Sophie Jones

Erlöse mich von dem Bösen. Meine Kindheit im Dienste der Zeugen Jehovas

Eine Hilfspionierin der Zeugen Jehovas, eine rebellische Teenagerin, eine starke Frau: Diese scheinbar widersprüchlichen Merkmale beschreiben Sophie Jones, die 1995 geboren wurde und bis zu ihrem 18. Lebensjahr Mitglied bei Jehovas Zeugen war. Seit 2009 erzählt sie auf YouTube von ihrer Vergangenheit und leistet damit Aufklärungsarbeit. Mittlerweile hat sie einen Bachelor in Bibliothekswissenschaften erworben und ist amtierende „Miss Sachsen“. Nun hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht, in der sie offen und reflektiert von ihrem Leben als Zeugin Jehovas, ihrem Doppelleben in der Teenagerzeit und dem mühsamen Prozess des Ausstiegs, dem Weg vom Königreichssaal in das Show-Business, berichtet.

Sophie Jones erlebte eine schöne Kindheit. Sie verbrachte viel Zeit mit ihren Eltern und bekam durch ihre Großeltern auch Einblicke in die Welt außerhalb der Zeugen Jehovas. An dem Tag, an dem sich ihre Eltern trennten, wurde ihr unbeschwertes Leben massiv gestört. Nun erfuhr sie, was es heißt, wenn der eigene Vater aus der engen religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Die pädagogische Strenge nahm zu, und ihre Erziehung war nun voller Strafen, von Überwachung und den strikten Regeln der Gemeinschaft geprägt. Mit dem Wechsel ins Gymnasium war sie zusätzlich den Demütigungen ihrer Klassenkameraden ausgesetzt. Gedanken der Wertlosigkeit, des Schuldigseins und der Scham nahmen über die Jahre hinweg zu. In dieser emotionalen Sackgasse begann sie, sich selbst zu verletzen, um wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen, und sah den Selbstmord als einzige Erlösung von den Qualen. Als dieser jedoch missglückte, gab sie Jehova die Schuld und wollte Rache an ihm üben. Sie fing an, ein Doppelleben zu führen und alles zu tun, was verboten war. Gleichzeitig hatte sie jedoch durch die Glaubenssätze der Gemeinschaft mit paranoiden Gedanken, Reue und Scham zu kämpfen.

Für ihre Ausbildung zog sie allein nach Leipzig. Da sie trotz aller Zweifel noch nicht bereit war, ihr gesamtes bisheriges Leben aufzugeben, ließ sie die Gemeinschaft nicht hinter sich, sondern versuchte, sich an die neue Versammlung (Gemeinde) anzupassen. Mit der Hoffnung, dass alles besser werden würde, ließ sie sich nun taufen und war damit ein festes Mitglied der Gemeinschaft. Daraufhin musste sie jedoch den Kontakt zu ihrem Vater und später auch zu ihrer besten Freundin abbrechen, da diese ebenfalls ausgestiegen war. Die anfängliche Euphorie und Motivation waren wie weggeblasen, und die ursprünglichen Zweifel nahmen jetzt überhand. Nach langen Überlegungen entschied sie sich für einen Ausstieg. Das bedeutete für sie den Anfang eines neuen Lebens, aber auch den Kontaktabbruch zu ihrer ehemaligen Glaubensfamilie. Sie bereute ihn trotz aller Verluste nicht. Rückblickend beschreibt sie diese Entscheidung mit den Worten: „Ich hatte die Wahl zwischen ewigem Leben & Tod. Ich wählte den angeblichen Tod. Und weißt du was? Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt“ (242).

Durch den etwas reißerischen Titel verdeutlicht Sophie Jones von Beginn an klar ihre Haltung gegenüber Jehovas Zeugen und bringt damit gut die Thematik des Buches auf den Punkt. Direkt auf den ersten Seiten holt sie den Leser in ihre Welt ab: mit einer Alltagssituation, der Konfrontation mit Zeugen Jehovas an der Haustür, die vermutlich jeder zumindest vom Hörensagen kennt.

Sophie Jones gelingt es mit ihrem Buch, den Leserinnen und Lesern tiefe Einblicke in ihr Leben, Fühlen und Denken zu geben. Das Gefühl der Zerrissenheit zwischen zwei Welten wird durch den Wechsel zwischen Erzählungen aus der Gemeinschaft und der Welt außerhalb der Gemeinschaft auf den Leser übertragen. Durch ihre lebensnahen Erzählungen mit einem romanartigen Schreibstil sowie durch ehrliche Einblicke in ihre Gedankenwelt gewinnt die Autorin sicher viele Sympathien bei ihrer Leserschaft. Vom Titel angelockt, beginnt man schon nach einigen Seiten, auf ihren Ausstieg hinzufiebern. Die Gefühle der Beklemmung und Unfreiheit, die Sophie Jones in dieser Zeit erlebte, übertragen sich erstaunlich echt auf den Leser. Gleichzeitig entwickeln sich negative Gefühle in Bezug auf die Glaubensgeschwister und die Mitschüler, da man sich gut in den empfundenen Verrat, die Misshandlungen und die Demütigungen hineinversetzen kann.

Die spannende Geschichte wird durch Einschübe über die Struktur der Religionsgemeinschaft ergänzt. Diese unterbrechen den Erzählfluss etwas, geben jedoch auch wichtige Hintergrundinformationen und machen die Geschehnisse auch ohne religionskundliches Vorwissen besser verstehbar. Die Autorin verzichtet weitgehend auf Fachbegriffe, auch Bibelzitate führt sie nur mit Bedacht an. Wenn sie dies jedoch tut, sind sie gut eingebettet und vermitteln ein besseres Verständnis für die Argumentationsweise der Zeugen Jehovas.

Am Ende entlässt die Autorin den Leser mit einer Reflexion über die Gemeinschaft, ihr Leben und ihre Glaubenssätze. Der offene Schluss kann anregen, über die angesprochenen existenziellen Fragen nachzudenken. Stoff zum Nachdenken und Diskutieren bietet das Buch auf jeden Fall, indem es Themen wie Machtmissbrauch, Manipulation, Unsicherheit, Suizid, Verrat und Ausgeschlossensein anspricht.

Wenn man eine ausführliche theologische Auseinandersetzung mit der Lehre von Jehovas Zeugen, einen detaillierten Tagesplan oder eine ausführliche Beschreibung der Arbeitsbereiche der Mitglieder erwartet, wird man allerdings von dem Buch enttäuscht sein, da diese Themen eher oberflächlich behandelt werden. Die Autorin geht zwar auf einige Aspekte ein, die ihren Ausstieg begünstigt haben, jedoch findet man keine eindeutige Liste ihrer Ausstiegsgründe Auch die langfristigen Folgen ihres Ausstiegs sowie ihr Leben danach werden vernachlässigt.

Das Buch wird ab 16 Jahren empfohlen, und dieser Angabe kann ich mich aufgrund der behandelten existenziellen Themen nur anschließen. Es ist auch für junge Leute sehr ansprechend, da sich diese in einem ähnlichen Alter wie Sophie Jones befinden. Es schildert eindrucksvoll, welche Erfahrungen die Autorin in ihrer Kindheit und Jugendzeit gemacht hat und wie lang der Prozess der Meinungsbildung und des Ausstiegs war.

Paula Siegle, Mainz

Bastei Lübbe, Köln 2021, 253 Seiten, 18,00 Euro.