scheiterte. Wegman hat in Emanuel Zeylmans van Emmichoven einen Biographen gefunden, der die verstreuten und geheimgehaltenen Dokumente ihres Lebens publiziert hat;5 seine dreibändige Veröffentlichung – materialreich, offen für bislang verdrängte Dimensionen ihrer Geschichte, gleichwohl mit anthroposophischer Perspektive geschrieben – ist der Ausgangspunkt und Maßstab jeder weiteren Beschäftigung mit dieser Frau.

Selg hat sich jüngst in zwei Publikationen mit Ita Wegman beschäftigt. In einer geht es um „Ita Wegman und Arlesheim“. Auch hier hat Selg wichtige Daten zusammengetragen, auch neue Texte und Faksimiles abgedruckt, aber insgesamt wirkt die Auswahl der Themen zufällig. Vor allem aber liegt über allem, schwerer als bei der Biographie Maryons, der Firnis einer esoterischen Deutung. So wird einleitend die Geschichte Arlesheims mit der heiligen Odilie des Elsass und der Gralsgeschichte verbunden, in der dann Arlesheim zu einer alten „Weihestätte“ „des therapeutischen Christentums“ wird (21). Im Spätmittelalter seien die oberrheinischen Mystiker hier wirksam geworden, und Hinweise auf das Umfeld Cagliostros und des Grafen von St. Germain fehlen nicht. Fast all diese Versuche, Arlesheim eine esoterische Geschichte zu unterlegen, sind fiktional, von einigen dünnen historisch belegbaren Bezügen abgesehen. Mentalitätshistorische Verfahren in der Geschichtswissenschaft, in der solche „unbewussten“ Beziehungskomplexe thematisiert werden, benutzt Selg nicht. Seine „esoterischen“ Verknüpfungen stehen vielmehr exemplarisch für sein Verfahren, Hinweise Steiners und aus seinem Umfeld als „hellsichtig“ geschaute Fakten zu übernehmen. Dies ist in der Außenperspektive keine historische Arbeit mehr, sondern ein spiritueller Text.

Zugleich fehlen aber Dimensionen, die seit Zeylmans Arbeit offenliegen und deren Verschweigen den Autor dem Verdacht aussetzen, schwierige (oder unliebsame?) Dimensionen von Wegmans Biographie zu verdrängen. So kann man einfach das Faktum nicht mehr übergehen, dass Wegman Steiners Geliebte war, wohl nicht körperlich, aber als enge und vertraute Freundin. Diese Beziehung, die sich nach Maryons Tod seit dem Herbst 1923 intensiviert hatte und im Sommer 1924 in Briefen zu wechselseitigen Zuneigungsgeständnissen führte, ist ein Angelpunkt für die Bestimmung von Wegmans außergewöhnlicher Stellung in der Anthroposophischen Gesellschaft in Steiners letzten Lebensmonaten. Ohne dieses Wissen hat man zudem im Grunde keine Chance, Wegmans Lebensweg nach Steiners Tod im März 1925 zu verstehen.

In einem weiteren Buch hat sich Selg, einen bei Zeylmans nur kursorisch behandelten Lebensabschnitt ergänzend, den letzten drei Lebensjahren Wegmans (1940-1943) zugewandt. Er bietet hier viel neues Material und schließt damit eine wichtige Lücke in ihrer Biographie. Im Zentrum des kleinen Buchs steht die Gründung einer neuen medizinischen Einrichtung, der Casa Andrea Cristoforo am Lago Maggiore. Deren Gründung wurde in der anthroposophischen Literatur stark als Ausdruck von Wegmans unbändigem Willen gelesen, neue Unternehmungen auf den Weg zu bringen. Doch hier sind andere Geschichten mitzubedenken: an erster Stelle die bittere Feindschaft zu Marie Steiner. Denn Steiners Ehe war über die Beziehung zu Wegman in eine handfeste Krise geraten, in der Steiner seine Frau belehrte, dass die Beziehung zu Wegman „karmisch“ begründet und von ihr hinzunehmen sei. Marie Steiner hat wohl nicht zuletzt wegen dieser Niederlage nach dem Tod ihres Mannes alle Hebel in Bewegung gesetzt, ihre ehemalige Konkurrentin aus der Anthroposophischen Gesellschaft zu verdrängen, was mit Wegmans Ausschluss im Jahr 1935 denn auch gelang. Wenn man das nicht deutlich beschreibt, betreibt man Geschichtsklitterung durch eine selektive Präsentation des Materials.

An zweiter Stelle muss man auch Wegmans Persönlichkeit nicht nur von ihrer Sonnenseite her betrachten, wenn man ihren Fortzug von Arlesheim in den Tessin deutet. Denn zu ihrer Schaffenskraft kommt offenbar auch die Schwäche, mit den Konflikten in dem Arlesheimer Institut umzugehen. Zu diskutieren wäre, ob sie mit der Organisation dieser Einrichtung überfordert war – dies jedenfalls legen Hinweise bei Selg nahe (etwa 40f). Und selbst die neugegründete Casa Andrea Cristoforo war ihr schon 1940 wieder zu viel, aber eine „Flucht nach Zürich“ misslang (131). Selg berichtet von diesen Entwicklungen mit kurzen Hinweisen und öffnet damit neue Perspektiven, aber ohne systematisch nach den Schwächen dieser großen Frau der anthroposophischen Medizin zu fragen. Stattdessen verschwimmen die letzten Lebensjahre Wegmans im Nebel einer Deutung, in der hagiographische Töne (eine Frau mit einem „einzigartig sicheren, großen, geistig-sozialen Duktus“ [14]) und okkultistische Leitmotive dominieren: Für Selg steht jedenfalls fest, dass Wegman nach Steiners Tod eine „fortbestehende esoterische Verbindung zu ihm“ besessen habe, die „ihrem Weg und Wesen die klare und vorbildliche Orientierung“ gab (15).

Peter Selg

Angesichts der Bemühungen Peter Selgs, Frauen und andere Mitarbeiter aus Steiners Umfeld ins Licht zu holen und ihnen eine historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihnen im Schatten Steiners jahrzehntelang nicht zugebilligt wurde, kann man fragen, ob meine Besprechung nicht zu kritisch ausgefallen ist. Ich meine nicht. Zum einen geht es um grundsätzliche Fragen einer historischen Aufarbeitung und zum anderen um die Debatte mit einem Autor, der sich auch anschickt, eine „große Werkbiographie Rudolf Steiners“6 zu verfassen und ergo an der Deutung der Grundlage der Anthroposophie arbeitet. Angesichts dieser Situation scheint mir die Kritik notwendig, und ich möchte sie mit drei grundsätzlichen Bemerkungen zu Selgs Arbeiten erläutern.

(1.) Die Faksimiles und neue Texte nimmt man, wie gesagt, dankbar zur Kenntnis. Selg bereichert damit unser Wissen und dokumentiert darüber hinaus in vielen Bemerkungen eine aus mündlichen oder unzugänglichen schriftlichen Quellen gespeiste, detaillierte Kenntnis des anthroposophischen Milieus. Zudem signalisiert er eine Öffnung des Ita Wegman-Archivs, das, wenn es nicht nur anthroposophischen Forscherinnen und Forschern offensteht, für die weitere Erforschung der Anthroposophie eine wichtige Anlaufstelle werden kann.

(2.) Aber Selg findet in seinen Publikationen keinen Raum, das Material kritisch „durchzukneten“, es zu analysieren, es in Kontexte zu stellen; Selg ist weit von wissenschaftlichen historiographischen Verfahren weg. Auch fehlt die Bereitschaft, Thesen zur Interpretation zu erproben und sich mit anderen Autoren und Autorinnen auseinanderzusetzen. Selg ignoriert weitgehend die unterschiedlichen Meinungen über die Deutung seiner Protagonistinnen, auch die inneranthroposophischen. Wissenschaft ist aber gerade durch Diskurs und darin durch das Bewusstsein der Vorläufigkeit und Begrenztheit eigener Deutungsansprüche gekennzeichnet, und die legt man offen, wenn man sich selbst in die Konkurrenz zu anderen Interpretationen begibt.

(3.) Selgs Deutungshorizont ist ein spiritueller: So spielen karmische Zusammenhänge, Weihestätten und Steiner als maßgebender Initiierter für ihn eine wichtige Rolle. Damit gehen die anthroposophische Binnenperspektive und die kulturwissenschaftliche Außenperspektive diametral auseinander. Es ist natürlich legitim, das biographische Material in diesem anthroposophischen Horizont zu deuten. In der Außenperspektive handelte es sich dann um eine spirituelle Betrachtung, die von meiner Kritik nicht getroffen würde. Aber Selg will ja keine esoterische Ratgeberliteratur verfassen, sondern historische Lebenswege darstellen und „Werkbiographien“ verfassen. Wenn man damit in der Wissenschaft Anerkennung finden will, muss man die Differenz von Innen- und Außenperspektive reflektieren. Bei Selg aber fließen beide Dimensionen ineinander, und die kritische Reflexion auf die Bedingungen seines eigenen Verstehens fehlt. Und so dominieren spirituelle Vorgaben über seine Interpretation, in der die Quellen keine Chance haben, ihr „Vetorecht“ (Reinhard Koselleck) geltend zu machen.

Um diesen zentralen Punkt nochmals deutlich zu machen: Wenn man in der Biographie Marie von Sivers’ einleitend liest, dass sie „die Logos-Kraft der Geistverkündigung Rudolf Steiners in unmittelbarer Weise“ erlebte und „von Anfang an deren christologische Dimension“ realisierte und „mit absoluter Initiative“ Steiners „Vortrags- und Schrifttätigkeit“ unterstützte,7 ist dies eine für Selg typische Determinierung seines Deutungsterrains. Bei ihm sind die Antworten längst festgelegt, die in der Außenperspektive erst zu suchen wären, etwa: Was ist ein „unmittelbares“ Erleben angesichts der auch kulturellen Prägung jeder Erfahrung? Was heißt in Steiners Christologie „von Anfang an“, wo doch Steiner seine Christusvorstellung sukzessiv und nicht vor Ende 1906 formulierte? Und was ist eine „absolute“ Initiative im Blick auf Steiners Tätigkeit? Jedenfalls hat Steiners Frau eigenen Aussagen zufolge unter der bürokratischen Organisationstätigkeit ziemlich gelitten. Bei Selgs spiritueller Deutung bleiben solche historischen Befunde auf der Strecke. Letztlich unterstellt er, eine „geistige“ Perspektive zu besitzen. Wie andere (Anthroposophen), die den gleichen Anspruch erheben, mit diesem Anspruch umgehen, der implizit gegenüber einer „äußeren“ Kritik immunisiert, muss den Historiker nicht interessieren. In meiner Außenperspektive jedoch unterwirft Selg sein Material einer normativen Deutungsvorgabe, die in wichtigen Teilen ebenso viel Projektion wie Erkenntnis ist.

(4.) Damit bleibt er hinter jüngeren Werken von Anthroposophen zurück, die sich grosso modo um eine faktenorientierte oder gar kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte bemühen.8 Nur in einer solchen Akzeptanz geschichtswissenschaftlicher Standards liegt meines Erachtens eine Chance für die anthroposophische Historiographie im Gespräch mit externen Interpretationen.

Ich möchte hier Selgs Engagement in der historiographischen Arbeit und seine Offenheit im Umgang mit den Beständen des Ita Wegman-Archivs nicht in Frage stellen und auch nicht die Legitimität einer spirituellen Deutung bestreiten. Aber jede spirituelle Deutung setzt m. E. die historisch-kritische voraus.


Helmut Zander, Berlin


Besprochene Werke

Peter Selg: Marie Steiner-von Sivers. Aufbau und Zukunft des Werkes von Rudolf Steiner, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, 358 S., 100 Abb. und Faksimiles, 24,– Euro.

Edith Maryon. Rudolf Steiner und die Dornacher Christus-Plastik, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, 257 S., 83 Abb. und Faksimiles, 24,– Euro.

Ita Wegmann und Arlesheim, Natura-Verlag im Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, 97 S., 30 Abb. und Faksimiles, 14,– Euro.

Die letzten drei Jahre. Ita Wegman in Ascona 1940 – 1943, Natura-Verlag im Verlag am Goetheanum, Dornach 2004, 191 S., 34 Abb. und Faksimiles, 17,– Euro


Anmerkungen


1 Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biographischen Portraits, hg. v. B. von Plato, Dornach 2003.

2 Hella Wiesberger: Marie Steiner-von Sivers – ein Leben für die Anthroposophie. Eine biographische Dokumentation in Briefen und Dokumenten, Zeugnissen von Rudolf Steiner, Maria Strauch, Edouard Schuré und anderen, hg. v. H. Wiesberger (11988), Dornach 21989; Gerhard Wehr: Marie Steiner-von Sivers an der Seite Rudolf Steiners. Ein Blick auf die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft, München 21987, 393-408.

3 Grundlegend Rex Raab: Edith Maryon. Bildhauerin und Mitarbeiterin Rudolf Steiners, Dornach 1993, sowie der Briefwechsel zwischen Steiner und Maryon in der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 263/1.

4 S. Helmut Zander: Anthroposophie. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis, Göttingen 2007, Bd. II, 1169f.

5 Emanuel Zeylmans van Emmichoven: Wer war Ita Wegman?, 3 Bde., Heidelberg 1992.

6 Peter Selg: Edith Maryon, 11.

7 Ders.: Marie Steiner-von Sivers, 7.

8 Uwe Werner (unter Mitwirkung von Christoph Lindenberg): Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), München 1999; Robin Schmidt: Glossar. Stichworte zur Geschichte des anthroposophischen Kulturimpulses, in: Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biographischen Portraits, hg. v. B. von Plato, Dornach 2003, 963-1054; Günter Röschert: Kontinuität und Wandel, in: Lorenzo Ravagli / ders.: Kontinuität und Wandel. Zur Geschichte der Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners, Stuttgart 2003; Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers, Briefwechsel und Dokumente 1901-1925. Neu herausgegeben zur hundertjährigen Wiederkehr der Begründung der anthroposophischen Bewegung 1902-2002, hg. v. Hella Wiesberger / Julius Zoll (= Gesamtausgabe, Bd. 262), Dornach 2002 (vgl. die Rezension in MD 9/2003, 355-358); Johannes Kiersch: Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Erste Klasse, Dornach 2005 (vgl. die Rezension in dieser Ausgabe des MD, 351ff); Rudolf Steiner: Die Anthroposophie und ihre Gegner. Vorträge – Schlußworte – Mitteilungen – Richtigstellungen. November 1919 bis September 1922. Dokumentarischer Anhang, hg. v. Alexander Lüscher / Ulla Trapp, (= Gesamtausgabe, Bd. 255b), Dornach 2003 (Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-104).